Nein, diese Studie beweist nicht, dass die Grippeimpfung das Infektionsrisiko erhöht

Die Grippewelle war in der Wintersaison 2024/2025 in ganz Europa besonders intensiv. Nun wurde in sozialen Medien behauptet, dass die Grippeimpfung das Infektionsrisiko erhöhe – was eine Studie der US-amerikanischen Cleveland Clinic beweisen solle. Diese Behauptung ist jedoch falsch. Die Studie legt keinen solchen Zusammenhang nahe, erklärt die Cleveland Clinic gegenüber AFP, sondern stellt lediglich eine geringe Wirksamkeit der Grippeimpfung gegen die Infektion in diesem Jahr fest.

“Eine frische Studie aus den USA unter über 50.000 Personen stellt der Grippeimpfung aus diesem Winter ein dramatisch schlechtes Zeugnis aus,” lautet ein Artikel auf "tkp", einem österreichischen "Blog für Science & Politik", der in der Vergangenheit bereits mehrfach mit Falschinformationen auffiel, die AFP widerlegt hat. "Wer gegen Grippe geimpft wurde, erkrankte mit größerer Wahrscheinlichkeit an der Influenza," wurde im Artikel weiter behauptet.

Die Behauptung wurde verbreitet, nachdem auch in Deutschland in der Saison 2024/25 ein deutlicher Anstieg an Fällen von Grippe verzeichnet wurde (hier archiviert). 

Der "tkp" Artikel wurde auch auf mehrere Facebook-Seiten geteilt, die sich öfters kritisch gegenüber Impfmaßnahmen geäußert haben, wie zum Beispiel diese.

Ähnliche Postings mit denselben Falschbehauptungen wurden auch in sozialen Medien in Französisch und Kroatisch geteilt. 

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Screenshot des Artikels mit den Falschbehauptungen: 2. Mai 2025

In der Studie der Cleveland Clinic wird zwar festgestellt, dass der Impfstoff in dieser Saison in den USA nur eine begrenzte Wirksamkeit hatte. Ein Sprecher der Klinik erklärte jedoch gegenüber AFP, dass dies nicht automatisch bedeute, dass die Impfung das Infektionsrisiko erhöhe. Es könnten nämlich viele andere Faktoren eine Rolle gespielt haben.

Was sagt die Studie aus?

Die in den Beiträgen erwähnte Studie wurde von der Cleveland Clinic – einem renommierten US-amerikanischen akademischen medizinischen Zentrum – durchgeführt. Sie wurde am 4. April 2025 auf MedRxiv, einem Archiv für Vorabdrucke aus dem Bereich der Gesundheitswissenschaften, veröffentlicht (hier archiviert). Die Studie wurde daher noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und auch nicht in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. Daher "sollte die Studie nicht als Leitlinie für die klinische Praxis herangezogen werden", heißt es ausdrücklich auf der Plattform.

Es sei also "etwas verfrüht, aus dieser Arbeit endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen", warnte Antoine Flahault, Experte für öffentliche Gesundheit und Epidemiologie. Die Autoren und ihre Institution seien aber sehr wohl "glaubwürdig und seriös", wie er am 15. April 2025 gegenüber AFP erklärte.

Ziel der Studie war es, "die Wirksamkeit der Grippeimpfung während der Atemwegserkrankungssaison 2024/25" zu bewerten.

Der Studie zufolge erhielten von 53.402 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines US-Krankenhauses 43.857, oder 82,1 Prozent, eine Grippeimpfung für die Saison 2024/25.

"Sie wurden alle über 25 Wochen hinweg beobachtet, und 1079 Personen (2,02 Prozent) meldeten eine mittels PCR-Test bestätigte Grippe. In der Anfangsphase der Epidemie erkrankten sowohl in der geimpften als auch in der ungeimpften Gruppe gleich viele, später – gegen Ende der Studie – wurden jedoch mehr Fälle in der geimpften Gruppe als in der ungeimpften Gruppe beobachtet", sagte Antoine Flahault.

"Letztendlich war das Risiko, an Influenza zu erkranken, bei geimpften Personen um 27 Prozent höher als bei ungeimpften Personen", fügte er hinzu.

Diese Ergebnisse "deuten jedoch nicht darauf hin, dass die Impfung das Influenzarisiko erhöht", erklärte Andrea Pacetti, Sprecherin der Cleveland Clinic, gegenüber AFP. Auch in der Studie wurde nichts dergleichen behauptet.

Diese Ergebnisse zeigen lediglich, dass innerhalb der untersuchten Stichprobe mehr geimpfte Personen an Grippe erkrankten als nicht geimpfte Personen. Dieser Unterschied kann jedoch durch mehrere Gründe erklärt werden und steht nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Impfstoff selbst.

So stammten die analysierten Daten "aus einer relativ gesunden Population von etwa 50.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen und waren nicht repräsentativ für die allgemeine Bevölkerung", erklärte Andrea Pacetti.

Darüber hinaus betonte sie, dass "nur eine kleine Anzahl während des Untersuchungszeitraums an Influenza erkrankte".

Die Studie lässt daher lediglich den Schluss zu, dass "die Wirksamkeit des Impfstoffs zur Vorbeugung der Grippe in dieser Saison bei relativ gesunden Beschäftigten im Gesundheitswesen möglicherweise begrenzt war".

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Ein Mitarbeiter hält am 5. September 2022 im Labor des französischen Pharmakonzerns Sanofi den Grippeimpfstoff "Vaxigrip Tetra". (AFP / LOU BENOIST)

Es sind auch mehrere einschränkende Faktoren dieser Studie zu beachten: So waren unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern keine Kinder und "nur sehr wenige ältere oder immungeschwächte Personen". Außerdem konzentrierte man sich ausschließlich auf Infektionsraten, ohne schwere Erkrankungen oder Krankenhausaufenthalte zu berücksichtigen, "die durch Impfstoffe seit jeher wirksam reduziert werden", wie Andrea Pacetti anmerkte.

Antoine Flahault wies außerdem darauf hin, dass es möglich sei, dass "geimpfte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufiger mit dem Virus in Kontakt kamen als nicht geimpfte Personen. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn Gesundheitspersonal mit engem Kontakt zu Patientinnen und Patienten in der geimpften Gruppe stärker vertreten war, während Verwaltungsangestellte häufiger in der nicht geimpften Gruppe waren."

Auch sei denkbar, dass "Personen, die sich ihrer Impfung bewusst waren, in diesem Jahr weniger Vorsichtsmaßnahmen gegen Grippe getroffen haben (wie etwa das Tragen einer Maske) als nicht geimpfte Personen."

Wie wirksam ist die Grippeimpfung?

"Die Grippeimpfung kann sehr wirksam sein, um den Schweregrad der Erkrankung zu verringern, Krankenhausaufenthalte zu verhindern und die Ausbreitung des Virus zu minimieren. Ihre Wirksamkeit kann jedoch je nach Virusstamm und individuellen Faktoren wie Alter und Vorerkrankungen variieren", erklärte Andrea Pacetti.

Tatsächlich werden Impfstoffe lange vor Beginn der Impfkampagnen hergestellt. Und zwar basierend auf Vorhersagen darüber, welche Virenstämme wahrscheinlich zirkulieren werden, und gemäß den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, WHO,  (hier archiviert).

"Diese Vorhersage wird während einer jährlich von der WHO organisierten Fachtagung getroffen: Im Februar für die folgende Wintersaison in der nördlichen Hemisphäre und im September für die südliche Hemisphäre", erläuterte Antoine Flahault.

Aufgrund dieses Herstellungsprozesses variiert die Wirksamkeit von Grippeimpfstoffen von Jahr zu Jahr. "Die im Impfstoff enthaltenen Antigene entsprechen den im Umlauf befindlichen Viren. Studien schätzen die Wirksamkeit je nach Saison und geimpften Personen auf 20 bis 80 Prozent," wird auf Infovac, einer Informationsseite über Impfstoffe, erklärt (hier archiviert).

In manchen Jahren können Fachleute die Vorhersagen falsch einschätzen, was dazu führt, dass ein Impfstoff nicht gegen den im folgenden Winter zirkulierenden Stamm wirkt, betonte Antoine Flahault.

"Impfstoffhersteller produzieren Impfstoffe auf der Grundlage der Empfehlungen der WHO, können jedoch – per Definition – die Wirksamkeit erst nach Beginn der Grippesaison beurteilen. Sie beschränken ihre Tests in der Regel auf Tierversuche (mit Frettchen) und führen Safety-Tests am Menschen durch, um die Verträglichkeit des Impfstoffs sicherzustellen. Die Wirksamkeit dieser saisonalen Impfstoffe bleibt jedoch bis zu ihrer Markteinführung ein blinder Fleck", erläuterte der Epidemiologe.

In den USA lag die Wirksamkeit der Grippeimpfung laut Daten des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) für die Saison 2021/22 bei 36 Prozent, für 2022/23 bei 30 Prozent und für die Saison 2023/24 bei 42 Prozent (hier archiviert).

Ende Februar 2025 sagte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde, die US Food and Drug Administration oder FDA, ihre jährliche Fachtagung zur Auswahl der Impfvirenstämme ab, wie AFP berichtete.

In der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) stellte der vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, oder ECDC, betriebene European Respiratory Virus Surveillance Summary (ERVISS) fest, dass die Atemwegsvirus-Saison 2024/25 durch eine "intensive Grippesaison" gekennzeichnet war. Die größten Auswirkungen in der Sekundärversorgung wurden bei Erwachsenen ab 45 Jahren verzeichnet.

Fazit: Behauptungen in sozialen Medien, wonach die Grippeimpfung laut einer US-amerikanischen Studie das Infektionsrisiko erhöhe, sind falsch. Die Studie legt keinen solchen Zusammenhang nahe, sondern stellt lediglich eine geringe Wirksamkeit der Grippeimpfung gegen die Infektion in diesem Jahr fest.

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