Nein, dieser Artikel belegt keine geplanten IP-Sperren der Bundesregierung für Telegram

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  • Veröffentlicht am 6. August 2021 um 17:16
  • Aktualisiert am 10. August 2021 um 14:02
  • 7 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Hunderte User auf Facebook und mehr als 170.000 auf Telegram haben seit Ende Juli eine Behauptung verbreitet, wonach die Bundesregierung die Sperrung des Messaging-Dienstes Telegram vorbereite. Ein als Beleg verlinkter Nachrichtenartikel gibt diese Behauptung allerdings gar nicht wieder. Das Bundesinnenministerium (BMI) und die verantwortlichen Internet-Provider dementieren ein solches Vorhaben. Der Chaos Computer Club (CCC) wies gegenüber AFP darauf hin, dass solche Sperren einfach umgangen werden könnten.

Hunderte User auf Facebook haben seit dem 27. Juli die Behauptung über geplante IT-Angriffe auf Telegram geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram erreichte sie mehr als 171.000 Nutzerinnen und Nutzer (hier).

In den Postings auf Facebook heißt es: "ANGRIFF AUF TELEGRAM‼️" und weiter: "Der Staat bereitet einen massiven Angriff auf die Plattform Telegram, ein wichtiges Organ des Widerstandes, vor‼️ Er beabsichtigt, den Messenger mittels einer IP Sperre zu blockieren." Dazu wird ein Link zu einem "Heise"-Artikel geteilt, wonach das Bundesamt für Justiz aktuell gegen Telegram vorgehe.

In einem Video, das auf Facebook und Telegram kursiert, heißt es außerdem, dass Telegram dies bereits bemerkt habe und deshalb mehrere Proxies (Anm. d. Red.: Alternative Verbindungswege/Kommunikationsschnittstellen) anbiete, damit User weiterhin auf Telegram aktiv bleiben können. In den Postings wird eine Liste dieser Proxies geteilt, die Telegram-User vermeintlich aktivieren können. Dazu sei laut Video allerdings Eile geboten, denn sei man einmal gesperrt, könne man auch die Proxy-Lösung nicht mehr nutzen.

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Facebook-Screenshot: 03.08.2021

In welchem Kontext steht die Behauptung

Der Messaging-Dienst Telegram ist eine viel genutzte Alternative zu Anbietern wie dem Messenger von Facebook oder Whatsapp. Laut Medienberichten radikalisieren sich unter anderem auf Telegram Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten sowie Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Maßnahmen (hier, hier). Auch Falschinformationen werden dort hunderttausendfach ungeprüft geteilt (hier, hier). Andererseits ist das verschlüsselte und somit schwieriger zu überwachende Telegram in repressiven Ländern auch wichtiges Mittel zur freien Kommunikation. So etwa in Belarus (hier, hier).

Dem Messaging-Dienst wird immer wieder vorgeworfen, kaum etwas gegen Falschinformationen und rechtswidrige Inhalte zu unternehmen (hier, hier). Dennoch wurde Anfang Juni der 100.000 Follower starke Kanal des Verschwörungsmythikers Attila Hildmann gesperrt. Gegen diesen liegt aktuell ein Haftbefehl vor, jedoch hält er sich in der Türkei auf (hier, hier). Wer genau für die Sperrung des Kanals verantwortlich war, ist bisher ungeklärt (hier, hier).

Der geteilte Artikel belegt keine geplanten IP-Sperren durch die Regierung

Eine IP(Internet Protokoll)-Adresse ist eine Zahlenfolge, die es möglich macht, eine Verbindung zwischen Absender (etwa dem eigenen Computer) und einem Netzwerk herzustellen. Dieses Netzwerk stellen in Deutschland unter anderem die großen Internet-Provider Deutsche Telekom, Vodafone, Telefonica (unter anderem O2 und E-Plus) bereit. Die IP-Adresse identifiziert also die unterschiedlichen Endgeräte der User.

Die Facebook-Postings teilen zur Behauptung über geplante Sperren solcher IPs einen "Heise"-Artikel vom 14. Juni als Beleg. In diesem kommen IP-Sperren für Telegram allerdings gar nicht vor. Es geht darin lediglich um zwei Bußgeldverfahren, die das zuständige Bundesamt für Justiz (BFJ) gegen Telegram eingeleitet hat. Auch andere Medien berichteten darüber (hier, hier).

AFP hat beim BFJ am 4. August 2021 nach dem laufenden Verfahren gegen Telegram gefragt. Ein Sprecher antwortete in einer E-Mail: Es existiere ein "Bußgeldverfahren gegen den Anbieter von Telegram wegen des Fehlens eines vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) vorgeschriebenen, leicht erkennbaren und unmittelbar erreichbaren Meldeweges für strafbare Inhalte auf Telegram". Genauso beanstande das BFJ "die Nichtbenennung eines Zustellungsbevollmächtigten in Deutschland". Für IP-Sperren sei das BFJ hingegen gar nicht zuständig.

AFP hat deshalb das zuständige Innenministerium zu den angeblichen Plänen über IT-Sperren befragt. Am 5. August schrieb Sprecher Steve Alter in einer E-Mail an AFP: "Das BMI beabsichtigt nicht, IP-Adressen von Telegram-Nutzern zu sperren. Dem BMI sind auch keine Pläne zur Sperrung von IP-Adressen von Telegram-Nutzern oder Telegram selbst bekannt."

Was würden die IP-Sperren der Telegram-User überhaupt bewirken?

AFP hat den IT-Experten Jochim Selzer vom "Chaos Computer Club" (CCC), in einem Telefonat am 3. August zu den angeblich geplanten IP-Sperren befragt. Er erklärte: "Technisch ist die Sperre möglich." Sowohl User als auch Telegram selbst könnten für die Nutzung gesperrt werden. Das heiße konkret: Bestimmte User, deren IP’s gesperrt würden, könnten Telegram nicht mehr erreichen. Oder andersherum: Telegrams IP könne gesperrt werden, sodass der Dienst in einem bestimmten Provider-Netz für niemanden mehr erreichbar wäre.

Selzer erklärt auch: "Wenn jemand andauernd Hass-Postings absetzt, könnte man die Person sperren, aber wenn die Person aus einem anderen Netz wie etwa aus einem Internetcafé versucht, Telegram aufzurufen, dann gelingt ihr das." Selzer kommt zum Schluss: "Auf Endkundenseiten eine IP-Sperre zu implementieren, halte ich für sinnlos in diesem Zusammenhang."

Das scheint ein Versuch in Russland zu bestätigen. Laut Medienberichten (etwa hier) gab es im April 2018 von der dortigen Regierung den Versuch, mehr als 15 Millionen Telegram-User zu sperren. Der Dienst sei aber auch ohne Gegenmaßnahmen wie etwa bereitgestellte Proxies für viele schnell wieder erreichbar gewesen.

Laut Selzer würde eine Sperre des gesamten Telegram-Dienstes in der Theorie allerdings technisch durchaus funktionieren. (Mehr zu sog. DNS-Sperren hier, hier).

Solche Sperren könnten allerdings nicht von der Regierung alleine umgesetzt werden. Die Internet-Provider müssten sie jeweils für ihre eigenen Netze technisch einrichten. Möglich sei das zumindest in kleinerem Stil: "Die Bundesregierung hat die rechtliche Handhabe, die deutschen Internetprovider in bestimmten Fällen zur Sperrung von IP-Adressen aufzufordern – etwa bei terroristischen oder urheberrechtlich geschützten Inhalten", sagte Selzer.

Sperrungen von rechtswidrigen Inhalten auf sozialen Netzwerken sind rechtlich im Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017 sowie in einer Verordnung der Europäischen Union geregelt. Dabei werden allerdings Inhalte und nicht ganze Seiten gesperrt. Ob auch Telegram als soziales Netzwerk gilt, ist dabei seit Langem umstritten (etwa hier, hier).

Eine Sperrung des Telegram-Dienstes ist in Deutschland laut Selzer aber rechtlich fraglich – auch weil Telegram selbst – anders als etwa der Betreiber einer kinderpornographischen Seite – kein illegaler Dienstleister sei.

Das sagen die Internet-Provider zur Behauptung

Wäre eine solche Sperre geplant, müsste die Sicherheitsbehörden des Bundes den Internet-Provider anordnen, die jeweilige Sperre umzusetzen. AFP hat die größten Provider Deutsche Telekom, Vodafone und Telefonica (unter anderem O2 und E-Plus) zu den angeblich geplanten Telegram-IP-Sperren befragt. Eine solche Absprache zwischen der aktuellen Regierung und den Internet-Providern gibt es nicht.

Katja Hauß ist Telefonica-Sprecherin. Am 3. August schrieb sie in einer E-Mail an AFP: "Uns ist zu diesem Sachverhalt nichts bekannt und wir sperren keine IP-Adressen von Usern. Wir sperren auch Telegram nicht."

Vodafone-Sprecher Volker Petendorf schrieb am 4. August in einer E-Mail an AFP, ihm sei so eine Anweisung oder so ein Plan über IP-Sperren nicht bekannt. Er ergänzte in Bezug auf die Sperrung von Telegram-Usern: "Für einen solchen Eingriff gibt es bei uns in Deutschland überhaupt keine Rechtsgrundlage."

Mit dem Sprecher der Deutschen Telekom, Christian Fischer, hat AFP am 3. August telefoniert. Ihm seien ebenfalls keine Sperren von Telegram in Deutschland bekannt, sagte Fischer. "Ich wüsste nicht, dass so eine Anforderung an uns herangetragen wurde." Fischer erklärte in Bezug auf IP-Sperren für die User: Jeder Neustart des Routers Zuhause würde auch eine neu IP-Adresse für einen User bedeuten. "Das heißt, würden wir die alte IP sperren, um Sie zu bestrafen, würde das überhaupt nichts bringen, weil Sie bereits eine andere IP haben. User zu sperren, macht keinen Sinn."

Nur der bereits erwähnte umgekehrte Fall wäre auch laut Fischer möglich: Sperren würden nur bei einer festen, einer sogenannten Static IP, etwas bringen. Eine solche hat zum Beispiel Telegram selbst.

Auch Sperren der Telegram-Server selbst könnten mit Proxy-Diensten allerdings umgangen werden. Solche werden in den verbreiteten Postings und auf Telegram bereits angeboten. "Man tut damit so, als wäre man in Luxemburg, Bahrain, auf den Cayman Islands oder sonst wo auf der Welt und kein deutscher User. Dann würde der Filter nicht greifen und man könnte Telegram nutzen. In anderen autoritären Ländern werden solche Sperren eingesetzt, aber es ist möglich, das zu umgehen", erklärte Fischer.

Keine Pläne, aber eine Diskussion und rechtliche Möglichkeiten

Telekom-Sprecher Fischer berichtet auch: Kriminelle Inhalte und der Umgang mit diesen seien durchaus auch in Zusammenhang mit Telegram immer wieder Thema in Arbeitsgruppen mit den Behörden. Dabei würden auch Sperrungen als theoretische Möglichkeit diskutiert, auch wenn es keine konkrete Forderungen oder Pläne dafür geben würde.

Laut Informationen des Spiegels scheint es beim Bundesinnenministerium durchaus Überlegungen zu geben, Sperren gegen Telegram umzusetzen, sollten die Plattformbetreiber nicht damit beginnen, sich an deutsches Recht zu halten. Im Artikel wird dazu ein anonymer leitender Beamter zitiert.

Wie ein BMI- Sprecher auf AFP-Anfrage mitteilte, werden Behörden in Zukunft mehr Möglichkeiten erhalten, Inhalte in sozialen Medien zu sperren. "Die neue EU Verordnung zur Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte ermöglicht zukünftig die grenzüberschreitende Anordnung einer EU-weiten Löschung oder Sperrung terroristischer Inhalte gegenüber einem Provider, der in der EU seine Dienste anbietet, unabhängig von seinem Sitz. Die Verordnung ist bereits in Kraft, aber erst ab dem 7. Juni 2022 anwendbar und gilt nur für einzelne Inhalte", schrieb der BMI-Sprecher.

AFP hat sich schließlich noch die Liste der angebotenen Proxies angeschaut. Dabei handelt es sich um einen Telegram-Kanal mit rund 730.000 Followern, der bereits seit dem 5. Juni 2019 Proxyverbindungen zu Telegram postet. Ob der persischsprachige Kanal von Telegram selbst betrieben wird, hat AFP nicht sicher feststellen können. Auf eine AFP-Anfrage hat Telegram bis zur Veröffentlichung nicht reagiert.

Fazit

Es gibt keine Belege für die Behauptung, die Bundesregierung bereite die Sperrung von Telegram über IPs vor. Zwar gibt es seit Jahren Diskussionen darüber, ob Sperren ein nützliches Mittel für den Umgang mit strafbaren Inhalten im Internet darstellen. Die Bundesregierung, die Hackervereinigung Chaos Computer Club und große Internetprovider widersprechen allerdings der Behauptung, es gebe aktuelle Pläne. Laut IT-Experten sind IP-Sperren ohnehin leicht überwindbar und damit nicht nützlich.

10. August 2021 Rechtschreibfehler korrigiert.

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