Studienautor dementiert: Diese Havard-Studie belegt nicht die Wirkungslosigkeit von Corona-Impfungen
Hunderte User auf Facebook und Tausende auf Telegram haben die Studie eines Harvard-Forschers geteilt, die vermeintlich die Nutzlosigkeit von Impfungen zeigt. Der Verfasser der Studie versicherte aber gegenüber AFP: Seine Arbeit lasse einen solchen Schluss nicht zu. Diese bestätige vielmehr die entscheidende Bedeutung von Impfstoffen.
Dutzende Nutzerinnen und Nutzer haben die Behauptungen zur Studie auf Facebook geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram sahen ebenfalls Zehntausende einen entsprechenden Beitrag (hier, hier). Zuvor hatten sie auch diverse für Anti-Impf-Positionen stehende Blogs aufgegriffen (hier, hier, hier).
Die Falschbehauptung: Die Studie eines Harvard-Forschers soll zeigen, dass in Ländern mit niedriger Corona-Impfrate weniger Covid-19-Fälle auftreten als in Ländern mit vollständiger Impfung. Umgekehrt gebe es auch in Ländern mit hoher Impfquote trotzdem viele Corona-Infektionen. Impfkritische Blogs schlussfolgern, die Impfstoffe seien nutzlos oder würden sogar Menschen schaden. Es scheine, dass der Impfung kein positiver Effekt zur "Nicht-Infektion mit Covid-19" zugeschrieben werden könne, heißt es etwa.

Woher stammt die Studie?
Bei der Veröffentlichung in dem Fachmagazin "European Journal of Epidemiology" handelt es sich um eine sogenannte "Korrespondenz", eine Art kurze Mitteilung, welche Ergebnisse von Studien vorstellt oder Themen erörtert. Ein traditioneller Forschungsartikel hingegen ist in der Regel detaillierter.
Unterzeichnet ist die Korrespondenz von zwei Autoren: Zum einen S. V. Subramanian, Professor für Bevölkerungsgesundheit und Geographie an der renommierten US-Universität Harvard, und Akhil Kumar, welcher im Artikel der Turner Fenton Secondary School, einer High School im kanadischen Brampton, zugeordnet wird.
Auf AFP-Anfrage bestätigte die Schule am 12. Oktober per E-Mail, dass Kumar tatsächlich Schüler in Brampton sei. Auch Subramanian erklärte gegenüber AFP am 14. Oktober in einer Mail: "Akhil Kumar ist ein Highschool-Schüler und Praktikant in Harvard am Center for Analysis in Geography".
Der Chefredakteur der epidemiologischen Fachzeitschrift, Dr. Albert Hofman, teilte auf AFP-Anfrage am 12. Oktober mit, die Veröffentlichung sei bereits einem Peer-Review-Verfahren, also einer Begutachtung durch weitere Expertinnen und Experten des Fachgebiets, unterzogen worden.
Worum geht es in der Korrespondenz?
Zu Beginn erläutern die Artikel-Autoren: "Wir untersuchen den Zusammenhang zwischen dem prozentualen Anteil der vollständig geimpften Bevölkerung und neuen COVID-19-Fällen in 68 Ländern und in 2947 Bezirken in den USA."
Die dafür verwendeten Daten stammen demnach aus der online zugänglichen Datenbank Our World in Data, welche der Universität Oxford in Großbritannien angegliedert ist, sowie einer Datenbank des Weißen Hauses, des Amtssitzes des US-Präsidenten.
Nach Untersuchung der Daten schlussfolgern die beiden Autoren, dass auf Länderebene in den "vergangenen sieben Tagen" kein Zusammenhang zwischen dem Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung und neu verzeichneten Covid-19-Fällen erkennbar sei.
Des Weiteren heißt es: "Tatsächlich deutet die Trendlinie auf einen geringfügig positiven Zusammenhang hin, sodass Länder mit einem höheren Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung mehr Covid-19-Fälle pro 1 Million Einwohner aufweisen".
Auf US-Ebene machten sie weitgehend ähnliche Beobachtungen. "Es scheint auch keine signifikanten Anzeichen dafür zu geben, dass die Covid-19-Fälle mit einem höheren Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung abnehmen."
Zur Interpretation ihrer Ergebnisse schreiben die Autoren, das "alleinige Vertrauen auf die Impfung als primäre Strategie zur Begrenzung von Covid-19 und seiner Folgen" sollte überdacht werden. "Andere pharmakologische und nicht-pharmakologische Interventionen sollten vermutlich parallel zur Impfung durchgeführt werden", heißt es weiter. Die Bevölkerung solle zwar weiterhin zur Impfung ermutigt werden. Dies solle aber mit Demut und Respekt geschehen.
Diese Schlussfolgerungen der Autoren bekräftigen die Notwendigkeit der Impfung und stimmen außerdem auch mit dem überein, was Behörden und Forschende seit Monaten erklären. Die Impfung müsse mit anderen Maßnahmen wie dem Einhalten von Hygieneregeln einhergehen. Vor allem, da das Virus in einer Bevölkerung zirkuliere, die noch nicht komplett geimpft sei. Eine Wirksamkeit von 100 Prozent sei ebenfalls nicht gegeben.
Zu den aktuellen Corona-Schutzmaßnahmen schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: "Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Insbesondere Virusvarianten bereiten Sorge. Um sich und andere zu schützen, beachten Sie daher weiterhin die AHA+L+A-Formel." Dazu gehören das Abstandhalten, gründliches Händewaschen, das Tragen einer Maske, regelmäßiges Lüften und das Führen eines Kontakt-Tagebuchs.
Diese Maßnahmen gelten auch für geimpfte Menschen. Die BZgA erläutert, auch für Geimpfte und Genesene bestehe ein Restrisiko einer Infektion. “Daher sollten alle weiterhin vorsichtig bleiben, insbesondere wenn in der Öffentlichkeit viele Menschen zusammenkommen”. Auch Geimpfte und Genesene sollten die AHA+L+A-Formel einhalten.
Zur Sinnhaftigkeit der Maßnahmen schreibt das RKI: "Aufgrund der hohen Übertragbarkeit und der Tatsache, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung noch keinerlei Immunschutz gegen das Virus hat, kann es rasch zu hohen Fallzahlen mit schweren Erkrankungen, Todesfällen und einer Belastung des Gesundheitswesens kommen. Darüber hinaus können neue Virus-Varianten entstehen."
Gegenüber AFP erklärte Subramanian am 14. Oktober in einer E-Mail, seine Arbeit zeige keineswegs, dass Impfungen unwirksam oder unnötig seien, im Gegenteil:
Andere Studien hätten bereits klar und deutlich bewiesen, dass die Impfung das Risiko von Krankenhausaufenthalten und die Sterblichkeitsrate deutlich senkt und zweifellos ein wichtiger Bestandteil unserer Strategie gegen Covid sei, betonte Subramanian.
Zahlreiche Variablen wurden nicht berücksichtigt
Aufgrund der Methodik der Untersuchung ist der Umfang der Arbeit außerdem begrenzt, wie Subramanian einräumt. So enthalte die Studie Daten aus Ländern, die sich in Bezug auf Größe, Bevölkerung und Dichte stark unterscheiden oder die in unterschiedlichem Maße und zu unterschiedlichen Zeiten von Covid betroffen waren. Auch die US-Bezirke unterscheiden sich in geringerem Maße in Bezug auf Dichte, Wohlstand, Klima und Dynamik der Epidemie.
In der Arbeit wurden ebenso Länder auf der Nordhalbkugel zur Sommerzeit, wie auch auf der Südhalbkugel zur Winterzeit untersucht. Die beobachteten Länder verfügen zudem nicht über die gleichen Möglichkeiten der Datenerfassung, etwa aufgrund wirtschaftlicher oder gesundheitspolitischer Unterschiede. Auch die Impfquoten unterscheiden sich teils enorm. So liegt diese beispielsweise in Kenia bei 1,47 Prozent und in den Vereinigten Arabischen Emiraten bei über 76 Prozent. Darüber hinaus arbeiten nicht alle Staaten mit den gleichen Impfstoffen und haben nicht von ähnlich strengen Maßnahmen Gebrauch gemacht.
Zu diesen Unterschieden erklärte Subramanian: "Wir haben (in dem Artikel) darauf hinweisen, dass dies eine Einschränkung ist". Genau deshalb seien die Ergebnisse nicht überinterpretiert und hauptsächlich beschrieben worden.
Der Epidemiologe Mahmoud Zureik, Direktor der Forschungsgruppe Epi-Phare und Autor einer Studie über die Wirksamkeit von Impfstoffen (siehe hier), erklärte in einem AFP-Interview vom 13. Oktober, es sei "undenkbar, die Zirkulation des Virus nicht zu berücksichtigen", die von Land zu Land sehr unterschiedlich sei.
Auch der Epidemiologe Thibault Fiolet (Institut Inserm/Gustave Roussy) bestätigte gegenüber AFP, aus der Studie seien keine wirklichen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Zunächst handele es sich um eine sogenannte ökologisch-epidemiologische Studie, bei welcher Daten auf Ebene einer Bevölkerung erhoben werden - nicht um die Untersuchung individueller Daten. Die Beweiskraft der Studie sei geringer als bei anderen epidemiologischen Studien mit individuellen Daten (klinische Studien, Kohorten- und Fallkontrollstudien usw.), erklärt Fiolet.
In diesem Dokument des Inserm, einer Forschungseinrichtung des französischen Gesundheitsministeriums, sind Definitionen für verschiedene Arten von epidemiologischen Studien enthalten.
Als "problematischer Punkt" wird dort das "Risiko eines ökologischen Fehlers" benannt, wenn "aus den Ergebnissen aggregierter Daten unzulässigerweise Rückschlüsse auf Einzelpersonen gezogen werden". Dies treffe zu, wenn fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass die in einer Bevölkerung gemachte Beobachtung für jedes einzelne Individuum in dieser Population gilt. Thibault Fiolet erläuterte gegenüber AFP, es könnte demnach nicht geschlussfolgert werden, dass Impfstoffe nutzlos sind.
"Diese Art der vereinfachten Analyse ist nicht geeignet, um die Störfaktoren zu berücksichtigen", erklärt Fiolet weiter. Dies seien z. B. der Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Tatsache, bereits einmal infiziert worden zu sein, ein vorsichtigeres Verhalten, die Bevölkerungsdichte oder der Gesundheitszustand. Alle diese Faktoren könnten die Tatsache beeinflussen, geimpft zu sein, und die Tatsache, dem Virus ausgesetzt zu sein.
Infektionszahlen mit begrenzter Aussagekraft
Die von Subramanian und Kumar verwendete Zahl der neuen Covid-19-Fälle ist zudem von zahlreichen Faktoren, wie dem Zugang und Qualität bei Tests oder Zuverlässigkeit der Daten abhängig. Internationale Vergleiche sind daher besonders gefährlich.
Wie Wissenschaftler, Behörden und Hersteller seit Monaten erklären, schützen die Impfstoffe vor allem vor schweren Verläufen von Covid-19, weniger vor der Entwicklung von Symptomen und der Übertragung des Virus.
Die Zahl der neuen Fälle ist daher nicht unbedingt der wichtigste Indikator. Die Zahl der Neuerkrankungen kann wieder ansteigen, ohne dass es zu einem entsprechenden Anstieg der schweren Fälle und Todesfälle kommt, wie bereits in diesem Faktencheck besprochen.
Steigende Infektionszahlen können zudem durch andere Faktoren als die vermeintliche Wirkungslosigkeit der Impfstoffe erklärt werden: Delta-Variante, Abnahme des Impfschutzes in einigen früh geimpften Bevölkerungsgruppen, Aufhebung von Beschränkungen usw.
Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit der Impfstoffe
"Um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu bewerten, sind Beobachtungsstudien und gut durchgeführte klinische Studien erforderlich", unterstreicht Thibault Fiolet.
Am 11. Oktober bestätigte eine groß angelegte französische Studie, was andere bereits angedeutet hatten: "Alle Impfstoffe gegen Covid-19 sind hochwirksam und haben eine große Auswirkung auf die Verringerung des Risikos schwerer Formen von Covid-19 bei Personen über 50 Jahren in Frankreich", so die Organisation Epi-Phare.
Epi-Phare-Direktor Mahmoud Zureik erklärte am 11. Oktober gegenüber AFP:
Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, verglichen die Forscher die Daten von 11 Millionen geimpften Personen über 50 Jahren mit denen von 11 Millionen nicht geimpften Personen derselben Altersgruppe im Zeitraum vom 27. Dezember 2020 (Beginn der Impfung in Frankreich) bis zum 20. Juli dieses Jahres, wie es in diesem AFP-Bericht heißt.
Laut einem am 23. September 2021 veröffentlichten Covid-19-Impfstoff-Überwachungsbericht von Public Health England deuten die jüngsten Schätzungen darauf hin, "dass durch das Impfprogramm über 230.800 Krankenhausaufenthalte direkt verhindert wurden" und ebenso "zwischen 23,7 und 24,1 Millionen Infektionen und zwischen 119.500 und 126.800 Todesfälle" verhindert werden konnten.
Auch das RKI hat sich mit der Wirksamkeit der Corona-Impfungen ausführlich befasst. Sowohl Vektor-Impfstoffe als auch mRNA-Impfstoffe bieten demnach einen hohen Schutz gegen Infektion und schwere Erkrankungen.
Eine Studie der Universität von Indiana und der Rand Corporation, die am 18. August 2021 in der Zeitschrift "Health Affairs" veröffentlicht wurde, schätzt zudem, dass die Impfung bis Mai 2021 fast 140.000 Todesfälle in den Vereinigten Staaten verhindert habe. Eine weitere, im Juli 2021 veröffentlichte Studie unter der Leitung der Yale School of Public Health kommt zu dem Ergebnis, dass "die koordinierte und schnelle COVID-19-Impfkampagne, die Ende letzten Jahres in den Vereinigten Staaten gestartet wurde, etwa 279.000 Leben gerettet und 1,25 Millionen Krankenhausaufenthalte verhindert hat."
Fazit: Die verbreitete Studie belegt keine Unwirksamkeit der Corona-Impfstoffe. Zahlreiche Variablen, wie die unterschiedlichen Impfkampagnen, gesundheitspolitische Umstände und unterschiedliche Datenerfassung wurden nicht berücksichtigt. Das bestätigen auch die Autoren der Veröffentlichung selbst. Mehrere groß angelegte Studien bestätigen hingegen die Wirksamkeit der Impfstoffe.