
Nein, Cholesterinsenker fördern nicht das Alzheimer-Risiko
- Veröffentlicht am 17. September 2025 um 16:54
- 9 Minuten Lesezeit
- Von: Elena CRISAN, Anna HOLLINGSWORTH, AFP Österreich, AFP Finnland
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Hunderte Userinnen und User sprachen von der "großen Alzheimer Lüge" in sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Telegram, Tiktok sowie X. Im September 2025 teilte ein User ein Video, das im Netz seit über einem Jahrzehnt wiederholt die Runde macht. Auch auf Englisch, Finnisch sowie Französisch kursierte bereits die Falschmeldung, wonach Alzheimer eine "durch den Arzt verursachte Krankheit" sei, die durch Cholesterinsenker entstünde.
Die Beiträge beziehen sich auf einen Vortrag eines US-amerikanischen selbsternannten Ernährungsspezialisten und "Naturopathen" namens Joel Wallach, der einen Online-Versandhandel von Nahrungsergänzungsmittel gegründet hat.
Es ist nicht sofort ersichtlich, auf welcher Veranstaltung Wallach im Video sprach, oder wann und wo sie stattgefunden hat. AFP fand eine ungekürzte Version des Vortrags, das laut einem Youtube-Upload (hier archiviert) im Jahr 2011 stattfand. Ab Stunde 2:23 startet die Sequenz, die auch im Clip in sozialen Medien zu sehen ist. Wallach stellte darin eine Reihe von Falschbehauptungen über Alzheimer auf, die Fachleute und Forschende für AFP widerlegen konnten.
"Die Alzheimer-Krankheit ist eine durch den Arzt verursachte Krankheit", behauptete er auf Englisch. "Vor 40 Jahren" sei sie noch "nicht aufgetreten, auch nicht unter einem anderen Namen". Heute sei sie "die vierthäufigste Todesursache bei Erwachsenen über 65 Jahren in den Vereinigten Staaten". Alzheimer sei, so behauptete Wallach, "ein Verschwinden des Myelins, des Isolationsmaterials im Gehirn, welches 75 Prozent Ihres Gehirngewichts ausmacht und zu 100 Prozent aus Cholesterin" bestehe. Er warnte zudem vor cholesterinarmen Diäten beziehungsweise Cholesterinsenkern: "Sie geben Ihnen cholesterinsenkende Medikamente, dann können Sie sich nicht mehr daran erinnern, wer Sie sind, weil Sie an Alzheimer leiden."
Die Website Science Feedback, die wissenschaftliche Behauptungen überprüft, widerlegte bereits andere Behauptungen von Wallach.

Laut von AFP kontaktierten Fachleuten erhöhe vielmehr ein hoher und nicht ein niedriger Cholesterinspiegel das Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Sie erklärten ebenfalls, dass Statine, also die am häufigsten verwendeten cholesterinsenkenden Medikamente, das Krankheitsrisiko bei Menschen mit hohem Cholesterinspiegel dämpfen würden.
Alzheimer ist keine neue oder "vom Arzt verursachte" Krankheit
Alzheimer ist eine fortschreitende, degenerative Erkrankung des Gehirns und die häufigste Form der Demenz. Die Erkrankung führt zur weitreichenden Schwächung der geistigen Fähigkeiten, wie etwa des Gedächtnisses. Bei Menschen unter 65 Jahren tritt sie selten auf. Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung steigt die Zahl der Betroffenen. Ende des Jahres 2023 lebten in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz.
In dem Video, das in sozialen Medien verbreitet wird, hieß es, dass "die Krankheit in den USA die vierthäufigste Todesursache für Menschen über 65" sei. Tatsächlich ist Alzheimer unter älteren Menschen weit verbreitet. Laut der Alzheimer’s Association, einer gemeinnützigen Organisation in den USA, hatte Stand 2025 etwa jede neunte Person ab einem Alter von 65 Jahren in den USA Alzheimer-Demenz. Das sind oder 7,2 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner in dieser Altersgruppe.
Alzheimer ist kein Phänomen der vergangenen vier Jahrzehnte, anders als in Online-Beiträgen behauptet. Wie die Website der gemeinnützigen Organisation Alzheimer's Disease International dokumentierte, wurde die Krankheit erstmals 1906 vom deutschen Forscher und Pathologen Alois Alzheimer beschrieben. 1910 wurde sie im Handbuch der Psychiatrie nach ihm benannt.
Die Ursachen von Alzheimer sind nicht vollständig geklärt. Bei der Krankheit wird eine Ablagerung im Gehirn festgestellt, die laut Raphael Wurm "bis heute" die Erkrankung definiere. Wurm ist an der Medizinischen Universität Wien in der Abteilung für Kardiologie beschäftigt und forscht zum Thema Demenz. Er antwortete am 16. September 2025 per E-Mail auf eine AFP-Anfrage.
Bei Alzheimer, erklärte Wurm, würde sich ein klebriges "falsch gefaltetes Eiweiß (Amyloid-Beta)" ablagern. Daraufhin entstünden Plaques zwischen den Zellen. "Zumindest teilweise" würden diese dann dazu führen, dass ein anderes Eiweiß, das sogenannte Tau, sich in den Nervenzellen ablagert und zu deren Absterben führt. Das Tau-Protein sei "eigentlich dafür zuständig, dass Nervenzellen (und andere Zellen) ihre richtige Form behalten". Diese Prozesse führen zu Gedächtnisstörungen und einer beeinträchtigten Informationsverarbeitung.
Cholesterin im Blut hat laut Fachleuten nichts mit Myelin im Hirn zu tun
Die wissenschaftliche Leiterin der Alzheimer Forschung Initiative Anne Pfitzer-Bilsing sagte gegenüber AFP am 15. September 2025 ebenfalls, dass die Aussagen von Joel Wallach falsch seien: "Die Alzheimer-Krankheit ist zum einen nicht über den Abbau von Myelin definiert, sondern über extrazelluläre Ablagerungen des Proteins Amyloid-Beta und intrazelluläre Ablagerungen des Proteins Tau."
Beim Menschen bestehen etwa 40 Prozent des Gehirns aus einer weißen Substanz, die wiederum aus dicht gepackten Fasern besteht, deren Hauptbestandteil (bis zu 60 Prozent) Myelin ist.
Myelin bestehe laut Ausführungen Raphael Wurms "aus vielen Bestandteilen" und mindestens aus 20 bis 30 Prozent aus Proteinen, "im lebenden Menschen zu einem großen Teil auch noch aus Wasser". Von den fettigen Bestandteilen mache Cholesterin "einen großen Teil" aus.
Wallachs Behauptung, Myelin bestehe "zu 100 Prozent aus Cholesterin", ist auch laut Pfitzer-Bilsing nicht zutreffend.
Einerseits sei Cholesterin dem Experten Wurm nach "nur einer von vielen Bestandteilen des Myelins, andererseits wird das im Gehirn benötigte Fett (nicht nur Cholesterin, auch andere Fettstoffe) direkt im Gehirn hergestellt". Über die Nahrung aufgenommene Fette könnten "aufgrund der dichten Blut-Hirn-Schranke (eine Art Schutzwall des Gehirns gegenüber dem restliche Körper) kaum ins Gehirn gelangen". Der Cholesterinspiegel im Blut habe demnach "nichts mit dem Myelin im Hirn zu tun".
Eric Brandt forscht und lehrt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und innerer Medizin an der University of Michigan in den USA. "Die Cholesterinregulation im Hirngewebe unterscheidet sich stark vom systemischen Cholesterinmanagement", schrieb Brandt am 15. September 2025 an AFP. Außerdem merkte er zu Statinen, also dem am häufigsten eingesetzten Wirkstoff zur Senkung des Cholesterinspiegels, an: "Ich denke nicht, dass wir die Überwachung der Langzeitergebnisse einstellen sollten, aber die aktuelle Literatur stützt keine Schädlichkeit von Statinen in Bezug auf die Gesundheit des Gehirns."
Cholesterinsenker können präventiv wirken
Anne Pfitzer-Bilsing widersprach Wallachs vielfach geteilten Warnungen: "Cholesterinsenker erhöhen nicht das Risiko auf die Alzheimer-Krankheit – vielmehr senken sie das Risiko."
Auch Wurm bestätigte, dass der Zusammenhang tatsächlich umgekehrt sei, als auf sozialen Plattformen behauptet: "Im Gegenteil legen viele Beobachtungsstudien nahe, dass Cholesterinsenker (allen voran Statine) einen positiven Effekt haben könnten, jedenfalls aber sicherlich keinen negativen."
Bei der Alzheimer-Krankheit werden Veränderungen des Myelins beobachtet, aber es komme nicht zu einem "Verschwinden des Myelins", präzisierte Justin Long, Neurologe an der Medizinischen Universität in Washington, in einer E-Mail an AFP am 11. September 2025. Es gebe zudem "keine Hinweise darauf, dass dies durch die Einnahme cholesterinsenkender Medikamente verursacht" werde. Tatsächlich bestehe "der stärkste Zusammenhang mit kognitiven Veränderungen bei der Alzheimer-Krankheit mit dem Fortschreiten der Tau-Pathologie und nicht mit Veränderungen des Myelins", wie auch andere Forschende gegenüber AFP bestätigten.
Ergebnisse einer im Juli 2025 veröffentlichten US-amerikanischen Studie, auf die Long verwies, deuten darauf hin, dass etwa eine cholesterinarme Diät "bei älteren Erwachsenen mit Demenzrisiko über einen Zeitraum von zwei Jahren mit einer Verbesserung der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten einherging".
Die Lancet Commission, die vorhandene Erkenntnisse überprüft und Empfehlungen zur Prävention und Behandlung von Demenz abgibt, kam im Jahr 2024 ebenfalls zum Schluss, dass ein hoher Cholesterinspiegel ein Risikofaktor für Demenz darstellt. In dem Bericht heißt es: "Es gibt hochwertige, konsistente und biologisch plausible Belege dafür, dass ein hoher LDL-Cholesterinspiegel in der Lebensmitte ein Risikofaktor für Demenz ist." LDL steht für Lipoproteine niedriger Dichte, also dem "schlechten Cholesterin". Empfohlen wird deshalb, "hohe LDL-Cholesterinwerte bereits in der Lebensmitte zu erkennen und zu behandeln". Mehrere Fachleute bestätigten auf AFP-Nachfrage, dass diese Publikation dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspricht.
Weitere Risikofaktoren für Demenz sind Rauchen, starker Alkoholkonsum, Fettleibigkeit und Übergewicht sowie geringe geistige und körperliche Aktivität.
Naaheed Mukadam von der Abteilung für Psychiatrie am University College London und eine der Autorinnen und Autoren des Lancet-Reports, teilte AFP für eine frühere Recherche am 7. August 2024 per E-Mail mit, dass das Forschungsteam keine Hinweise darauf gefunden hätte, dass eine cholesterinarme Ernährung das Demenzrisiko erhöhe.
Auch Raphael Wurm sagte, dass "die Senkung von Cholesterin und eine gesunde Ernährung eine der größten Erfolgsgeschichten der präventiven Medizin der letzten 50 Jahre" gewesen seien. Dadurch seien "unzählige Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindert" worden. Die Schlussfolgerung des Fachmanns: "Dadurch sinkt sekundär auch das Risiko für Demenzerkrankungen."
Myelin spielt vielmehr bei Multipler Sklerose "wichtige Rolle"
Wurm von der MedUni Wien negierte die Aussage, dass Alzheimer durch das Absterben von Myelin, einer "Art Isolationsschicht rund um die Verbindungen zwischen den Nervenzellen ('Axone')", entstehe. Die Substanz spiele viel eher "bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose eine wichtige Rolle". Dabei werde "das Myelin durch Entzündungsprozesse angegriffen" und würde dabei absterben, was "in weiterer Folge zu Kommunikationsproblemen zwischen vielen Bereichen des Nervensystems" führe.
Dem stimmte Anne Pfitzer-Bilsing zu: "Die Krankheit Multiple Sklerose ist durch einen Abbau der Myelinschicht gekennzeichnet."
Gleichzeitig mit der Einführung des Wirkstoffs Lecanemab unter dem Handelsnamen Leqembi in Österreich und Deutschland nahmen falsche Behauptungen über Demenz und Alzheimer zu. AFP veröffentlichte bereits mehrere Faktenchecks zum Thema.
Fazit: Behauptungen auf sozialen Plattformen, wonach cholesterinsenkende Diäten und Medikamente zu einer Zunahme von Alzheimer-Erkrankungen geführt hätten, sind falsch. Medizinerinnen und Mediziner teilten AFP mit, dass kein Zusammenhang zwischen einer cholesterinarmen Ernährung und Demenz nachweisbar sei. Statine, die am häufigsten eingesetzten Cholesterinsenker, reduzieren zudem das Demenzrisiko bei Menschen mit hohem Cholesterinspiegel.