Nein, der Biontech-Impfstoff enthält kein gefährliches Graphenoxid

Zehntausende User auf Facebook und Telegram haben seit Mitte Juli eine Behauptung geteilt, wonach der mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer giftige Graphenoxid Nanopartikel enthalte. Als Beleg dafür dienen eine Studie aus Spanien und die Aussagen einer vermeintlich ehemaligen Mitarbeiterin von Pfizer. Expertinnen und Experten zweifeln allerdings die Glaubwürdigkeit dieser Studie an. Biontech/Pfizer verwendet nach eigenen Angaben außerdem kein Graphenoxid bei der Herstellung seines Impfstoffs. Forscherinnen und Forscher bestätigten das gegenüber AFP.

Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben seit Mitte Juli ein Video auf Facebook geteilt, in dem eine Dr. Barbara Kahler die Graphenoxid-Behauptung aufstellt (hier, hier, hier). Nach eigenen Angaben ist sie Tierärztin und Generalsekretärin im Bundesvorstand der Kleinpartei "Neue Mitte", die am 9. Juli vom Bundeswahlaussschuss nicht zur Bundestagswahl 2021 zugelassen wurde. Auch auf der Video-Plattform Bitchute und auf Telegram sahen Zehntausende User ihren Clip (hier, hier). In vielen Facebook-Posts mit dem Video wird zudem auf einen Blog-Artikel der Partei "Neue Mitte" zum Thema verwiesen.

"Graphenoxid: Impfmord-Komplott entschlüsselt", heißt es über Kahlers Video. Im Fokus steht darin eine spanische Studie, laut der im Biontech/Pfizer-Impfstoff eine "überdurchschnittlich große Menge" an Graphenoxid enthalten sei. Kahler erklärt in ihrem Beitrag: "Der Biostatistiker und Gesundheitsbiologe Ricardo Delgado Martin hatte eine Probe vom Pfizer/Biontech-Impfstoff an die Universität von Almería geschickt und sie dort unter einem Elektronenmikroskop untersuchen lassen." Dabei seien die Graphenoxid Nanoteilchen aufgefallen.

Bei dem gefundenen Graphenoxid handele es sich um eine giftige Substanz, die zu Entzündungen in Organen und Gewebe führen könne. Auch Fehlgeburten könnten so erklärt werden, behauptet Kahler. Das Graphenoxid sei nicht nur im Biontech/Pfizer-Impfstoff aufgetreten, sondern auch schon bei Grippeimpfungen verwendet worden. In Kontakt mit Wasserstoffatomen könne der Stoff zudem magnetische Eigenschaften entwickeln, behauptet Kahler. Berichte über magnetische Eigenschaften nach der Impfung seien demnach ebenfalls auf das Graphenoxid zurückzuführen. Der Stoff könne bei bestimmten Frequenzen von elektromagnetischen Feldern wie Mobilfunk oxidieren und zu Schäden im Körper führen.

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Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 03.08.2021

Seit die Impfkampagne in Deutschland im vergangenen Jahr gestartet ist, tauchen auf sozialen Medien gehäuft Falschinformationen vor allem über die Wirkstoffe der Impfanbieter neuartiger mRNA-Impfstoffe auf. Mal führen diese angeblich zu einer massiven Steigerung an Fehlgeburten, mal enthaltensie giftige Stoffe (hier, hier), mal sind sie sogar radioaktiv oder verändern die DNA. AFP hat alle diese Falschinformationen widerlegt. Die Behauptungen von Barbara Kahler über Graphenoxid führen diese Reihe fort.

Die spanische Studie

Die von Kahler angeführte Studie wurde bereits am 28. Juni von Dr. Pablo Campra an der Universität von Almería in Südspanien veröffentlicht. Allerdings erschien diese weder in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, noch war sie Teil eines sogenannten Peer-Review-Verfahrens, in dem wissenschaftliche Artikel von anderen Forschenden überprüft werden.

In der Studie untersuchte Campra eine einzelne Dosis des Biontech/Pfizer-Impfstoffs mit Hilfe von optischer Mikroskopie und Transmissionselektronenmikroskopie. Im Anschluss verglich er die Bilder mit Aufzeichnungen aus anderen wissenschaftlichen Studien. Dabei habe er "zuverlässige Beweise für die wahrscheinliche Präsenz von Graphen-Verbindungen" (engl.: "Derivatives") gefunden.

Zur Erklärung: Das genannte Graphenoxid ist tatsächlich ein Folgeprodukt des Stoffes Graphen, welches antibakterielle und antivirale Eigenschaften aufweisen soll. Der Stoff ist enorm stark, ultradünn und hat potenzielle Anwendungsgebiete in einer Reihe von Industriebereichen. Dennoch wird er auch auf seine Toxizität hin untersucht, die Studien zufolge abhängig von der Dosis ansteigen kann. (Zur Giftigkeit gleich mehr.)

Campra gibt in der Studie an, von Ricardo Delgado mit der Arbeit beauftragt worden zu sein. Delgado ist der Gründer der Bewegung La Quinta Columna (Die Fünfte Säule), die bereits irreführende Informationen über das Tragen von Masken und über PCR-Tests verbreitet hat. Anfang Juni hatte die Gruppe dann die Behauptung aufgestellt, in Corona-Impfungen sei Graphen enthalten, welches elektromagnetische Eigenschaften in Menschen hervorruft. Dies hat AFP ebenfalls widerlegt.

Was halten Expertinnen und Experten von der Studie?

Ester Vazquez, Expertin für die Auswirkungen von Graphen auf Gesundheit und Sicherheit, erklärte am 13. Juli gegenüber AFP, die spanische Studie sei wenig eindeutig. Vazquez ist Teil der Forschungsgruppe Graphene Flagship der Europäischen Kommission, die sich zum Auftrag gemacht hat, Graphen aus der Forschung in reale Anwendungsgebiete zu bringen. Laut Vazquez ist die Untersuchung per Mikroskop keine adäquate Methode, um die Präsenz von Graphen oder Graphenoxid nachzuweisen. Die von Campra vorgenommenen Tests seien unzureichend. Vazquez erklärte:

"Sie zeigen nur Mikroskopie-Aufnahmen, die Bildern von Graphen oder Graphenoxid aus der Literatur ähneln. Das ist noch lange kein wissenschaftlicher Beweis. Für einen Graphen-Nachweis würden weitere Analysen mit anderen Methoden benötigt werden."

Auf Anfrage der AFP erklärte Campra am 14. Juli: "Wir haben mikroskopische Beweise für Graphenschichten gefunden." Um diesen Fund zu bestätigen, bedürfe es aber spektroskopischer Beweise.

Campra, der an der Universität von Almería lehrt, erklärte zudem, die Ergebnisse und Schlussfolgerungen seiner Arbeit spiegelten nicht die Position der Hochschule wider.

Am 2. Juli teilte die Universität auf Twitter mit, sich von der Studie zu distanzieren. Diese sei "nicht offiziell" und habe sich einer Methodologie bedient, der es an Transparenz mangelt.

Auch Health Feedback stellte die Methodologie der Studie in einem Faktencheck in Frage. Das Netzwerk aus Wissenschaftlern prüft medizinische Veröffentlichungen und kam zu dem Schluss, dass Campra sich nicht an Verfahren zur Rückverfolgbarkeit gehalten habe. Woher seine Probe stamme sei unklar. Damit sei es unmöglich herauszufinden, ob diese kontaminiert wurde. In einem weiteren Faktencheck kam auch die Nachrichtenagentur Reuters zu dem Ergebnis, dass die Behauptung, es sei Graphenoxid im Impfstoff von Biontech/Pfizer enthalten, falsch ist. (hier).

Weltweite Verbreitung und angebliche Whistleblowerin

Die "Neue Mitte"-Vertreterin Kahler ist dennoch nicht die Einzige, die die Ergebnisse des spanischen Forschers weiter verbreitet. Die rechtspopulistische "Stew Peters Show" machte mehrfach den angeblichen Fund von Graphenoxid im Biontech/Pfizer-Impfstoff zum Thema.

Am 5. Juli erklärte Peters Interviewpartnerin Jane Ruby in der Sendung: Der Impfstoff bestehe zu "99,99 Prozent aus Graphenoxid". Ruby ist nach eigenen Angaben "Gesundheitsökonomin und Politik-Expertin der Neuen Rechten". Sie ist AFP schon in der Vergangenheit mit Falschaussagen in Bezug auf Impfungen aufgefallen.

Auch ein bei AFP für Falschinformationen bekannter Blog hat dieses Interview aufgegriffen (hier), ebenso das kanadische Portal GlobalResearch.ca, das nach Angaben des US-Außenministerium vom August 2020 Verbindungen zu Russlands Desinformations- und Propagandasystem hat.

Nach mehreren Faktenchecks zum Thema sprach Peters in seiner Show dann am 28. Juli erneut über das Thema, diesmal mit einer Karen Kingston, die ebenfalls Belege für das Graphenoxid im Impfstoff gefunden haben will. Auf ihrer Webseite gibt Kingston an, als Vertriebsmitarbeiterin für das Unternehmen tätig gewesen zu sein. Pfizer soll demnach einige Inhaltsstoffe seines Vakzins vom Unternehmen Sinopeg aus China beziehen. Zusätzlich verweist Kingston auf ein Patent des nationalen Zentrums für Ingenieursforschung und Nanotechnologie in Shanghai sowie einen Artikel auf der Unternehmensseite von Sinopeg, die sich mit der Verwendung von Graphenoxid befassen.

Zudem sei der Gebrauch des Stoffes ein Betriebsgeheimnis, weshalb dieser nicht in Listen mit Inhaltsstoffen geführt wird, behauptet Kingston im Interview. Das gleiche gelte für Moderna.

Steckt Graphen in der Biontech/Pfizer-Impfungen?

Gegenüber AFP bestätigte Pfizer mehrfach, dass kein Graphenoxid im Impfstoff enthalten sei. AFP hat am 4. August nach den Aussagen von Kingston bei Pfizer nachgefragt. Sprecherin Dervila Keane antwortete in einer E-Mail: "Ich möchte noch einmal betonen, dass bei der Herstellung des Impfstoffs Covid-19 von Pfizer-BioNTech kein Graphenoxid verwendet wird."

Die von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) gelisteten Inhaltsstoffe der Impfungen bestätigen diese Aussage. AFP hat diese gesichtet. Weder in den Listen für Biontech/Pfizer, noch für Moderna taucht Graphenoxid als Bestandteil des Impfstoffs auf. Auch bei den Impfstoffen von Johnson & Johnson und AstraZeneca findet sich kein Graphenoxid.

Die von Kingston angeführten Verweise auf die chinesische Firma Sinopeg führen außerdem zwar zu einem Artikel zur Synthetisierung von Graphen. Allerdings wird dieser in der Kategorie "Branchennachrichten" geführt und verweist auf eine Studie, die sich mit den Anwendungen des Stoffes zur Energiespeicherung befasst. Von einer Verwendung in Impfstoffen ist dort nicht die Rede.

Auch die auf der Unternehmens-Webseite gelisteten Hilfsstoffe für Corona-Impfstoffe führen kein Graphenoxid auf und werden in gleicher Form auf den Listen der EMA gezeigt. AFP hat Sinopeg am 26. August kontaktiert. Eine Sprecherin teilte in einer E-Mail: "Wir haben noch nie Lipid-Nanopartikel angeboten, die Graphenoxid enthalten."

Das von Kingston angesprochene Patent des nationalen Zentrums für Ingenieursforschung und Nanotechnologie in Shanghai beschreibt zwar in der Tat die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs, der auch Graphenoxid verwendet, das Dokument befasst sich allerdings mit der Anwendung der Impfung in Tierversuchen.

Professor Hong Byung-hee, Experte für Nanomaterialien an der Seoul National University, erklärte AFP außerdem bereits am 19. Juli im Rahmen eines anderen Faktenchecks, dass Graphenoxid durchaus auf seine biomedizinische Anwendbarkeit auch bei Impfstoffen getestet werde. Diese Anwendungen seien aber nach wie vor in einer "experimentellen Phase." Bevor diese auf den Markt kämen, brauche es klinische Versuche und lange Wartezeiten.

Wie gefährlich ist Graphenoxid überhaupt?

Zudem sei es "faktisch unbegründet", dass alle Impfstoffe zu 99 Prozent aus Graphenoxid bestünden. Auch die gesundheitlichen Bedenken kann er nicht teilen. "Im Fall von Graphenoxid gibt es etwas Toxizität aber vergleichsweise wenig." Daher werde viel an dem Material geforscht, um es etwa bei der Medikamentenverabreichung und bei Diagnoseverfahren mittels Sensoren zu verwenden.

Graphenoxid solle weiter auf seine Funktion als möglicher Hilfsstoff bei Vakzinen untersucht werden. Er solle helfen, stärkere Immunantworten hervorzurufen, erklärte Hong Byung-hee?.

Zuletzt wurde Graphenoxid als Hilfsstoff bei der Untersuchung eines Grippeimpfstoffes verwendet, der durch die Nase verabreicht wird. Der vom Institute for Biomedical Sciences an der Georgia State University entwickelte Impfstoff wurde aber ebenfalls nur an Mäusen und Zellkulturen getestet.

Dr. Park Jong-bo, Forscher bei Biographene, einem Unternehmen, das Graphen-basierte Arzneimittel entwickelt, bestätigte am 20. Juli gegenüber AFP, dass "keine Impfstoffe auf dem Markt auf Graphenoxid basieren."

Impfstoffe, die aktuell verwendet werden, bestünden aus Phospholipid-Schichten, Peptiden oder Nukleinsäuren, erklärte Park. Graphenoxid falle in keine dieser Kategorien.

Die von Barabara Kahler angedeuteten magnetischen Eigenschaften, die nach der Impfung entstehen sollen, lassen sich anhand der Inhaltsstoffe auch nicht herleiten. Thomas Hoppe, Impfstoffforscher und Professor für Zell- und Entwicklungsbiologie an der Feinberg School of Medicine der Northwestern University in den USA erklärte AFP im Rahmen eines weiteren Faktenchecks am 1. Juni: "Das ist unmöglich. Es gibt dort nichts, mit dem ein Magnet interagieren kann. Es sind Proteine und Lipide, Salze, Wasser und Chemikalien, die den pH-Wert aufrechterhalten. Das ist im Grunde alles, also ist das nicht möglich."

Fazit: Graphenoxid ist kein Bestandteil von Corona-Impfstoffen. Der Stoff wird zwar auf seinen Nutzen in Arzneimitteln hin überprüft, findet aber aktuell keine Verwendung in zugelassenen Impfstoffen. Das bestätigte auch eine Sprecherin von Pfizer. Die Inhaltsstoffe der in Europa zugelassenen Vakzine sind öffentlich abrufbar und führen kein Graphenoxid. Zudem wird Campras Methodologie bei der Untersuchung der Probe von Experten angezweifelt.

13. September 2021 Rechtschreibfehler ausgebessert.
31. August 2021 Stellungnahme "Sinopeg" hinzugefügt.
11. August 2021 Ortsangabe korrigiert

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