
Nachrichtenbericht zu angeblichen Enthüllungen über Veruntreuung durch Selenskyj ist gefälscht
- Veröffentlicht am 16. September 2025 um 14:30
- 8 Minuten Lesezeit
- Von: Eduard STARKBAUER, AFP Slowakei
- Übersetzung und Adaptierung: Johanna LEHN , AFP Deutschland
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"Eine ehemalige Ermittlerin des ukrainischen nationalen Antikorruptionsbüros ist nach Europa übergelaufen", ist in einem Video zu lesen, das am 10. September 2025 auf X geteilt wurde. "Langjährige Verbündete" hätten Briefkastenfirmen genutzt, "um im Namen des Präsidenten und seiner Familie mehr als 100 Luxusimmobilien im Ausland zu erwerben". Der Wert liege bei mehr als 1,2 Milliarden US-Dollar, heißt es weiter in dem fast zweiminütigen Video, in dem Symbolbilder, Karten der Ukraine und Zitate der angeblichen Mitarbeiterin eingeblendet werden. Das Video wurde auch in einer etwas längeren, zwei Minuten und 20 Sekunden umfassenden Version geteilt.
Die Behauptung wurde auch auf Facebook, Tiktok und Telegram verbreitet sowie seit Ende August 2025 auf verschiedenen Sprachen wie Englisch, Französisch, Italienisch, Kroatisch, Rumänisch, Serbisch, Slowakisch, Spanisch und Tschechisch.

Mithilfe einer umgekehrten Bildsuche von Screenshots des Videos fand AFP den englischsprachigen Artikel, auf dem das Video beruht. Er wurde am 26. August 2025 auf einer Website namens London Telegraph veröffentlicht und weist auf ein angebliches Netzwerk von Immobilien hin, die dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gehören sollen. Das Netzwerk sei angeblich von einer ehemaligen Ermittlerin des ukrainischen Nationalen Anti-Korruptionsbüros (Nabu) namens "Olena K." aufgedeckt worden.
Dem Artikel zufolge soll Olena K. eine Arbeitsgruppe geleitet haben, die Geldtransfers an ein Netzwerk von Briefkastenfirmen überwacht habe, die später zum Kauf von Dutzenden von Luxusimmobilien für den ukrainischen Präsidenten und seinen engen Kreis genutzt worden seien. Dieses Netzwerk sei angeblich von Selenskyjs Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geleitet worden, die als Sergej Shefir, Timur Mindich und Switlana Pishchanska im Video benannt werden.
Die im Artikel und im Video erwähnten Kaufverträge und Banküberweisungen sollen den Erwerb von 26 Immobilien in Spanien, 14 im Vereinigten Königreich, 21 in Frankreich, 34 Wohnungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und acht Immobilien in Italien belegen. Konkrete Details zu den Immobilien wurden nicht angegeben, sodass sie im Einzelnen nicht überprüft werden konnten.
Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine machte am 27. August 2025 auf X darauf aufmerksam, dass der Bericht gefälscht ist.
Die Falschbehauptung begann sich zu verbreiten, als das ukrainische Parlament ein umstrittenes Gesetz verabschiedete, das die Unabhängigkeit zweier wichtiger Anti-Korruptionsbehörden (darunter Nabu) einschränken und sie dem Generalstaatsanwalt unterstellen sollte. Selenskyj unterzeichnete das Gesetz, machte dies nach massiven Protesten und Druck seitens der Zivilgesellschaft und internationaler Partner jedoch rückgängig und stellte die Unabhängigkeit der Behörden durch eine Änderung des Gesetzes wieder her.
Identität von britischer Journalistin gestohlen
Keiner der online geteilten Beiträge enthält Beweise oder zitiert konkrete Dokumente zu den angeblichen Immobilienkäufen. Es werden keine Informationen wie eine Liste der unterzeichneten Verträge, beim Grundbuchamt oder anderen Behörden eingereichte Dokumente oder konkrete Adressen von Immobilien geliefert. Alle Behauptungen basieren auf Aussagen, die der "ehemaligen Nabu-Ermittlerin Olena K." zugeschrieben werden.
Keine anderen Medien haben über eine Entdeckung dieser Größenordnung berichtet, auch erweiterte Stichwortsuchen lieferten keine Ergebnisse.
Die Domain der Website, londontelegraph.uk, auf der der Artikel veröffentlicht wurde, gehört zu keinem bekannten Medienunternehmen. Sie wurde laut einer Analyse am 14. August 2025, also weniger als zwei Wochen vor der Veröffentlichung des Artikels mit dem Video, erstellt. Seit dem 27. August 2025 sind auf der Website keine neuen Artikel erschienen.
Die Links zu Facebook-, Instagram- und X-Accounts auf der Website verweisen nicht auf Profile des Medienunternehmens, sondern auf Profile von Designanbietern auf Wordpress, einem Dienst zum Erstellen von Websites. Der Name der Website, die Domain und die ähnliche Schriftart des Logos, die im Video zu sehen sind, erinnern an das britische Medium The Daily Telegraph.

Im Profil der mutmaßlichen Autorin namens Charlotte Davies auf der Website London Telegraph ist ein Foto einer Frau zu sehen. Eine umgekehrte Bildsuche ergab, dass es sich dabei jedoch um die britische freiberufliche Journalistin Helen Brown handelt, die das Foto auf ihrem X-Account verwendet.
Brown schreibt für die Medien The Independent, BBC, Sky News und The Daily Telegraph. Sie bestätigte auf AFP-Anfrage am 10. September 2025, dass sie nicht die Autorin des fraglichen Artikels sei. "Während meiner gesamten Karriere – hauptsächlich im Kunstjournalismus – habe ich mich ehrlicher, durchdachter Berichterstattung verschrieben", erklärte sie.
"Daher bin ich entsetzt, dass mein Autorinnenprofil von Unbekannten missbraucht und mit einem falschen Namen und einer gefälschten Publikation verlinkt wurde." Sie habe "nie über Selenskyj oder seine finanziellen Angelegenheiten berichtet", führte sie aus und appellierte: "Leserinnen und Leser sollten wachsam sein, wenn sie solche Beiträge in sozialen Medien lesen."

AFP fragte das ukrainische Nabu nach einer angeblichen ehemaligen Mitarbeiterin namens "Olena K.". Das Büro erklärte am 10. September 2025, dass die im Video und im Artikel erwähnte "Abteilung für organisatorische, analytische und strategische Entwicklung" zwar innerhalb der Organisationsstruktur der Behörde existiert, die angebliche Mitarbeiterin jedoch nicht dort arbeitet und auch nie dort gearbeitet hat. Der Sprecher bestätigte außerdem, dass dem Nabu keine ähnlichen Erkenntnisse, durchgesickerten Kaufverträge oder Banküberweisungen im Zusammenhang mit den im Video und im Artikel genannten Personen bekannt sind.
Ton wurde KI-generiert
Im Video sind Stimmen zu hören, die roboterhaft klingen. Eine technische Analyse der englischsprachigen Audiospur mit dem Tool deepfake-total.com des Fraunhofer-Instituts für Angewandte und Integrierte Sicherheit ergab, dass sowohl die männliche als auch die weibliche Stimme Deepfakes sind, also mit künstlicher Intelligenz generiert wurden.

Eine weitere Analyse der Audiospur mit dem Hiya Deepfake-Stimmdetektor im Verifizierungstool InVid-WeVerify ergab ebenfalls mit einer Erkennungsrate von bis zu 99 Prozent, dass die Stimmen mit KI erzeugt wurden.

Das Video auf der Website London Telegraph verwendet einen generischen Fernsehnachrichtenhintergrund, der auf mehreren Plattformen lizenzfrei verfügbar ist und zu keinem bestimmten Medienunternehmen gehört.
Eine umgekehrte Bildsuche zeigte außerdem, dass die angeblichen Dokumente im Video, die einen massiven Betrug beweisen sollen, einen völlig anderen Fall abbilden.

AFP fand dasselbe Foto der Dokumente in einem Artikel über die Ermittlungen wegen Hochverrats zugunsten Russlands gegen den prorussischen ukrainischen Abgeordneten Fedor Christenko. Die echten Dokumente wurden auf der Website der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht, haben jedoch nichts mit dem Präsidenten oder anderen im Video und im Artikel erwähnten Personen zu tun. Die Details in den Dokumenten wurden dort absichtlich unkenntlich gemacht, um sie unlesbar zu machen.
Das Foto der angeblichen Whistleblowerin "Olena K." ist im Video zu unscharf, sodass seine Herkunft nicht festgestellt werden konnte.
Desinformation dieser Art begleitet Ukrainekrieg
Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj Ziel von Desinformation und falschen Anschuldigungen wird, westliche Finanzhilfen für die Ukraine zu seinem eigenen Vorteil missbraucht zu haben. Des Öfteren wurden bereits Namen und Logos anderer Medien verwendet oder vermeintliche Nachrichtenwebsites erstellt, um die ukrainische Regierung durch Falschinformationen zu diskreditieren und letztlich die Unterstützung für Kiew zu untergraben. Beispiele hierfür sind angebliche Käufe von Aktien an südafrikanischen Minen, einer Wohnung im Burj Khalifa in Dubai, eines Alpenhotels oder auch des Kehlsteinhauses, einem Repräsentationsort der NS-Zeit.
Einige der verbreiteten Falschinformationen stammten von der russischen Desinformationskampagne "Storm-1516", die Stimmung gegen die Ukraine und gegen die Europäische Union machen will.
Im Jahr 2021 – vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – wurde Selenskyj tatsächlich in den sogenannten Pandora Papers aufgelistet, einer umfangreichen Untersuchung des International Consortium of Investigative Journalists, in der versteckte Vermögenswerte in Offshore-Unternehmen von hunderten Personen aufgedeckt wurden. Demnach habe Selenskyj seit dem Jahr 2012 Offshore-Unternehmen in Belize registriert, die angeblich zum Kauf von drei Luxusimmobilien in London genutzt worden seien.
Weitere Faktenchecks zum Ukrainekrieg sammelt AFP auf der Website.
Fazit: Ein Videobericht über angebliche Immobilienkäufe des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Personen aus seinem Umfeld ist gefälscht. Er wurde auf einer Website veröffentlicht, die erst wenige Tage vor der Publikation erstellt wurde. Außerdem wurden die Stimmen im Video KI-generiert und keine Belege für die aufgestellten Behauptungen geliefert. Das Foto der angeblichen Autorin zeigt in Wirklichkeit eine andere, freiberufliche britische Journalistin. Sie dementierte, die Autorin des Berichts zu sein.