Blick auf die UN-Generalversammlung am 12. Oktober 2022 in New York. ( AFP / ED JONES)

Nein, die russische Invasion der Ukraine ist nicht durch die UN-Charta gedeckt

Die russische Invasion in der Ukraine wurde bereits mehrfach von UN-Generalsekretär Antonio Guterres verurteilt. Im Netz verbreitete sich jedoch die Behauptung, der russische Angriff sei durch die Artikel 106 und 107 der Charta der Vereinten Nationen gerechtfertigt. Expertinnen und Experten für internationale Beziehungen und die Vereinten Nationen dementierten dies jedoch gegenüber AFP. Die beiden Artikel stammen noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Hunderte User haben die Behauptungen zur UN-Charta auf Facebook geteilt. Auf Telegram sahen sie Hunderttausende. Die Behauptung zur UN-Charta kursierte schon mindestens seit dem 29. September 2022 im russischen Netzwerk VKontakte. Auch in russischen Medien tauchte die Behauptung auf.

Die Behauptung: Angeblich gehe aus den Artikeln 106 und 107 der UN-Charta hervor, dass Russland als "rechtmäßiger Erbe des Siegers im zweiten Weltkrieg" das Recht habe, auch militärisch gegen den Versuch vorzugehen, den Nationalsozialismus wieder aufleben zu lassen. So könne das Land unter anderem militärisch in Deutschland, Ungarn, Österreich, Rumänien, Bulgarien, Finnland, Kroatien, Slowenien, Tschechien, Lettland, Estland, Litauen oder der Ukraine eingreifen. Damit sei die sogenannte "russische Spezialoperation in der Ukraine" ebenfalls rechtens. Russland habe das Recht, "Nazis überall zu bestrafen".

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Facebook-Screenshot der Behauptung: 18.10.2022

Wiederkehrende Erzählung

Seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 verbreiten sich immer wieder Falschbehauptungen zu angeblich in der Ukraine verbreiteter Nazi-Ideologie (hier, hier). AFP überprüfte in der Vergangenheit etwa dieses falsche Foto des Kiewer Polizeichefs oder eine Aufnahme eines vermeintlichen ukrainischen Kriegsgefangenen mit Hakenkreuz-Tattoo. Auch die völkerrechtliche Souveränität der Ukraine hatten User zuvor angezweifelt. Faktenchecks zum Krieg in der Ukraine sammelt AFP hier.

Die nun verbreiteten Behauptungen spiegeln inhaltlich die Haltung des Kreml wider, demzufolge die militärische Intervention Russlands auf die "Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine" abziele. Diese Behauptung wurde bereits von mehreren Expertinnen und Experten, die im März 2022 von AFP befragt wurden, widerlegt. Diese waren der Ansicht, dass ultra-nationalistische Bewegungen zwar im Land sowie insbesondere in der Armee aktiv seien, dass sie aber auf politischer Ebene "in der Minderheit" und marginalisiert blieben.

Die Artikel 106 und 107 stammen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs

Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco von rund 50 Staaten unterzeichnet und ist online abrufbar. Sie sollte laut UN "eine internationale Organisation zur Beendigung des Krieges und zur Wahrung des Friedens schaffen". Die Ratifizierung der Charta – und damit die Gründung der Vereinten Nationen – erfolgte erst einige Monate später, am 24. Oktober 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Aus diesem Grund enthält die Charta, die nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945, aber vor der japanischen Kapitulation im September 1945 erstellt wurde, zwei "Übergangsbestimmungen zur Sicherheit", die Artikel 106 und 107.

Artikel 106 regelt eine Übergangslösung bis zum Inkrafttreten eines in Artikel 43 genannten Sonderabkommens, in welchem sich die Parteien der am 30. Oktober 1943 in Moskau unterzeichneten Viermächte-Erklärung und Frankreich verabredeten, erforderliche Maßnahmen "zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" im Namen der Organisation zu treffen.

In Artikel 107 heißt es: "Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war, werden durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt." Der Artikel erlaubte es, gegen Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs die Charta nicht unterzeichneten, in Fortsetzung des Krieges Maßnahmen zu ergreifen.

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US-Präsident Harry Truman bei seiner Abschlussrede zum Ende der Konferenz der Vereinten Nationen für die internationale Organisation am 26. Juni 1945 in San Francisco (AFP)

Wie Guillaume Devin, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Sciences Po in Paris und Mitglied einer Forschungsgruppe zu multilateralen Aktivitäten namens Gram, gegenüber AFP am 11. Oktober 2022 erklärte, würden die in den beiden Artikeln beschriebenen Maßnahmen als "Fortsetzung des Krieges" verstanden, was die besonderen Umstände verdeutlicht, die bei der Interpretation des Textes beachtet werden müssen.

"Man muss also schon einen besonders verdrehten Geist haben, um die russische Aggression von 2022 als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs zu bewerten", betonte Devin. Es handele sich um eine "völlig fantasievolle Interpretation".

Mathias Forteau, Professor für öffentliches Recht an der Universität Paris Nanterre und für die Amtszeit von 2023 bis 2027 in die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen gewählt, bestätigte ebenfalls am 11. Oktober 2022, dass "diese Auslegung der Artikel 106 und 107 der Charta Unsinn ist".

"Kein einigermaßen ehrlicher und seriöser Jurist würde eine solche Auslegung unterstützen, angefangen damit, dass Artikel 107 auf Aktionen abzielt, die 'als Folge dieses Krieges' durchgeführt werden, indem er sich auf den Zweiten Weltkrieg bezieht", erklärte Forteau. Der aktuelle Krieg stehe natürlich in keiner Weise damit in Verbindung.

Alexandra Novosseloff, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Politikwissenschaft am Thukydides-Zentrum der Universität Paris-Panthéon-Assas und Expertin für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, erläuterte dazu am 12. Oktober 2022 gegenüber AFP: "Diese Artikel sprechen von einer Vereinbarung zwischen Großmächten, die es im aktuellen Fall nicht gibt."

"Die Artikel betreffen eine Situation, die nicht mehr existiert", betonte Novosseloff. Gemeint sei die Zeit zwischen dem Inkrafttreten der Charta und der Einführung von Bestimmungen zum Zusammenlegen von Streitkräften, wie in Artikel 43 ausgeführt.

Die in den Artikeln genannten Abkommen seien zwar nie unterzeichnet worden, räumte Novosseloff ein, sich heute auf die Artikel 106 und 107 zu berufen, sei aber ein wenig weit hergeholt.

Weitere Abkommen zu Streitkräften kam nicht zustande

Wie Catherine Le Bris, Forscherin am Centre national de la recherche scientifique CNRS und Expertin für internationales Recht, am 11. Oktober 2022 erklärte, "spricht Artikel 43 der Charta von Übergangsbestimmungen, die durch künftige Abkommen hätten präzisiert werden sollen, die aber nicht zustande kamen und die eine Art internationale Polizei einrichten sollten".

Die Idee dieser Übergangsbestimmungen sei es gewesen, die Zeit bis zur Einrichtung des Sicherheitsrats zu überbrücken, aber letztlich habe sich die Praxis des UN-Sicherheitsrats anders entwickelt.

Wie die Ständige Vertretung Frankreichs bei den Vereinten Nationen auf ihrer Website ausführlich erläutert, kann der Sicherheitsrat, "Resolutionen verabschieden, die Verpflichtungen oder Sanktionen gegen mehrere Staaten verhängen", falls "eine Situation den Frieden ernsthaft gefährdet". Der Rat besteht heute aus 15 Mitgliedern, darunter fünf ständige Mitgliedstaaten mit Vetorecht: China, die USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Russland. Deutschland war zuletzt von 2019 bis 2020 Mitglied des Sicherheitsrates.

Der Sicherheitsrat könne unter anderem "die Anwendung von Gewalt zur Wahrung oder Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit genehmigen" oder "eine friedenserhaltende Operation einleiten".

Russland profitiere dabei von seinem Status als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, wie Le Bris hervorhob: "Russlands militärische Intervention in der Ukraine verstößt gegen die UN-Charta, aber da Russland ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist, verhindert es dessen Funktionieren durch sein Vetorecht".

Dies tat Russland insbesondere am 25. Februar 2022 angesichts einer von einer Mehrheit der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats gebilligten Resolution, die von Russland den "sofortigen" Abzug seiner Truppen aus der Ukraine forderte.

Zuletzt nutzte Russland sein Vetorecht am 30. September 2022, um die Annahme einer Resolution des UN-Sicherheitsrats zu verhindern, in der seine Annexionen von vier ukrainischen Regionen verurteilt wurden.

Artikel 106 spreche von gemeinsamen Aktionen, was mindestens zwei Staaten voraussetze, wenn nicht sogar fünf, nicht aber alleine, erklärte Le Bris weiter. "Selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Artikel nicht außer Kraft getreten sind, müsste diese Aktion gemeinsam sein, also sind die Bedingungen im Rahmen der russischen Invasion in der Ukraine überhaupt nicht gegeben", so Catherine Le Bris.

Ukraine ist kein feindlicher Staat im Sinne des Artikels 107

Die online verbreitete Interpretation der beiden Artikel basiert zudem auf zwei historischen Fehlschlüssen, wie Romuald Sciora, Forscher am französischen Institut für internationale und strategische Beziehungen (Iris) und UN-Experte, gegenüber AFP am 10. Oktober 2022 erklärte: "Es ist dort von Kroatien, Slowenien und so weiter die Rede, die 1945 nicht existierten, da es sich damals um Jugoslawien handelte."

Sciora könne sich nicht vorstellen, wie man damals hätte voraussehen können, dass Slowenien eines Tages ein unabhängiges Land mit Nazi-Tendenzen sein würde. Das sei abwegig. "Niemand konnte sich damals vorstellen, dass Jugoslawien vierzig Jahre später kein Staat mehr sein würde." Außerdem bemerkte der Experte: "Warum wird die Ukraine unter den Feindstaaten genannt, obwohl sie Teil der Sowjetunion war?"

Auf diese Inkohärenz wies am 11. Oktober 2022 auch Pierre Bodeau-Livinec, Professor für öffentliches Recht an der Universität Paris Nanterre, hin: "Man kann die Ukraine nicht als Feindstaat im Sinne dieser Bestimmung (des Artikels 107) betrachten: die Ukraine gehörte damals zur Sowjetunion und war am 24. Oktober 1945 sogar Gründungsmitglied der Vereinten Nationen."

Lukas Aubin, Forschungsdirektor am bereits erwähnten Institut für internationale und strategische Beziehungen, fügte ebenfalls am 11. Oktober gegenüber AFP an, dass die Regierung von Wolodymyr Selenskyj nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden sei.

"Wir befinden uns hier eindeutig in der Weiterführung der russischen Propaganda, die darauf abzielt, die Intervention in der Ukraine zu legitimieren und die ukrainische Regierung zu diskreditieren. Bereits Mitte der 2000er-Jahre, als die baltischen Staaten der Nato beitraten, benutzte Putin das Nazi-Argument, um sie zu diskreditieren", betonte Aubin.

Putin versuchte die Invasion ebenfalls mit der Charta zu rechtfertigen

Am 26. April 2022 hatte Wladimir Putin bei seinem Treffen mit Antonio Guterres in Moskau selbst die Vereinbarkeit der russischen Invasion in der Ukraine mit der Charta der Vereinten Nationen verteidigt. Dabei berief sich Putin allerdings auf Artikel 51 zur Selbstverteidigung. Der Artikel gibt jedem Mitgliedsstaat das Recht, sich gegen einen Angriff zu verteidigen.

Der Artikel liefert eine der einzigen beiden Ausnahmen von dem Grundsatz der Artikel zwei bis vier, wonach die Mitglieder der Vereinten Nationen "in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen" sollen.

Wladimir Putin hatte in seinem Treffen mit dem UN-Generalsekretär erklärt, dass er diese Bestimmung der Charta eingehalten habe, indem er "dem Ruf nach militärischer Hilfe" an Russland gefolgt sei, weil die Ukraine die Regionen Luhansk und Donezk, die der Kreml kurz vor der Invasion des ukrainischen Nachbarn als unabhängig erklärt hatte, "bewaffnet angegriffen" habe.

Wie Guillaume Devin in einem Beitrag in der belgischen Zeitung Le Soir am 15. März 2022 erklärte, "sind die angeblich angegriffenen Objekte('die Volksrepubliken des Donbass') jedoch nicht nur in keiner Weise 'Mitglieder der Vereinten Nationen'", sondern die “zur Anwendung des Selbstverteidigungsrechts ergriffenen Maßnahmen” würden zudem nur gelten, “bis der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ergriffen hat”. Dies sei aber hypothetisch unmöglich, da Russland mit seinem Vetorecht die normale Funktionsweise des Rates blockiere.

"Um dieses Recht auszuüben, muss man erst einmal angegriffen worden sein – die USA hatten sich nach den Anschlägen vom 11. September darauf berufen, was bei Russland nicht der Fall ist", betonte zudem Alexandra Novosseloff.

UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete die russische Invasion in der Ukraine bereits am ersten Tag am als "Verstoß gegen die Charta" der Vereinten Nationen. Die Militäroperation sei "unzulässig", aber "nicht unumkehrbar", hieß es damals. Guterres forderte den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu auf, die Invasion zu beenden und seine Truppen nach Russland zurückzuschicken.

"Russland versucht wirklich, seine Intervention rechtlich zu rechtfertigen, aber es gibt nicht viele Möglichkeiten, eine militärische Intervention dieser Art zu rechtfertigen, ohne dass sie als bewaffnete Aggression eingestuft wird", erklärte Catherine Le Bris. Die einzigen Elemente, auf die man sich theoretisch berufen könne, seien die Genehmigung des Sicherheitsrats und die Selbstverteidigung.

Fazit: Von AFP befragte Expertinnen und Experten für die Vereinten Nationen und internationale Beziehungen erklärten, die Auslegung der Artikel 106 und 107 der UN-Charta sei falsch. Die Artikel seien 1945 geschaffene Übergangsbestimmungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, die nie in der Praxis angewandt wurden. Diese können im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt nicht geltend gemacht werden. Die Vereinten Nationen bezeichneten die russische Invasion der Ukraine im Gegenteil als einen Verstoß gegen die UN-Charta.

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