Die Polio-Impfkampagne im Gazastreifen rettet Kinderleben

Polio gilt eigentlich als ausgerottet, im Gazastreifen kam es zuletzt aber zu einem Ausbruch. Im September 2024 begann die Weltgesundheitsorganisation deshalb mit einer großangelegten Impfkampagne gegen Kinderlähmung. In sozialen Netzwerken kursierte daraufhin die Behauptung, die Impfung selbst sei für die Krankheit verantwortlich und Kinder würden durch eine Polio-Impfung "vergiftet". Das ist jedoch falsch, wie Expertinnen und Experten bestätigten: Die Impfung ist nach wie vor das beste Mittel, um Kinder vor der potenziell tödlichen Krankheit zu schützen. 

Im Rahmen einer umfassenden Impfkampagne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden Kinder im Gazastreifen ab dem 1. September 2024 gegen Polio geimpft. Begleitet wurde die Kampagne von zahlreichen impfskeptischen Beiträge in sozialen Medien: "Rund 159.000 Kinder wurden in Gaza gegen Polio geimpft! Waren die Bomben zu ungnau?", fragte ein X-Nutzer am 3. September 2024. Ein anderer X-Nutzer schrieb am 2. September 2024: "Beunruhigenderweise handelt es sich dabei um eine Art von Polio-Impfstoff, den die USA und andere Länder abgelehnt haben, weil er tatsächlich schwere Probleme, einschließlich Polio, verursachen kann."

Insbesondere die Verabreichungsform der Impfung als sogenannte Schluckimpfung wurde dabei als gefährlich eingeordnet: "Wer das als eine Art barmherzigen Akt ansieht, der sollte wissen das die Polio Impfung in Deutschland schon seit 1998 nicht mehr als Schluckimpfung verabreicht wird," schrieb eine Facebook-Nutzerin am 2. September 2024.

Ähnliche Aussagen darüber, dass der Polio-Impfstoff mehr schaden als nützen würde, wurden vielfach auf Facebook und Telegram verbreitet. Auch auf Englisch und Französisch kursierten vergleichbare Behauptungen tausendfach. 

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X-Screenshot der Behauptung: 12. September 2024

Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, ist eine hochansteckende Viruserkrankung, die laut WHO hauptsächlich Kinder unter fünf Jahren betrifft. Das Virus vermehrt sich im Darm. In einem von 200 Fällen befällt der Erreger das zentrale Nervensystem und führt zu irreversiblen Lähmungen, meistens in den Beinen. 

Nach Angaben des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI) begünstigen schlechte hygienische Verhältnisse die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen. Das Virus wird hauptsächlich fäkal-oral übertragen und kann zudem über kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel weitergegeben werden. Polioviren sind hochgradig ansteckend und können auch von Personen verbreitet werden, die keine Symptome aufweisen. Europa ist infolge einer hohen Durchimpfungsrate seit zwanzig Jahren poliofrei. 

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Überblick über die hochansteckende Viruserkrankung Polio (AFP / Gal ROMA, Kun TIAN, Jonathan WALTER, Thorsten EBERDING)

Im Gazastreifen galt die Krankheit seit 25 Jahren als ausgerottet, bis im August 2024 ein erster Fall bei einem ungeimpften Baby entdeckt wurde. Daraufhin begann die WHO eine großangelegte Impfkampagne mit dem Ziel, mindestens 90 Prozent aller Kinder zu impfen, was 640.000 entspricht. Laut Prognosen vom 12. September 2024 ist die WHO zuversichtlich, das Ziel zu erreichen, da in den ersten drei Impfrunden bereits 552.000 Kinder geimpft werden konnten. Das folgende AFP-Video fasst den Umfang der Impfkampagne zusammen:

(AFPTV / Youssef HASSOUNA)

"Dieses Virus verbreitet sich sehr schnell, weil es im Wasser zirkuliert. Polio-Infektionen verlaufen zudem meist symptomlos", sagte Maël Bessaud am 11. September 2024 gegenüber AFP. Der Virusexperte leitet das auf Enteroviren und Parechoviren spezialisierte Laboratorium, das zum nationalen Referenzzentrum Institut Pasteur in Frankreich gehört. "Im Gazastreifen ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser derzeit sehr kompliziert. Das mit dem Stuhl ausgeschiedene Virus kann in das Wasser gelangen, das andere Menschen trinken, und so infizieren sie sich mit dem Virus", unterstrich er den Ernst der Lage.

Unterscheidung verschiedener Poliotypen 

In den online kursierenden Behauptungen wurde der im Gazastreifen kursierende Virustyp als impfverschuldet bezeichnet. "Der Polio-Typ, der nun bekämpft wird, ist kein 'wild type' sondern Poliovirus type 2 (...) das es ohne IMPFSTOFFE gar nicht gäbe", schrieb ein Facebook-Nutzer am 3. September 2024. 

Laut RKI trifft es zu, dass nicht nur Wildpolioviren Infektionen auslösen können, sondern auch die in manchen Ländern zirkulierenden Impfstoff-abgeleiteten Polioviren (vaccine-derived poliovirus, VDPV). Bei früheren Versionen des Polioimpfstoffes als Schluckimpfung (oral polio vaccination, OPV) wurde ein abgeschwächter Lebendimpfstoff verwendet. Laut RKI hat die großflächige Verwendung der Schluckimpfung maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kinderlähmung in den meisten Regionen der Welt ausgerottet ist. Ein Rückgang aller Poliofälle um 99 Prozent seit 1988 war somit möglich, doch die vollständige Ausrottung der Poliomyelitis gestaltete sich als schwieriger als zunächst angenommen: Die Impfviren können mutieren und bei nicht ausreichendendem Impfschutz in der Bevölkerung zirkulieren. Jedoch ist es nicht der Impfstoff, der Kinder ansteckt.

Laut Maël Bessaud vom Institut Pasteur gab es im Jahr 2023 weltweit 12 bestätigte Fälle von Polio durch einen Wildpoliovirenstamm, gegenüber 471 durch Impfstoff-abgeleitete Polioviren. Doch dabei dürfe man nicht aus dem Blick verlieren, "dass wir von 400.000 Fällen von Infektionen durch wilde Stämme auf 12 zurückgegangen sind. Die Impfstämme, die früher in der Minderheit waren, sind zur Mehrheit geworden. Dennoch haben wir deutlich weniger Probleme, weil die wilden Stämme praktisch eliminiert wurden."

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Ein palästinensischer Krankenpfleger öffnet am 10. September 2024 in Gaza eine Polio-Impfstofflieferung (AFP / Omar AL-QATTAA)

Bei dem im August im Gazastreifen aufgetretenen Fall handelte es sich laut WHO um den Virusstamm VDPV 2, also um Impfstoff-abgeleitete Polioviren.

Für die Kampagne genutzter Impfstoff ist nicht "gefährlicher"

Die online kursierenden Behauptungen bezeichneten zudem die orale Verabreichungsform der Polioimpfung als gefährlich. Doch laut Polioexperte Bessaud sind diese Behauptungen unbegründet:

"Der Schluckimpfstoff, der lange verwendet wurde, wurde in den 1950er-Jahren hergestellt und ist ein Lebendimpfstoff," erklärte Polioexperte Maël Bessaud gegenüber AFP. Dabei wurden Kinder mit einer abgeschwächten Version des Virus infiziert, die ihr zentrales Nervensystem nicht erreichen konnte. So wurden die geimpften Kinder selbst nicht krank, aber ihre Exkremente, die das Virus trugen, konnten diese abgeschwächte Variante auf andere, nicht-geimpfte Personen übertragen. Nach mehrmaliger Übertragung auf andere nicht-geimpfte Personen hat dieser Prozess jedoch zu einer Mutation des Poliovirus geführt.

Laut Bessaud ist somit nicht der Schluckimpfstoff für die Virusmutationen verantwortlich. Vielmehr ist es die geringe Durchimpfungsrate, die diese genetischen Mutationen ermöglicht, wodurch das Virus erneut krankheitserregend werden kann. Dieses Phänomen ist äußerst selten, da die Häufigkeit solcher Fälle von Impfstoff-abgeleiteter Poliomyelitis auf einen Fall pro 2,7 Millionen Dosen des Schluckimpfstoffs geschätzt wird.

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Ärztinnen und Ärzte verabreichen Kindern in Gaza am 10. September 2024 einen Polio-Impfstoff (AFP / Omar AL-QATTAA)

Um das Risiko von neuen Poliovirustypen, die aus Impfstämmen stammen, zu begrenzen, wurden seit 2016 die verabreichten Schluckimpfstoffe modifiziert. Im Gazastreifen wird derzeit der neuartige orale Polioimpfstoff nOPV2 verimpft. "Der Impfstoff, den wir heute verwenden, ist nicht mehr der 1950 entwickelte, sondern eine Version, die genetisch stabilisiert wurde und bei der es normalerweise keine Reversion mehr gibt", erläuterte Bessaud.

Laut WHO unterbricht der Impfstoff die Übertragungskette des Polio-Variantentyps 2, der derzeit häufigsten Form des Poliovirus. "NOPV2 ist sicher und wirksam (...) Es ist der weltweit empfohlene Impfstoff bei Ausbrüchen des Polio-Variantenvirus Typ 2 – des Virustyps, der in den jüngsten Proben aus dem Gazastreifen gefunden wurde", heißt es auf der Website der WHO weiter. 

Unterschiedliche Polioimpfungen

Von der Ständigen Impfkommission (Stiko) wird in Deutschland seit 1998 eine Polioimpfung mit inaktiviertem Poliomyelitis-Impfstoff (IPV) per Injektion empfohlen. Im Gegensatz zu den oralen Schluckimpfstoffen enthält dieser Impfstoff keinen Lebendimpfstoff mehr. Im Jahr 2024 ist die IPV-Impfung laut RKI in ganz Europa Standard. Damit sind geimpften Personen zwar selbst vor der Krankheit geschützt, können das Virus aber immer noch übertragen. Der neue orale Lebendimpfstoff nOPV2 schließt diese Gefahr aus.

In akuten Krisensituationen mit unzureichender Wasserversorgung, wie es im Gazastreifen der Fall ist, fiel die Wahl daher auf den modifizierten oralen Impfstoff nOPV2. "Die Schluckimpfung ist im Gazastreifen derzeit unerlässlich, um das Poliovirus einzudämmen und letztlich auszurotten", schlussfolgerte Polioexperte Bessaud.

In anderen ärmeren Kontexten des Globalen Südens, in denen das Gesundheitssysteme nicht in der Lage ist, die Impfung aller Kinder durch Injektion zu gewährleisten, wird auch aus einem weiteren Grund eine Polioschluckimpfung empfohlen: Sie ist deutlich einfacher durchzuführen, womit eine hohe Durchimpfungsquote realistischer wird. Die Schluckimpfung besteht aus zwei Tropfen Impfstoff pro Dosis, die den Kindern auf die Zunge geträufelt werden. Üblicherweise werden zwei Impfdosen im Abstand von vier Wochen verabreicht. Dabei wird kein medizinisch geschultes Fachpersonal wie etwa bei einer Impfung per Injektion benötigt.

AFP hat in der Vergangenheit bereits mehrfach Falschbehauptungen überprüft, wonach Krankheitsausbrüche fälschlicherweise auf Impfstoffe geschoben wurden (hier, hier, hier). Alle veröffentlichten Faktenchecks zum Thema Gesundheit und Impfungen finden sich auf der AFP-Website. 

Fazit: Eine Impfung stellt nach wie vor den wirksamsten Schutz für Kinder vor der potenziell tödlichen Viruserkrankung Polio dar, erklärten Expertinnen und Experten gegenüber AFP. Die großangelegte Impfkampagne im Gazastreifen seit September 2024 wird mit einem modifizierten Schluckimpfstoff durchgeführt, der keine Virusmutationen auslöst. Entgegen online kursierender Falschbehauptungen schützt die Impfkampagne Kinder, anstatt sie zu gefährden.

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