Selenskyj erlaubte Evakuierung ziviler Bevölkerung aus ukrainischer Stadt Sumy

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist oft Zielscheibe von Desinformationskampagnen. Im Juni 2025 teilten Userinnen und User sozialer Plattformen ein Interview, in dem Selenskyj angeblich behauptet hätte, er würde die Zivilbevölkerung als "menschliche Schutzschilder" einsetzen. AFP-Recherchen ergaben, dass die aus 2022 stammende Interviewsequenz aus dem Kontext gerissen wurde. Im Originalvideo erklärte Selenskyj, dass die Regierung den Menschen helfen werde, die belagerten Städte zu verlassen, wenn sie dies wünschten. 

"#Sumy braucht Zivilisten als Schutzschild", hieß es in einem Facebook-Beitrag am 11. Juni 2025. Dazu wurde ein Video geteilt, in dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Ukrainisch sagte: "Wenn die Stadt leer ist, wird es einfacher sein, sie einzunehmen." Deshalb würde Selenskyj wollen, "dass die Zivilbevölkerung dort als menschlicher Schutzschild bleibt", lautete der Post weiter, der auch auf Telegram die Runde machte. Auch auf Tschechisch, Englisch sowie Französisch wurde die Behauptung geteilt.

Der Beitrag enthält ein 13-sekündiges Video, das Selenskyj bei einem Interview mit dem Schweizer Reporter Darius Rochebin auf Ukrainisch zeigt. Jedoch sagte der ukrainische Staatschef darin auch: "Der Staat muss Korridore und Möglichkeiten zur Evakuierung bereitstellen."

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Facebook-Screenshot der Behauptung, oranges Kreuz von AFP hinzugefügt: 14. Juli 2025

Sein Statement wird ebenfalls durch englische Untertitel belegt, doch die Postbeschreibung über Selenskyjs Politik in Bezug auf Korridore und Evakuierung ist missverständlich.

Was Selenskyj im Interview 2022 wirklich sagte

Mithilfe einer umgekehrten Bildsuche von Screenshots aus dem Clip fand AFP heraus, dass der 13-sekündige Clip aus einem Interview vom 16. Dezember 2022 mit Rochebin für den französischen Fernsehnachrichtensender LCI stammt. Dafür spricht, dass mehrere Elemente wie Selenskyjs Kleidung, das Sofa, die ukrainische Flagge sowie die weiße Tür mit goldenen Griffen im Hintergrund übereinstimmen.

Das ursprüngliche Interview, das etwa zehn Monate nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geführt wurde, dauerte fast 36 Minuten lang. Der in den irreführenden Beiträgen geteilte Ausschnitt erscheint bei Minute 03:03 im Originalinterview, als Journalist Rochebin Selenskyj fragte: "Bedeutet das, dass Sie Kiew um jeden Preis halten werden – dass Kiew nicht evakuiert wird?"

Selenskyj antwortete: "Das ist genau unsere Absicht; hier praktizieren wir keine Sklaverei, wir sind eine demokratische Gesellschaft." Die Menschen würden gehen können, wann sie wollten, wenn sie das möchten, sagte der Präsident. Weiter: "Und das ist normal, wir werden niemanden gegen seinen Willen festhalten." Anschließend fügte er hinzu: "Aber ich möchte sagen, dass alle hier entschlossen sind, ihr Land und ihre Familien zu verteidigen."

Daraufhin folgte der Satz, der im 13-Sekunden-Clip geschnitten und aus dem Zusammenhang gerissen in sozialen Medien geteilt wurde: "In einigen Fällen müssen die Menschen gehen. Und der Staat muss Korridore und Möglichkeiten zur Evakuierung bereitstellen, das ist alles. Aber ich möchte Ihnen ganz klar sagen: Wenn die Stadt leer ist, wird es sehr leicht sein, sie einzunehmen."

Selenskyj nannte dann ein Beispiel für Städte in der östlichen Donbass-Region, die von russischen Truppen besetzt wurden, nachdem die lokale Bevölkerung zur Flucht gezwungen worden war.

Einberufungssystem in der Ukraine unter Kritik

Das Einberufungssystem in der Ukraine wurde in der Vergangenheit als ineffizient und korrupt kritisiert. Dies hatte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2023 dazu veranlasst, alle für die Einberufung zuständigen Rekrutierungsbeamten zu entlassen

Die Ukraine versucht, Bürger, die sich dem Wehrdienst entziehen, zur Rückkehr in ihr Land zu bewegen, da die Armee im Kampf gegen Russland unter Personalmangel leidet. Über vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben in EU-Ländern einen vorübergehenden Schutzstatus erhalten, etwa 22 Prozent sind der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge erwachsene Männer

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Über Moldawien Geflüchtete aus der Ukraine wurden am 25. März 2022 auf dem Flughafen in Frankfurt am Main durch die Bundespolizei registriert (POOL / BORIS ROESSLER)

Im August 2022 forderte Selenskyj die Ukrainerinnen und Ukrainer wiederum auf, Evakuierungsbefehle zu befolgen, da russische Angriffe in Donezk, einer anderen Region nahe der russischen Grenze, zunahmen. Viele zögerten jedoch, ihre Heimat zu verlassen, da ihnen die Mittel für einen Neuanfang fehlten oder sie keine andere Bleibe hatten.

Im Mai 2025 wurden nach Furcht vor einer russischen Großoffensive elf Dörfer in der an Russland grenzenden ukrainischen Region Sumy evakuiert.

Wie es um die Unterstützung der Ukraine steht

Während Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un Mitte Juli 2025 Russland "bedingungslose" Unterstützung in der Ukraine zusicherte, einigten sich die EU-Außenministerinnen und -minister der EU-Länder bereits Ende Juni 2025 auf weitere Unterstützung für Kiew. US-Präsident Donald Trump und Nato-Generalsekretär Mark Rutte verständigten sich am 14. Juli 2025 auf Waffenlieferungen für die Ukraine. 

Einzelne EU-Länder zeigten sich weniger solidarisch. Im Jahr 2024 etwa wurden Militärhilfen von 1,4 Milliarden Euro sowie Russlandsanktionen gegen den Willen Ungarns beschlossen.

Allein Deutschland leistete bisher hingegen zivile Unterstützung in Höhe von rund 34 Milliarden Euro und militärische Unterstützung in Höhe von rund 38 Milliarden Euro für die Ukraine und zählt damit zu jenen Staaten, welche die Ukraine am meisten unterstützen.

Als eines der bisher letzten EU-Länder empfing das neutrale Österreich Selenskyj am 16. Juni 2025. Das Treffen war von symbolischer Bedeutung. Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagte, dass Wien "militärisch neutral, aber keineswegs politisch" neutral sei. In Österreich hatte die rechtspopulistische FPÖ immer wieder gegen Auftritte Selenskyjs protestiert

Alle Faktenchecks zum Krieg in der Ukraine sammelte AFP auf der Website.

Fazit: Userinnen und User verbreiteten ein Video, wonach der ukrainische Präsident Selenskyj angeblich angekündigt hätte, die zivile Bevölkerung als "menschliche Schutzschilder" einsetzen zu wollen. AFP-Recherchen ergaben, dass die aus 2022 stammende Interviewsequenz aus dem Kontext gerissen wurde. Vielmehr erklärte Selenskyj damals, dass die Regierung den Menschen bei der Evakuation aus belagerten Städten helfen würde.

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