Antimuslimische Narrative und KI-Manipulationen: Falschinfos über Weihnachtsmärkte fluten Plattformen
- Veröffentlicht am 16. Dezember 2025 um 13:50
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
Meterhohe Stacheldrahtzäune, starke Polizeipräsenz, angeblich auf den Markt stürmende Menschen: Die Vorweihnachtszeit wird begleitet von aus dem Kontext gerissenen Videos und KI-generierten Bildern von Weihnachtsmärkten. Eines der jüngsten Beispiele ist ein Video mit islamischem Gesang, der angeblich auf einem Weihnachtsmarkt zu hören gewesen sein soll. Das Video zeigt allerdings eine andere Veranstaltung. Fachleute erklärten, weshalb Weihnachtsmärkte im Dezember 2025 so häufig Gegenstand von Falschinformationen ist.
Ein Video zeigt einen Mann, der in einem weißen Gewand gekleidet ein scheinbar islamisches Lied oder Gebet singt. Eine Stimme kommentiert den Gesang mit "sehr weihnachtlich", bevor die Kamera geschwenkt wird und ein Weihnachtsbaum zu sehen ist. "Dieser Weihnachtsmarkt hat komplett kapituliert!", schrieb ein Nutzer am 5. Dezember 2025 dazu auf Instagram. Das Video wurde auch auf Facebook geteilt und kursierte auf anderen Sprachen wie Englisch, Griechisch, Russisch und Slowakisch.
Das Video zeigt jedoch keinen Weihnachtsmarkt und ist alt.
Eine umgekehrte Bildsuche ergab, dass das Video bereits Ende 2023 kursierte. Die Nachrichtenagentur dpa veröffentlichte zu dieser Zeit einen Faktencheck zu einer anderen Behauptung über das verbreitete Video. Beispielsweise das rechte Onlinemedium Nius behauptete damals schon fälschlich, dass der "Weihnachtsmarkt mit Muezzin-Ruf eröffnet" worden sei. Beispielsweise der EU-Abgeordnete der österreichischen rechtspopulistischen FPÖ Harald Vilimsky verbreitete die Behauptung von Nius im Dezember 2023. AFP hat bereits verschiedene Falschinformationen von Nius widerlegt.
Video stammt aus bayerischem Karlstadt
Hinter dem Mann auf der Bühne ist im Hintergrund des Videos ein Banner mit der Aufschrift "Andreasmarkt" zu sehen. Eine Stichwortsuche führte zu Medienberichten der Lokalzeitung "Mainpost" über den Andreasmarkt im bayerischen Karlstadt im November 2023 sowie die schon damals verbreiteten Falschinformationen. Bilder von Google Street View bestätigen, dass im Video der Karlstädter Marktplatz zu sehen ist.
Der Andreasmarkt wird jährlich von der Stadtmarketing Karlstadt GmbH organisiert und nicht als Weihnachtsmarkt beworben. "Andreasmarkt ist der Name des verkaufsoffenen Sonntags im November, er findet immer vor dem ersten Advent statt, somit vor der Weihnachtszeit", erklärte Carolin Müller, Geschäftsführerin der Stadtmarketing Karlstadt GmbH, am 11. Dezember 2025 auf AFP-Anfrage.
Ende November 2023 stand der Markt unter dem Motto "Orient trifft Okzident" und islamische Organisationen gestalteten das Programm. Als Teil dieses Programms wurde der Markt mit einem Muezzin-Ruf eröffnet. Damit fordert der Muezzin, ein Mitarbeiter der Moschee, die Gläubigen zum Gebet auf. Außerdem wurden muslimische Gebetspraktiken und Koranverse vorgestellt sowie erklärt, was eine Moschee und ein Imam ist. Müller zufolge gebe es jedes Jahr ein anderes Programm, für das alle Vereine und Institutionen der Stadt angefragt würden. 2023 hätten die beiden Moscheen in Karlstadt ihre Arbeit und ihren Alltag vorgestellt.
Die Pressestelle der Stadtverwaltung bestätigte diese Auskunft und ergänzte auf AFP-Anfrage am 12. Dezember 2025, dass die sogenannten Nikolaustage den Weihnachtsmarkt in Karlstadt bilden. Diese finden am Wochenende nach dem Nikolaustag am 6. Dezember statt, 2023 war das am 8. und 9. Dezember. Außer anlässlich des verkaufsoffenen Sonntags im November 2023 seien laut Stadtverwaltung weder auf dem Andreasmarkt noch auf dem Weihnachtsmarkt islamische Gesänge in Karlstadt zu hören gewesen.
Zahlreiche Weihnachtsmarkt-Falschinfos Ende 2025
Diese Behauptung ist bei Weitem nicht die einzige Falschinformation über Weihnachtsmärkte, die Ende 2025 in vielen Sprachen geteilt wurde. Viele Videos, die in der Vorweihnachtszeit aus dem Kontext gerissen wurden, haben eines gemeinsam: Sie sollen Stimmung gegen muslimische Migrantinnen und Migranten machen.
So hieß es beispielsweise, Musliminnen und Muslime würden einen Weihnachtsmarkt in Deutschland "stürmen", obwohl tatsächlich eine Demonstration zur Feier des Sturzes des ehemaligen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad in Essen im Jahr 2024 zu sehen ist. Über Bilder aus Stuttgart, in denen ebenfalls Menschen nahe eines Weihnachtsmarktes zu sehen sind, die am 8. Dezember 2024 das Ende des syrischen Assad-Regimes feierten, wurden ebenso antimuslimische Falschinformationen verbreitet, wie AFP berichtete.
Auch in Brüssel hätten "muslimische Islamisten die Eröffnungsfeier des Weihnachtsmarktes" gestürmt. Dabei zeigen AFP-Recherchen: Im Video ist in Wirklichkeit eine propalästinensische Demo am 28. November 2025 zu sehen, die laut Brüsseler Polizei friedlich verlaufen sei und den Weihnachtsmarkt nicht zum Ziel gehabt habe.
In Wien sollen Migrantinnen und Migranten angeblich einen Weihnachtsmarkt eingekesselt und den Dschihad gefordert haben. Auch in diesem Fall handelte es sich jedoch um einen friedlichen Protest am 29. November 2025 anlässlich des Internationalen Tages der Solidarität mit dem palästinensischen Volk.
Ähnliche Szenen sollen sich in Hamburg abgespielt haben: Von einem Video wird fälschlich behauptet, es zeige "islamistische Einwanderer" mit Fahnen und Schildern, die "im Jahr 2025 auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt demonstrieren". AFP fand jedoch heraus, dass das Video nichts mit Weihnachten zu tun hat, sondern im Oktober 2024 während einer Demonstration der islamistischen Organisation Muslim Interaktiv in Hamburg entstand. Die Organisation wurde im November 2025 von der Bundesregierung verboten.
KI-generierte Bilder mit übertriebenem Sicherheitskonzept
Doch nicht nur aus dem Kontext gerissene Aufnahmen werden in sozialen Medien mit antimuslimischen und antimigrantischen Falschbehauptungen geteilt. Auch KI-generierte Bilder, die Weihnachtsmärkte mit übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen wie meterhohen Stacheldrahtzäunen oder darum herum geparkten gepanzerten Fahrzeugen zeigen, kursieren auf verschiedenen Plattformen, wie AFP Ende Oktober und Ende November 2025 berichtete. Das Polizeipräsidium Mittelhessen informierte zudem am 4. Dezember 2025 über KI-generierte Bilder, die zwei angebliche Polizeieinsätze im Zusammenhang mit dem Weihnachtsmarkt in der Stadt Büdingen zeigen sollen, und bat darum, die Bilder nicht weiter zu verbreiten.
In den Bildern wird teilweise die umstrittene Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Oktober 2025, in der er Migrantinnen und Migranten zunächst pauschal als "dieses Problem" im "Stadtbild" bezeichnete, mit dem Umstand kombiniert, dass Weihnachtsmärkte in Deutschland inzwischen mit verschärften Sicherheitsvorkehrungen geschützt werden, da in den vergangenen Jahren Anschläge auf Weihnachtsmärkte verübt wurden.
Im Jahr 2016 wurden bei einem vom Islamischen Staat (IS) beanspruchten Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen getötet und 60 verletzt. Das 13. Opfer starb im Oktober 2021 aufgrund seiner schweren Verletzungen. Der Anschlag markierte einen Wendepunkt in der Sicherheitspolitik europäischer Länder gegenüber dem islamistischen Terrorismus. Im Dezember 2018 tötete ein Mann, der sich ebenfalls zum IS bekannte, auf dem Weihnachtsmarkt in Straßburg fünf Menschen und verletzte etwa zehn weitere mit einem Messer und einem Revolver.
Zuletzt raste am 20. Dezember 2024 ein saudischer Staatsangehöriger in eine Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt. Dabei tötete er sechs Menschen und verletzte mindestens 300 weitere. Der Mann, dessen Prozess am 10. November 2025 begann und vier Monate dauern soll, rechtfertigte seine Tat mit einer rechtsextremen Ideologie und einem persönlichen Kampf gegen die "Islamisierung" Europas.
Einige wenige deutsche Städte wie beispielsweise Overath bei Köln beschlossen im Jahr 2025, ihre Weihnachtsmärkte wegen der hohen Kosten für die nötigen Sicherheitsmaßnahmen abzusagen. Die große Mehrheit der Städte richtet ihre Märkte jedoch aus. Dennoch kritisiert beispielsweise der Deutsche Städtetag, dass die Kommunen die Kosten allein tragen würden, und fordert eine Beteiligung von Bund und Ländern. In sozialen Medien und einigen Medienberichten wurde aufgrund der hohen Kosten zunächst spekuliert, dass zahlreiche Weihnachtsmärkte abgesagt werden müssten.
Weihnachtsmarkt-Falschinfos lösen Emotionen aus
Dass in der Vorweihnachtszeit besonders viele Falschinformationen über Weihnachtsmärkte kursieren, hängt aus psychologischer Sicht mit der starken emotionalen Aufladung des Themas zusammen. "Die Weihnachtssymbolik steht für Freude, ein warmes Gefühl von Verbundenheit und Geborgenheit", erklärte Lea Frühwirth, leitende Forscherin zu Desinformation am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) und Psychologin, am 11. Dezember 2025 auf AFP-Anfrage. Das Cemas befasst sich mit Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Narrative, die Musliminnen und Muslimen "gesamthaft unterstellen, dieses Ideal einer heilen Welt gewaltsam zerstören zu wollen, können also einiges an Emotionen auslösen".
Essentiell sei dabei "die künstliche Trennung zwischen dem 'Wir' und dem 'Die', die psychologisch verfänglich ist", erklärte Frühwirth. Dabei würden nicht einzelne radikalisierte Menschen, sondern eine gesamte Gruppe generalisiert und als bedrohlich dargestellt. "Rassistische Narrative und Falschbehauptungen sollen so besonders aufregen – und dadurch mehr Menschen erreichen."
Roland Imhoff zufolge greift hier zudem der sogenannte Truth Effect. "Wenn wir Nachrichten begegnen, können wir für gewöhnlich nicht direkt erkennen, ob es sich um zuverlässige, akkurate Informationen handelt oder nicht", erklärte der Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf AFP-Anfrage am 10. Dezember 2025. Da Menschen Informationen nicht immer selbst am Ort des Geschehens überprüfen könnten, würden sie Strategien anwenden wie beispielsweise "bestimmten Quellen mehr als anderen" zu vertrauen. "Oder wir halten das für tendenziell wahrer, was uns vertraut vorkommt, was wir schon einmal gehört haben – der sogenannte Truth Effect."
Die Falschinformationen über die angebliche Bedrohung von Weihnachtsmärkten seien deshalb anschlussfähig, weil dort tatsächlich Anschläge in der Vergangenheit verübt wurden, die zumindest zum Teil einen islamistischen Hintergrund hatten. "Ich habe hier also ein Ereignis, bei dem ich gut an Vorstellungswelten und mentale Bilder anknüpfen kann, die das Gefühl der Vertrautheit und damit auch Plausibilität steigern", erklärte Imhoff.
Hinter Desinformation stecken verschiedene Motive
Weshalb Nutzerinnen und Nutzer solche Narrative und Falschinformationen verbreiten, kann Frühwirth zufolge unterschiedliche Gründe haben. Naheliegend sei, dass rassistisches Gedankengut normalisiert werden soll, wie es etwa von Rechtsextremistinnen und -extremisten bekannt ist. "Auch das Streuen von Misstrauen und Vertiefen von Spaltungslinien in der Gesellschaft kann dahinterstecken, wie beispielsweise bei russischen Desinformationskampagnen." Aber auch finanzielle Interessen oder der Wunsch nach Aufmerksamkeit können laut Frühwirth Gründe sein.
Im Fall der Weihnachtsmarkt-Falschinformationen vermutete Imhoff, dass das Ziel der Verbreitung sei, "westliche Gesellschaften durch Polarisierung zu destabilisieren". Grundsätzlich könnten sich Nutzerinnen und Nutzer den beiden Fachleuten zufolge auch schlicht geirrt haben und selbst einer Falschinformation aufgesessen sein. Die Erstellerinnen und Ersteller von derartigen Beiträgen, erklärte Imhoff, "müssten jedoch wissen, dass sie hier Desinformation betreiben".
Posts mit "gesunder Skepsis" begegnen
Frühwirth riet zu einer "gesunden Skepsis bei der Nutzung sozialer Medien". Besonders empörende Inhalte würden mitunter absichtlich so dargestellt. "Behauptungen von bösartigen Bedrohungsszenarien gegenüber Weihnachtsmärkten und Co. haben genau dieses Empörungspotenzial." Angesichts konkreter Behauptungen helfe es, "nach Hinweisen auf Glaubwürdigkeit" zu suchen. Frühwirth zählte einige davon auf: Wer ist die Quelle der Behauptung, berichten seriöse Medienhäuser unabhängig voneinander über das angebliche Ereignis und wurde die Behauptung eventuell schon widerlegt?
Imhoff merkte zudem an, es sei hilfreich, sich selbst zu hinterfragen. "Wenn ich ernsthaft interessiert bin, wie wahr die dort dargestellte Information ist, lohnt es sich immer, kurz innezuhalten und sich zu fragen: Was spricht dagegen, dass diese Information stimmt?" Das verhindere, "einem Bestätigungsfehler zu unterliegen und Dinge für plausibler zu halten, die meiner Weltsicht entsprechen".
AFP stellte Tipps zusammen, wie Nutzerinnen und Nutzer KI-generierte Inhalte erkennen können. Weitere Faktenchecks zum Thema Migration sammelt AFP auf der Website.
Fazit: Ein Video mit islamischem Gesang auf einem Marktplatz stammt nicht von einem Weihnachtsmarkt. Die Aufnahme entstand 2023 auf dem Andreasmarkt, der anlässlich des verkaufsoffenen Sonntags vor der Adventszeit im bayerischen Karlstadt mit wechselnden Mottos stattfindet. Medienberichte einer Lokalzeitung über die schon 2023 kursierenden Falschinfos sowie das Stadtmarketing bestätigten, dass das Video nichts mit einem Weihnachtsmarkt zu tun hat. Diese Behauptung reiht sich in weitere irreführende und falsche Informationen ein, die Ende 2025 zu Weihnachtsmärkten verbreitet wurden.
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