Dieser Vortrag von Steve Kirsch vor der US-Arzneimittelbehörde FDA ist falsch: Covid-Impfungen töten nicht mehr Menschen, als sie retten

Zehntausende User haben auf Facebook Mitte September mehrere Artikel mit der falschen Behauptung des Covid-Impfstoff-Kritikers Steve Kirsch geteilt, dass Covid-Impfungen mehr Menschen töteten als sie retteten. Seine These versucht er mit Daten aus der sogenannten Vaers-Datenbank der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zu belegen. Diese Daten beweisen allerdings keinen Zusammenhang und Todesfällen nach Impfungen.

Zehntausende Facebook-User haben seit dem 20. September einen Online-Artikel des russischen Staatssenders RT Deutsch (hier), der FPÖ-nahen österreichischen Wochenzeitung Wochenblick (hier) und des Blogs Report 24 (hier) geteilt. Auch auf Telegram erreichten die Artikel Zehntausende bis Hunderttausende User (hier, hier).

Unter den Hauptverbreitern der Artikel sind neben regierungs- und impfkritischen Facebookseiten (hier, hier) auch Politiker wie der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron und Jens Ahrends von den Liberal-konservativen Reformern (LKR).

Die Falschbehauptung: Bereits in den Überschriften der Artikel heißt es übereinstimmend: "Impfstoff tötet mehr Menschen als er rettet". Diese These stamme vom vermeintlichen US-Corona-Experten Steve Kirsch. Dieser habe mit Daten der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC belegt, dass Herzinfarkte nach Injektionen mit dem Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer "71-mal häufiger auftreten als bei anderen Impfstoffen."

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Facebook-Screenshot: 07.10.2021

Wer ist Steve Kirsch?

Steve Kirsch wird von "Report24" als "Corona-Forscher" bezeichnet, der sich vor einem Gremium der US-Arzneimittelbehörde FDA äußerte. Diese FDA-Sitzung gab es tatsächlich. Am 17. September 2021 sprach Kirsch im öffentlichen Teil der Sitzung des "167th Meeting of the Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee". Der FDA-Ausschuss war zusammengekommen, um über Auffrischungsimpfungen von Pfizer/Biontech in den USA zu diskutieren und über eine Empfehlung für einen Zulassungsantrag abzustimmen. Eine Aufnahme davon ist auf Youtube zu finden.

Kirsch selbst stellt sich dort als Direktor des "Covid-19 Early Treatment Fund" vor. Die Homepage dieser Covid-Impfstoff-kritischen Organisation stellt Kirsch als Geschäftsführer eines Unternehmens vor, das im Bereich Kryptowährungen arbeitet. Die Seite betitelt ihn außerdem als Erfinder der optischen Maus und einer der ersten Internetsuchmaschinen. Relevante wissenschaftliche Arbeiten von Kirsch zum Thema Impfungen konnte AFP allerdings weder in der wissenschaftlichen Datenbank Pubmed noch auf Google Scholar finden. AFP hat in der Vergangenheit bereits Falschbehauptungen Kirschs zu Impfstoffen überprüft.

Tötet der Impfstoff mehr Menschen, als er rettet?

AFP hat bei der FDA nachgefragt, ob etwas an Kirschs Behauptung dran ist. FDA-Sprecherin Abigail Capobianco schrieb am 21. September in einer E-Mail:

Auch Regierungsdaten widerlegen die Behauptung Kirschs, dass die Covid-19-Impfstoffe mehr Menschen töteten als sie retteten. In seiner Präsentation vor der FDA bezog er sich mehrmals auf Daten des Vaers (Vaccine Adverse Events Reporting System), einer nationalen Datenbank zur Überwachung der Sicherheit von Impfstoffen, welche von der FDA und dem CDC betrieben wird.

Bereits in der Suchmaske der Datenbank ist ein Disclaimer zu finden, in dem es heißt: "Die Datenbank [...] Vaers enthält Informationen über nicht verifizierte Berichte über unerwünschte Ereignisse [...] nach Impfungen mit in den USA zugelassenen Impfstoffen. Berichte werden von jedermann akzeptiert und können elektronisch [...] eingereicht werden."

Auf der gleichen Seite muss vor Zugriff auf die Datenbank ein Disclaimer akzeptiert werden, der auch noch einmal auf Folgendes hinweist: "[...] die Berichte von Vaers allein [...] können [...] nicht dazu verwendet werden festzustellen, ob ein Impfstoff ein unerwünschtes Ereignis oder eine Krankheit verursacht oder dazu beigetragen hat."

Und weiter heißt es zur Qualität der Daten: "Die Berichte können Informationen enthalten, die unvollständig, ungenau, zufällig oder nicht überprüfbar sind." Kirsch lässt all diese Informationen weg.

Die in der Datenbank aufgeführten Fälle können also falsch sein. Das verdeutlicht eine Meldung, über die die Faktencheck-Organisation Politifact schon 2017 berichtet hatte. Demnach hatte ein Dr. James R. Laidler nach einer Influenza-Impfung dem Vaers berichtet, er hätte sich in die Marvel-Comicfigur "Hulk" verwandelt. Die Symptome: grüne Haut, wachsende Muskeln und Wutprobleme. Die CDC bestätigten die offensichtlich erfundene, aber dennoch im Vaers aufgeführte Meldung gegenüber Politifact. Mittlerweile wurde dieser Fall in Absprache mit Laidler aus der Datenbank entfernt.

AFP Faktencheck hat andere irreführende Behauptungen im Zusammenhang mit Vaers hier entlarvt.

Auch FDA-Sprecherin Capobianco bestätigte die Hinweise aus dem Disclaimer. Sie betonte gegenüber AFP, dass Todesfälle nach einer Covid-19-Impfung sehr selten seien. "Vom 14. Dezember 2020 bis zum 13. September 2021 wurden in den Vereinigten Staaten mehr als 380 Millionen Dosen des Impfstoffs gegen Covid-19 verabreicht. In diesem Zeitraum erhielt Vaers 7653 Berichte über Todesfälle (0,0020 %) bei Personen, die einen Covid-19-Impfstoff erhalten hatten", rechnete sie vor. Wobei wie beschrieben eine Meldung bei der Vaers noch nicht bedeutet, dass ein Zusammenhang besteht.

Selbst wenn alle an Vaers gemeldeten Todesfälle nach der Impfung tatsächlich durch die Impfung verursacht worden wären, würden die Daten immer noch nicht das von Kirsch beschriebene Verhältnis von zwei zu eins zwischen Todesfällen durch Impfung und geretteten Leben widerspiegeln. Die Methodik mit der er seine Ergebnisse berechnet hat, ist unklar.

Es ist schwierig, genau zu beziffern, wie viele Leben durch Impfungen tatsächlich gerettet wurden. Mehrere Studien haben Schätzungen vorgenommen, die alle die Zahl der Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen übersteigen. Die Zahl steigt mit den laufenden Impfkampagnen.

Eine Studie in den USA von der Universität von Indiana und der RAND Corporation, die am 18. August 2021 in der Zeitschrift Health Affairs veröffentlicht wurde, schätzt, dass die Impfung bis Mai 2021 fast 140.000 Todesfälle in den Vereinigten Staaten verhindert habe.

Eine weitere, im Juli 2021 veröffentlichte Studie unter der Leitung der Yale School of Public Health (YSPH) kommt zu dem Ergebnis, dass die koordinierte und schnelle Covid-19-Impfkampagne, die Ende letzten Jahres in den Vereinigten Staaten gestartet wurde, zwischen Oktober 2020 und Juli 2021 etwa 279.000 Leben gerettet und 1,25 Millionen Krankenhausaufenthalte verhindert habe.

Laut dem am 23. September 2021 veröffentlichten Covid-19-Impfstoffüberwachungsbericht von Public Health England "zeigen die neuesten Schätzungen, dass das Impfprogramm über 230.800 Krankenhausaufenthalte direkt verhindert" und "zwischen 23,7 und 24,1 Millionen Infektionen sowie zwischen 119.500 und 126.800 Todesfälle verhindert hat".

Auffällig viele Herzinfarkte als Nebenwirkung?

Auch die Behauptung, dass Herzinfarkte nach Injektionen mit dem Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer 71-mal häufiger zu Herzinfarkten führen würden, belegen die Vaers-Daten nicht. Sie beweisen keinen Zusammenhang der Krankheit zum Impfstoff.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) berichtet im aktuellen Sicherheitsbericht zu den Nebenwirkungen aller Covid-Impfungen, dass "eine Analyse der Spontanmeldungen aus Deutschland zu Herzinfarkten und Lungenembolien kein Signal für alle vier Impfstoffe ergab". Dieser Bericht berücksichtigt Meldungen bis zum 31. August 2021.

Auch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) hat für Österreich bis zum 24. September 2021 keine Herzinfarkte im "Bericht über Meldungen vermuteter Nebenwirkungen nach Impfungen zum Schutz vor COVID-19" als Nebenwirkungen aufgeführt.

Laut PEI-Sicherheitsbericht sei ein Risiko nach mRNA-Impfungen für Myokarditis, eine Herzmuskelentzündung, festgestellt worden. Das betreffe vor allem für junge Männer. Diese Entzündung kann in schweren Fällen zum Herzversagen führen. Jedoch würden sich laut PEI die meisten Patienten schnell wieder erholen. Das Institut stuft die Nebenwirkung als "sehr selten" ein.

Daten aus Israel

Die Artikel zitieren Kirsch auch damit, dass die Impfquote in Israel bei über 90-Jährigen von 94,4 Prozent auf 82,9 Prozent gesunken sei. Das bedeute, dass mindestens "50 Prozent der Geimpften und 0 Prozent der Ungeimpften gestorben" seien.

Laut einer Präsentation von Kirsch, welche er auf seiner Homepage veröffentlichte, stammen diese Daten aus diesem Social-Media-Post von Kirsch. Die darin zitierten Daten über den Impfstatus der über 90-Jährigen stammen tatsächlich aus dem Dashboard des israelischen Gesundheitsministeriums. Sie stimmen nicht ganz genau, aber zeigen einen ähnlichen Trend.

AFP fand zu diesem Trend keine Erklärung. Auf AFP-Anfrage erklärte das israelische Gesundheitsministerium in einer E-Mail am 7. Oktober: "Dies ist ein Artefakt, das auf die regelmäßige Aktualisierung der israelischen Bevölkerungszahl auf der Website des Gesundheitsministeriums zurückzuführen ist. Die Zahl der über 90-Jährigen wurde nach oben korrigiert, was natürlich den Prozentsatz der Geimpften senkte. Basierend auf den nationalen Überwachungsdaten des Gesundheitsministeriums wurden keine 90-Jährigen getötet."

Das sagen Expertinnen und Experten zu Kirschs Thesen

AFP hat auch Expertinnen und Experten um eine Einschätzung zu den Thesen Kirschs gebeten. Dr. Jeffrey Morris, Direktor der Abteilung für Biostatistik an der Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania, schrieb am 22. September in einer E-Mail, dass Kirschs "wissenschaftliche Logik extrem fehlerhaft ist".

Morris, der bereits in der Vergangenheit Behauptungen von Kirsch widersprochen hat, beschuldigte Kirsch Daten der Vaers-Daten missbraucht zu haben, so dass "angenommen werden sollte, dass die Krankheiten durch den Impfstoff verursacht wurden".

Dr. Alison Galvani, die Direktorin des Yale Center for Infectious Disease Modeling and Analysis, bezeichnete die Behauptungen von Kirsch am 21. September in einer E-Mail an AFP als "gefährlich daneben" und betonte, dass sie "im Widerspruch zu der umfangreichen, von Experten begutachteten Literatur stehen, die die Wirksamkeit und Sicherheit der Covid-19-Impfstoffe belegt, die derzeit in den USA verabreicht werden". Galvani erklärte weiter:

Die CDC und die Weltgesundheitsorganisation raten den Menschen weiterhin dringend, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, da der Impfstoff sowohl sicher als auch wirksam ist.

Weitere falsche und unbelegte Behauptungen in der Präsentation von Kirsch

Kirsch hat vor dem FDA-Gremium nur eine Kurzversion seiner Präsentation gehalten. Auf seiner Website veröffentlichte er alle Folien seines Vortrags. Darin sind weitere dubiose Behauptungen zu finden, die in den Artikeln nicht erwähnt wurden. Darunter auch ein angeblicher Brief der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein auf Seite 19. Darin sei erklärt worden, dass eine Pflegeheimbewohnerin nach einer Impfung verstorben sei. Das ist allerdings falsch, wie AFP in diesem Faktencheck bereits Anfang September herausfand.

Auf der letzten Seite der Präsentation ist außerdem die umstrittene Behauptung des Chefpathologen der Universität Heidelberg, Peter Schirmacher, zu finden. Dieser hatte 40 Menschen untersucht, die innerhalb von zwei Wochen nach einer Corona-Impfung verstorben waren. Schirmacher gab damals an, dass 30 bis 40 Prozent davon an der Impfung gestorben seien. Seine Zahlen lösten Kritik aus (hier, hier). AFP hat Schirmacher am 9. September um Belege seiner Behauptung gebeten und bis zur Veröffentlichung dieses Faktenchecks keine Antwort bekommen.

Reaktionen der Redaktionen, die über Kirschs Behauptungen berichteten

AFP hat RT Deutsch, Report24 und Wochenblick auf die von ihnen verbreiteten Thesen Kirschs angesprochen.

RT Deutsch gab zwar kein Statement zu Kirschs Thesen ab, ergänzte aber nach der AFP-Anfrage den Artikel um einen Absatz aus der englischen Version dieses AFP-Faktenchecks.

Report24 reagierte zwar auf die AFP-Anfrage am 29. September, wollte sich aber auch auf Nachfrage nicht auf den dargestellten Sachverhalt nicht äußern.

Bis zur Veröffentlichung dieses Faktenchecks reagierte der Wochenblick nicht auf AFP-Anfrage.

Fazit: Die Behauptung, dass mehr Menschen an der Covid-19-Impfung sterben als gerettet würden, wird nicht durch die von Steve Kirsch genannten Daten belegt. Im Gegenteil, die Daten sind explizit nicht geeignet, solche Behauptungen aufzustellen. Diesen Hinweis verschweigt er. Außerdem widersprechen Expertinnen und Experten den Thesen von Kirsch. Die Covid-Impfungen von Pfizer/Biontech funktionieren und schützen Millionen Menschen.

10. Januar 2022 Rechtschreibfehler ausgebessert

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