
Russisch-orthodoxe Christen auf Pilgerfahrt fälschlicherweise als ukrainische Geflüchtete dargestellt
- Veröffentlicht am 18. Juni 2025 um 10:31
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Eduard STARKBAUER, AFP Slowakei
- Übersetzung: Johanna LEHN , AFP Deutschland
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"Leute retten sich vor dem Kiev Regime", heißt es in einem Video, das seit Anfang Juni 2025 tausendfach auf Facebook geteilt wurde. Das 20-sekündige Video zeigt viele Menschen mit Rucksäcken, die in einer ländlichen Gegend unterwegs sind, darunter ein Mann mit schwarzem Gewand und einem Holzkreuz in der Hand. Einige sitzen am Rand des Weges und scheinen Pause zu machen.
Eine umgekehrte Videosuche führte zu einer qualitativ hochwertigeren Version des Videos auf Youtube. Dessen Beschreibung lautete auf Englisch: "Ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten verlassen Kiew." Auch auf zahlreichen anderen Sprachen wie Mongolisch, Slowakisch, Spanisch, Tschechisch oder Ungarisch kursierten die Aufnahmen. In einigen Beiträgen heißt es, 400.000 ukrainische Geflüchtete würden in Russland Asyl suchen. Insgesamt wurden diese Videos über eine Million Mal angesehen. Das älteste Video, das AFP finden konnte, wurde am 7. Juni 2025 veröffentlicht.

Nach Angaben des ukrainischen Zentrums für wirtschaftliche Strategie (CES) sind zwischen Februar und November 2022 mehr als 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Russland ausgewandert. Diese Zahl umfasst auch diejenigen, die aus den besetzten Gebieten verschleppt oder gegen ihren Willen evakuiert wurden. Das CES schätzt, dass insgesamt 5,6 bis 6,7 Millionen Menschen die Ukraine aufgrund des Krieges verlassen haben.
Das Video in den kursierenden Beiträgen zeigt jedoch eine religiöse Pilgerfahrt in Russland mit überwiegend russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Russisch-orthodoxe Prozession
In einem Kommentar zu dem englischsprachigen Youtube-Video in höherer Qualität behauptete ein Nutzer, das Video zeige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Velikoretsky-Kreuzprozession. Diese orthodoxe Pilgerfahrt findet jedes Jahr vom 3. bis 8. Juni in der westrussischen Region Kirow statt, um den Heiligen Nikolaus aus dem 14. Jahrhundert zu ehren.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Prozession tragen Kleidung, die derjenigen im geteilten Video entspricht – darunter ein Mann in einer Soutane, einem geistlichen Gewand, mit einem Kreuz sowie Frauen mit Kopftüchern.
Die Nummernschilder der Fahrzeuge, die in den Aufnahmen zu sehen sind, entsprechen russischen Kennzeichen. Eines der Autos ist ein Überwachungsfahrzeug, das vom russischen Innenministerium bei einer Militäroperation namens Volna eingesetzt wird. Im Hintergrund ist im Video außerdem die russische Flagge zu sehen.
AFP hat den Ort ausfindig gemacht, der im Video zu sehen ist. Eine Sequenz zeigt die Spitze eines kirchturmähnlichen Bauwerks, das hinter einem Baum hervorragt. Die Verzierung an der Spitze und die gerüstartige Konstruktion ähneln der Kirche im Dorf Zagarye (Kyrillisch: Загарье). Auf Google Maps und Yandex Maps sind Elemente in der Umgebung der Kirche zu sehen, die mit denen im Video übereinstimmen.

Die jüngsten Aufnahmen auf Yandex Maps stammen aus dem Jahr 2024. Sie unterscheiden sich jedoch etwas von dem online geteilten Video.
Der gelbe Gasanschluss und ein Teil des Zauns aus dem Video fehlen in den Yandex-Aufnahmen. Das Gewächshaus ist auf Yandex nur zur Hälfte verkleidet. Der Strommast, der Baum vor dem Turm, der gelbe Zaun, die Spitze des Turms und das graue Haus gegenüber des Kirchturms sind jedoch identisch mit dem Video.

Eine Stichwortsuche auf dem russischen Videoportal Rutube nach der kyrillischen Schreibweise des Dorfnamens führte zu zwei aktuellen Videos von der diesjährigen Pilgerfahrt, die einen Vergleich mit dem online geteilten Clip ermöglichten.
Eines der Videos ist ein Ausschnitt einer Sendung eines regionalen Senders des russischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Russia 1. Er zeigt Elemente wie einen weißen Ford Transit, die russische Flagge und den gelben Gasanschluss, wie sie in den geteilten Video zu sehen sind. Außerdem ist dieselbe unfertige Häusergruppe erkennbar. Auf der Website des Fernsehsenders ist der Nachrichtenbeitrag vom 5. Juni 2025 ebenfalls zu finden.
Die Gasversorgung des Dorfes Zagarye wurde im Dezember 2024 fertiggestellt, was erklären könnte, warum der gelbe Anschluss auf den Bildern von Yandex und Google fehlt.

In einem weiteren Rutube-Video mit dem kyrillischen Titel "360. Velikoretsky-Prozession. Tag 2. Das Dorf Zagarye. 4. Juni 25", das in einer 360-Grad-Perspektive gefilmt wurde, sind zwei Teilnehmer der Prozession zu sehen, die auch im online geteilten Video auftauchen.

Gemäß dem Reiseplan der jüngsten Pilgerfahrt passierte die Gruppe Zagarye am 4. Juni 2025 gegen 10 Uhr morgens, nachdem die Pilgerinnen und Pilger um 3 Uhr morgens von der vorherigen Station im Dorf Bobino (Kyrillisch: Бобино) aufgebrochen waren. Dem Reiseplan zufolge verließ die Gruppe nach einer Stärkung in einer Feldküche gegen Mittag das Dorf Zagarye.
AFP konnte mit Telegram-Beiträgen zur Pilgerfahrt mehrere Infrastrukturelemente sowie den bewölkten Himmel an diesem Tag bestätigen.
Pilgerinnen und Pilger stammten hauptsächlich aus Russland
Das Dorf Zagarye liegt ungefähr 1500 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. In manchen Beiträgen wird die Entfernung des Dorfes zur ukrainischen Hauptstadt Kiew erwähnt. Sie beträgt 1768 Kilometer – die kürzeste Route zu Fuß würde laut Google Maps 397 Stunden dauern.

AFP kontaktierte die Organisatorinnen und Organisatoren der Prozession über ihre offizielle Website mit der Bitte um eine Stellungnahme. Ein ehrenamtlicher Sprecher bestätigte daraufhin gegenüber AFP am 12. Juni 2025, dass das Video während der diesjährigen Prozession aufgenommen wurde. "Ja, das ist die Velikoretsky-Prozession im Dorf Zagarye im Jahr 2025", erklärte er. Er sendete AFP auch einen Screenshot von Yandex Maps, da es bei dem Dienst "ein Panorama dieses Ortes aus dem Jahr 2024" gebe, "gegenüber dem grünen Haus mit dem gelben Zaun". Dem Sprecher zufolge sei das Haus 2024 "noch nicht vollständig überdacht" gewesen.
Er fügte hinzu, dass zwar "Menschen aus aller Welt an der Prozession teilnehmen." Die meisten Gläubigen seien "aber natürlich Russinnen und Russen". Nach Angaben der russisch-orthodoxen Kirche und der Veranstalter nahmen in diesem Jahr rund 22.000 Pilgerinnen und Pilger an der Wallfahrt teil.
Nach Schätzungen des US-Außenministeriums waren bis September 2022 mindestens 900.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter auch Kinder, gegen ihren Willen nach Russland umgesiedelt worden. Auch die Organisation Human Rights Watch meldete die Zwangsübersiedlungen. Sie dokumentierte die Fälle, in denen Menschen deportiert oder zwangsweise nach Russland oder in von Russland besetzte Gebiete umgesiedelt wurden.
Alle Faktenchecks zum Ukrainekrieg sammelt AFP auf der Website.
Fazit: Das Video zeigt eine russisch-orthodoxe Pilgerfahrt im russischen Dorf Zagarye, keine Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Russland fliehen. Das konnte AFP mithilfe von anderen Aufnahmen verifizieren. Ein Sprecher der Organisatorinnen und Organisatoren der Pilgerfahrt bestätigte gegenüber AFP, dass es sich um eine Wallfahrt handelte.