Nein, es wurde keine Spitzenpolitikerin der Grünen bei Fake-Aufnahmen auf Lesbos erwischt

Seit dem 12. September verbreitet sich auf Facebook tausendfach die Behauptung, es gebe einen neuen "Skandal" rund um die Politikerin Katrin Göring-Eckardt. Demnach hat eine freie Journalistin die Fraktionsvorsitzende der Grünen dabei erwischt, wie sie auf Lesbos "mit Migranten Fake-Bilder für die Kameras" produziere. Diese Behauptung ist falsch. Die freie Journalistin legte bisher keinerlei belastendes Videomaterial zur angeblichen Bildinszenierung Eckardts vor – sie drohte der Politikerin lediglich mit Veröffentlichung von Aufnahmen, die sie zuvor auf einer Demonstration gemacht habe. 

Der angebliche "Skandal" verbreitet sich beispielsweise hier (2,5 Tsd. Shares), hier (3,4 Tsd. Shares) und hier (1,2 Tsd. Shares). Auch der Verschwörungsmythologe Attila Hildmann greift ihn in seiner 82.000 Mitglieder starken Telegramm-Gruppe mit auf.

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Screenshot vom 18.09.2020: Facebookvideo zeigt Katrin Göring-Eckardt in Kara Tepe.

Die Postings verwenden dabei ein ähnliches Vokabular, etwa die folgenden Sätze: "SKANDAL: Hochrangige Grünen-Politikerin produziert Fake-Bilder auf Lesbos! Als eine freie, deutsche Journalistin gerade über Migrantenaufstände auf Lesbos berichtet, sieht sie, wie eine Frau mit Migranten Fake-Bilder für die Kameras produziert. Als sie sie zu Rede stellt, stellt sich heraus: Die Frau ist die Fraktionsvorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt!"

Die meisten Beiträge verlinken ein Video der Filmemacherin Rebecca Sommer als Beleg – sie ist die in den Postings angeführte freiberufliche Journalistin. Im Video verfolgt Sommer Göring-Eckardt tatsächlich auf einer Straße und redet auf sie ein. Es sind die dabei gemachten verbalen Drohungen, die die Facebook-Nutzer zur vermeintlichen Überführung von Katrin Göring-Eckardt nutzen.

Sommer stellt Göring-Eckardt zur Rede in Bezug auf eine Szene mit einer flüchtenden Frau und einem kleinen Kind. Sie sagt: "Das die Frau, die da vorher so auf krank gemacht hat, gegangen ist, habe ich alles so auf Video und dann nur so getan hat als ob sie zusammenfällt (...) und die ganzen Bilder, die Sie aufgenommen haben, die habe ich auch aufgenommen, ich habe ganz genau gesehen, was passiert. Wenn Sie die falsch benutzen, zum Beispiel das kleine Kind oder die Frau, die da so auf halb tot gemacht hat aber danach wieder gelacht und gegangen ist, dann werden wir das auch veröffentlichen." Sommer sagt auch Sätze wie: "Sie nehmen die (Anm.d.Red. Flüchtenden) jetzt einfach so, (...) weil sie nämlich unser Land überschwemmen wollen."

AFP zeigt in diesem Artikel, dass die Filmemacherin sich in ihren Aussagen auf eine Demonstration von Flüchtenden bezieht, die am 11. September 2020 in der Nähe des neuen Geflüchtetenlagers Kara Tepe auf Lesbos stattfand. Dieses Lager dient als Zuflucht für Flüchtende, nachdem ein Feuer Anfang September das alte Lager in Moria zerstört hatte. Rund 12.000 Menschen mussten vor den Flammen flüchten.

Über die Aufnahme dieser Menschen aus Lesbos gibt es in Deutschland aktuell heftigen Streit. Die politische Rechte will jegliche Aufnahme stoppen, während die politische Linke darauf drängt, möglichst viele Menschen aus Lesbosaufzunehmen. Katrin Göring-Eckardt ist seit langem eine Befürworterin der Aufnahme von Flüchtenden.

Göring-Eckardt und Sommer trafen wirklich am Demo-Tag aufeinander

Sommers weit verbreiteter Clip, der Göring-Eckardt zeigt, ist nur Teil eines 15-minütigen Videos von einer Demonstration auf Lesbos. Sie veröffentlichte das Material am 12. September auf Youtube. Zuerst geteilt hat es die Facebook-Seite des ehemaligen Focus-Reporters Boris Reitschuster (hier). Sein Post wiederum verweist auf einen Bericht von Sommer auf seinem rechtslastigen Blog "Reitschuster" (hier).

AFP konnte Datum und Ort der Aufnahme bestätigen – dabei half der Abgleich von Sommers Video mit zusätzlichen Aufnahmen, die ein Kameramann der "Deutschen Welle" zur Verfügung gestellt hat. Die Aufnahmen aus Kara Tepe liegen AFP vor. 

Der Video-Vergleich zeigt deutlich: In beiden Videos ist die gleiche blaue Tür und die gleiche Konstellation von Polizeibussen zu sehen.

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Screenshot vom 21.09.2020: Im Video der "Deutschen Welle" sind Polizeiwagen hinter der Absperrung zu sehen.
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Screenshot vom 21.09.2020: Katrin Göring-Eckardt in Rebecca Sommers Video.

Politikerin und Filmemacherin trafen tatsächlich in der Nähe des Flüchtlingslagers Kara Tepe aufeinander, auf Mitilinis-Thermis auf Lesbos:

Bleibt die Frage nach den angeblichen gefälschten Bildern durch Göring-Eckardt, die – laut Facebook-Postings – von Sommer, der Journalistin, bezeugt wird?

1. Ertappt Sommer Göring-Eckardt in ihrem Video auf frischer Tat

AFP hat das gesamte Video von Sommer gesichtet: Es zeigt zwar zahlreiche Personen, die den Protest filmen – etwa Journalisten und Aktivisten – die Aufnahmen liefern aber keinen Beweis dafür, dass Göring-Eckardt Bilder für die Kameras gestellt hat.

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Screenshot vom 21.09.2020: Sommer zeigt in ihrem Video Katrin Göring-Eckardt nur einmal auf der Demonstration.

Auch behauptet Sommer in ihrem Video nicht einmal selbst, dass die Grünen-Politikerin Bilder inszeniert habe. Die Filmemacherin warnt Göring-Eckardt lediglich: "Wenn Sie die (Bilder von der Demo) falsch benutzen (...), dann werden wir das auch veröffentlichen." Hierbei handelt es sich um eine Drohung und keinen Beweis dafür, dass Göring-Eckardt in flagranti erwischt wurde. Genau das behaupten aber die Facebook-Posts.

Das Team von Göring-Eckardt hat während der Proteste gefilmt. Die Grünen haben ihre Aufnahmen von Lesbos auf ihren Social-Auftritten veröffentlicht (hier, hier und hier). Diese Bilder griff auch die ZDF-Talkshow von Markus Lanz auf (hier).

Sommer überführt bzw. filmt Göring-Eckardt an keiner Stelle ihres Videos dabei, wie sie gefälschte Bilder mit Migranten für die Kamera produziert. Dennoch bezieht sich Sommer in ihrer Drohung gegenüber Eckardt auf ein kleines Kind und eine eigentlich ohnmächtige Frau, die plötzlich wieder laufen konnte. Was hat es damit auf sich?

2. Das kleine Kind 

Tatsächlich hat Sommer während der Demo ein Kleinkind gefilmt. In der Aufnahme hält es ein Mann für die Kameras in die Höhe (08:24). Man hört dazu ihre Erklärung: "Der hat jetzt gesehen, dass ich sehen wollte, dass er das Kind hochhält. Das hat er schon für die ganzen anderen Fotografen gemacht."

Auch ein AFP-Fotograf fotografierte den flüchtenden Mann mit dem kleinen Kind. Man kann sicher darüber streiten, ob der Mann sich und das Kind inszeniert, um auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Göring-Eckardt ist jedenfalls zu keinem Zeitpunkt in Sommers Video mit ihm oder dem Kind zu sehen.

3.  Sommer sah zwei ohnmächtige Frauen, die wieder gehen können

Gegenüber Göring-Eckardt erwähnt Sommer nur eine einzige Frau. In ihrem Video und in ihrem dazugehörigen Blog-Artikel behauptet die Filmemacherin allerdings, zwei verschiedene Frauen gesehen zu haben. Beide hätten demnach nur eine Ohnmacht simuliert.

Während Sommer die Demo filmt, hört man sie sagen: "Oh, da kommt die Nächste, so macht man das also, man erzeugt falsche Bilder, erst kann sie normal gehen und plötzlich stirbt sie fast." Die Filmemacherin wiederholt diese Behauptung mehrfach, teilweise so laut, dass man sie sogar im Filmmaterial der DW hören kann, das AFP vorliegt.

In ihrem Blog-Artikel beschreibt Sommer später: "Dann wird die alte Frau wieder zurück in die Masse getragen, wo sie dann wieder aufrecht geht und mit erhobenen Fäusten andere animiert, weiter zu demonstrieren." Die Filmemacherin kommentiert danach : "Eine neue Show, dieses Mal eine jüngere Frau. Die selbe Nummer, sie wird getragen, lautes Geschrei, großer Tumult, Rettungswagen."

Diese Szenen sind in Wahrheit allerdings anders abgelaufen, als Sommer sie beschreibt. Im Video-Vergleich mit dem Filmmaterial der "Deutschen Welle" stellte sich heraus, dass nicht zwei Frauen in Ohnmacht fielen, wie von Sommer behauptet, sondern eine – und diese Frau ist zu keinem Zeitpunkt in  Sommers Aufnahmen wieder aufrecht gegangen.

Auf den beiden folgenden Screenshots ist dasselbe weinende Kind mit rotem Shirt zu sehen. Das beweist, dass die "Deutsche Welle" als auch Sommer dieselbe Situation gefilmt haben. Sommer allerdings verliert die ohnmächtige junge Frau mit blauem Kopftuch – zumindest in ihren Aufnahmen – aus den Augen. Der DW-Kameramann verfolgt in einer näheren Aufnahme, wie zwei Männer sie durch die Menge erst weiter nach hinten und dann wieder nach vorne tragen.

Genau in dem Moment aber, indem die Frau für einen Moment aus ihren Aufnahmen verschwindet, erklärt Sommer laut hinter der Kamera: "Eine Farce ist das, sie kann gehen". Das aber stimmt überhaupt nicht. 

Auch kommt anschließend keine andere Frau aus dere Menschenmenge, wie Sommer behauptet, sondern dieselbe junge Frau mit blauem Kopftuch  – und zwar weiterhin von zwei Männern getragen.

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Screenshot vom 21.09.2020: Im Video von Rebecca Sommer ist die getragene Frau für einige Zeit nicht zu sehen.
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Screenshot vom 21.09.2020: Im Video der "Deutschen Welle" ist die getragene Frau immer zu sehen.

Am Ende der DW-Filmaufnahmen bringt ein griechischer Sanitäter die junge Frau hinter die Polizeiblockade, wo er sie mit Hilfe eines Kollegen auf eine Bahre legt und zu einem Krankenwagen fährt. Weder streckt diese Frau zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Faust in die Luft, wie Sommer behauptet, noch kann sie wieder von alleine laufen.

 

4. Der merkwürdige Schnitt zu Sommers falscher "Zwei Frauen"-Behauptung

Es gibt einen seltsamen Schnitt in Sommers Video. Die Filmemacherin hat ihn bei Minute 06:19 gesetzt – wiederum genau in der Szene, in der die Männer die Frau mit blauem Kopftuch wegtragen. Aufgrund dieses Schnitts springt das Bild.  Dort, wo eben noch die jüngere Frau ohnmächtig in den Armen der Männer zu sehen war, ist stattdessen auf einmal eine ältere Frau mit beigen Kopftuch zu sehen. Dieser Schnitt macht es den Zuschauenden erheblich schwerer, den Überblick in der sich bewegenden Menschenmenge zu behalten.

Kombiniert mit Sommers hörbaren Einwänden hinter der Kamera: "Das ist eine Farce", "Sie kann gehen" und schließlich "Da ist die Nächste" – kann bei Zuschauenden der Eindruck entstehen, dass tatsächliche eine Frau geht, die vorher getragen wurde. So hat sich diese Szene aber in der Realität gar nicht abgespielt.

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Screenshot vom 21.09.2020: Das letzte Bild (links) vor und das erste Bild (rechts) nach dem Schnitt aus Sommers Video.

5. Das "zusammengepresste" Gesicht

Ein weiteres Indiz, das Sommer für die angebliche Inszenierung der Ohnmacht einbringt: Die Frau habe ihr Gesicht jedesmal zusammengepresst, wenn die umstehenden Männer ihr Wasser über den Kopf schütteten. "Es wird Wind gefächert, es wird Wasser auf die Scheinohnmächtige gegossen. Dass sie dabei jedesmal ihr Gesicht zusammenpresst, vom Wasser getroffen, sieht man nur im Video, auf den Fotos . . .nicht!", schreibt Sommer.

AFP kann nicht herausfinden, ob die Frau mit dem blauen Kopftuch ihre Ohnmacht nur vorspielte. In den Aufnahmen der "Deutschen Welle" ist sie zwischenzeitlich mit offenen Augen liegend zu sehen. Bundesarzt Prof. Peter Sefrin vom Deutschen Roten Kreuz hat sich die Szene für AFP angeschaut. Er schrieb dazu in einer Mail: "Man kann anhand des Videos keine verlässlichen Aussagen machen, schon gar nicht darüber, ob die Bewusstlosigkeit "gespielt" wird oder nicht". Weiter erklärte er: "Die Ohnmacht ist eine kurze Bewusstlosigkeit und dauert nur wenige Minuten an."

Auch in diesem Fall: Göring-Eckardt ist in keiner der Aufnahmen mit der Ohnmächtigen zu sehen. In einem Telefongespräch mit AFP sagt der Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen: "Der Kameramann des Teams von Göring-Eckardt hat zu keinem Zeitpunkt eine ohnmächtige Frau gefilmt."

Fazit

Es gibt keine gefilmten Beweise dafür, dass Sommer die Grünen-Politikerin Göring-Eckardt bei der Produktion von Fake-Bildern überführt hat. Die Facebook-Posts, die das behaupten, sind falsch. Auch die Szenen aus Sommers Material, die als Grundlage für Fake-Bilder dienen könnten, liefen anders ab, als es die Filmemacherin es darstellt. 

AFP hat Sommer um zusätzliches Videomaterial gebeten. Auch fragte AFP nach einem Grund für den irreführenden Schnitt in Sommers Youtube-Video, durch den eine ohnmächtige Frau wieder zu laufen scheint. Bis zur Veröffentlichung des Faktenchecks am 24. September 2020 blieben alle Anfragen unbeantwortet.

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