Studie über die Entwicklung der Erdtemperatur wird fehlinterpretiert
- Veröffentlicht am 28. Januar 2025 um 16:40
- 8 Minuten Lesezeit
- Von: Alexis ORSINI, AFP Frankreich
- Übersetzung: Johanna LEHN , AFP Deutschland
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"PAUKENSCHLAG – Die Fachzeitschrift Science liefert den Beweis: Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel!", war Ende Dezember 2024 in zahlreichen Beiträgen auf Facebook zu lesen. Dazu teilten Nutzerinnen und Nutzer einen Artikel der schweizerischen Verschwörungswebsite "legitim", der in der genannten Studie einen Beweis dafür sehen will, dass der Mensch nicht für den Klimawandel verantwortlich ist. Auch auf Französisch wird diese Behauptung verbreitet.
Die Behauptung ist jedoch irreführend. Die Beiträge und der Artikel beziehen sich auf eine englischsprachige Studie (hier archiviert), die im September 2024 in der renommierten Fachzeitschrift "Science" erschienen ist.
Sie trägt den Titel "A 485-million-year history of Earth's surface temperature" (zu Deutsch: "Eine 485 Millionen Jahre lange Geschichte der Oberflächentemperatur der Erde"). Die wissenschaftliche Arbeit wurde geleitet von Emily Judd, Forscherin für Paläoklimatologie (Erforschung vergangener Klimazonen) am Smithsonian Museum of Natural History im US-amerikanischen Washington D.C., und Jessica Tierney, Professorin für Paläoklimatologie an der University of Arizona.
Nutzerinnen und Nutzer verbreiteten diese Studie als angeblichen Beweis für ihre Argumentation, dass die derzeitige globale Erhitzung alles andere als alarmierend und nicht menschengemacht sei, da die Erde in den vergangenen Millionen Jahren eine Reihe von natürlichen Temperaturschwankungen erlebt habe. Tatsächlich zeigt die wissenschaftliche Studie jedoch, mit welcher Geschwindigkeit die anthropogene, also vom Menschen verursachte Erhitzung der Erde voranschreitet.
Studienautorin: Geschwindigkeit der Erhitzung ist ein Problem
Dass die Studie in sozialen Medien in einem irreführenden Kontext verbreitet wurde, bestätigte die Studienautorin Jessica Tierney gegenüber AFP am 13. Januar 2025. "Im Kontext der vergangenen 500 Millionen Jahre ist die heutige Zeit relativ kalt, aber nicht ungewöhnlich kalt", erklärte sie. Das bedeute allerdings nicht, "dass die derzeitige, vom Menschen verursachte Erwärmung kein Problem darstellt". Das Problem sei die Geschwindigkeit, mit der diese Erhitzung vonstattengehe. "Sie ist so schnell, dass sich die Menschen und die anderen Lebensformen, mit denen wir diesen Planeten teilen, nicht daran anpassen können", führte Tierney aus.
Gilles Delaygue, Dozent an der französischen Université Grenoble-Alpes und Spezialist für die Rekonstruktion des Klimas, widersprach der Behauptung ebenfalls. Auf AFP-Anfrage erklärte er am 6. Januar 2025: "Das Problem der gegenwärtigen Erwärmung ist ihre Geschwindigkeit, die weit über die Anpassungsfähigkeit der lebenden Organismen hinausgeht." Die zitierte Studie "befasst sich mit Zeitskalen von mehr als einer Million Jahren, die für die aktuelle Erwärmung völlig irrelevant sind", so Delaygue. Die Aussage, die die Facebook-Beiträge machen würden, wonach wir "'trotz des sehr bescheidenen Temperaturanstiegs'" in einer kalten Epoche leben würden, sei "richtig. Daraus könne man allerdings nicht schließen, dass dieser 'sehr bescheidene' Anstieg keine bedeutenden Auswirkungen habe".
Eine seltene, aber nicht beispiellose Kälteperiode
Laut eigener Beschreibung will die Studie herausfinden, wie sich die "globale durchschnittliche Oberflächentemperatur während der vergangenen halben Milliarde Jahre" verändert hat. Dabei konzentriert sie sich speziell auf eine der vier großen geologischen Perioden in der Erdgeschichte, das Phanerozoikum.
Im E-Learning-Projekt Geowiki der Ludwig-Maximilians-Universität München wird das Phanerozoikum als Zeitabschnitt bezeichnet, der "vor 541 Millionen Jahren begann und bis heute andauert". Während dieser Periode "entwickelte sich das Leben, bevölkerte es die Erde und erlebte mehrere Massenaussterben", heißt es in der Pressemitteilung der University of Arizona zu der Studie von September 2024.
Im Zentrum der Studie steht eine Temperaturkurve, die durch die Kombination von bekannten geologischen Daten und Klimamodellen nach einer Methode erstellt wurde, die üblicherweise für Wettervorhersagen eingesetzt wird. An der Kurve lässt sich erkennen, dass die globale durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde in diesem langen Zeitraum vielen Schwankungen unterworfen war, die von 11 bis 36 Grad Celsius reichten.
Die schnellste Erhitzung in der geologischen Geschichte
Der "Science"-Studie zufolge ist die schnelle Erderhitzung besonders gefährlich für die Menschheit, die "hauptsächlich in einem globalen Temperaturbereich um -12 Grad Celsius gelebt hat, verglichen mit dem Temperaturbereich um 7 Grad Celsius in den vergangenen 485 Millionen Jahren".
"Unsere Spezies hat sich in einem eiszeitlichen Klima entwickelt, das den Kern der geologischen Geschichte nicht widerspiegelt", wird Co-Autorin Tierney in der Pressemitteilung zitiert. "Wir sind dabei, das Klima auf eine Weise zu verändern, die für Menschen völlig ungeeignet ist." Zwar könne die Erde wärmer sein und sei es in der Geschichte auch gewesen, "aber Menschen und Tiere können sich nicht so schnell anpassen", so die Professorin weiter.
Die Studienergebnisse "zeigen auch, dass die aktuelle globale Temperatur von 15 Grad Celsius kälter ist als die Temperatur, die während des größten Teils des Phanerozoikums herrschte", heißt es in der Pressemitteilung weiter. "Aber die Treibhausgasemissionen der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erhitzen den Planeten derzeit viel schneller als die schnellsten Erwärmungsepisoden des Phanerozoikums", so Tierney. Gegenüber AFP präzisierte sie, dass sich die Menschheit in einem kalten Klima entwickelt hätte und "wir uns heute außerhalb dessen befinden". Das sei "sehr beunruhigend".
Sie betonte daher, dass ihre Studie die beispiellose Geschwindigkeit der gegenwärtigen globalen Erhitzung bestätigt: Der Temperaturanstieg der vergangenen 150 Jahre "ist nicht geringfügig". Ganz im Gegenteil: Der aktuelle Temperaturanstieg, "der auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist, ist schneller als jeder andere, der in der geologischen Vergangenheit bekannt war", erklärte Tierney. "Dieser Anstieg ist aufgrund der massiven Menge an CO2-Emissionen durch den Menschen so rasant."
Wissenschaftlicher Konsens über Ursache der Erderhitzung
Wie AFP in einem französischsprachigen Faktencheck zu einer Falschbehauptung über den Zusammenhang zwischen CO2 und der Erderhitzung erläuterte, ist CO2 ein sogenanntes natürliches Gas wie beispielsweise Wasserdampf. Es existierte bereits in der Atmosphäre, bevor sich der Mensch überhaupt entwickelte. Auch der menschliche Organismus braucht dieses Gas: "Wenn wir atmen, atmen wir Sauerstoff ein und setzen CO2 frei", bestätigte der Forschungsdirektor an der französischen Elitehochschule École normale supérieure (ENS) sowie Kohlenstoff- und Klimaexperte Pierre Friedlingstein gegenüber AFP damals.
CO2 ist also an sich nicht gefährlich. Wenn dessen Konzentration in der Atmosphäre jedoch hoch ist, trägt es ebenso wie die weiteren Treibhausgase Methan oder Lachgas zur globalen Erhitzung bei.
Wie AFP in einem weiteren französischsprachigen Faktencheck im Mai 2023 bereits erläuterte, ist die Menge an Kohlendioxid in der Atmosphäre durch menschliche Aktivitäten seit Beginn des Industriezeitalters im 18. Jahrhundert um etwa 50 Prozent gestiegen, was zu einer Verstärkung des Treibhauseffekts geführt hat. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass der Mensch für die gegenwärtige globale Erhitzung verantwortlich ist.
Die Berichte des Weltklimarats (IPCC) sind zum Standardwerk zu diesem Thema geworden. Sie fassen regelmäßig die Erkenntnisse der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zusammen, indem sie die veröffentlichten Studien zum Klimawandel analysieren. Die Prognosen werden von Bericht zu Bericht verfeinert, da auch die Instrumente zur Erforschung des Klimas immer besser werden.
Der sechste Sachstandsbericht des Rats von August 2021 betonte allein in der Gruppe I (2400 Seiten), die mehr als 14.000 Studien bearbeitet hat, gleich zu Beginn den "eindeutigen" Charakter der Erhitzung, die durch "menschliche Aktivitäten" verursacht wird. Demnach hat sich die Erde bis 2020 im Vergleich zum Zeitraum 1850 bis 1900 um 1,1 Grad Celsius erhitzt. Ein sehr kleiner Teil davon war auf die natürliche Klimavariabilität zurückzuführen (zwischen -0,23 und +0,23 Grad Celsius). Der Rest wurde durch menschliche Aktivitäten verursacht (Seite 517 des Berichts der Gruppe I). Diese globale Erhitzung dürfte bereits in den frühen 2030er-Jahren 1,5 Grad Celsius erreichen.
Die CO2-Konzentrationen – die Hauptquelle der vom Menschen verursachten Erhitzung – haben Werte erreicht, die in den vergangenen 14 bis 16 Millionen Jahren noch nie auf der Erde gemessen wurden. Anhand von sechs Datensätzen, die unter anderem von Regierungsbehörden stammen, lässt sich der daraus resultierende Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur verfolgen.
Wie Bärbel Hönisch, Professorin am Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia University in New York City, im September 2024 gegenüber AFP erklärte, steige die CO2-Konzentration "heute in einem Tempo, das möglicherweise höher ist als je zuvor in den geologischen Archiven" aufgezeichnet wurde. Das trage "zum Treibhauseffekt bei und erwärmt unseren Planeten", erinnerte sie.
Verwechslung von natürlichen und menschengemachten Klimaschwankungen
Die Tatsache, dass Klimaschwankungen bereits vor Jahrtausenden beobachtet wurden, schon bevor sich der Mensch entwickelt hatte, veranlasste einige Internetnutzerinnen und -nutzer bereits in der Vergangenheit zu der Schlussfolgerung, dass der Temperaturanstieg nicht auf die vom Menschen verursachten CO2-Emissionen, sondern ausschließlich auf natürliche Phänomene zurückzuführen sei.
Dabei verwechseln sie jedoch natürliche Schwankungen des Klimas mit solchen, die auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sind. "Wenn es damals keine Menschen gab, hat sich das Klima nicht wegen der Menschen verändert, sondern wegen des natürlichen Klimazyklus", erklärte der Forscher Pierre Friedlingstein. "Über Millionen von Jahren hinweg hat sich das Klima hauptsächlich aufgrund der Position der Erde gegenüber der Sonne und damit der Erdumlaufbahn verändert." Während der vergangenen 150 Jahre "hingegen sind die Klimaschwankungen auf den Menschen zurückzuführen. Das eine schließt das andere nicht aus", führte Friedlingstein aus.
Friedlingstein machte klar: "Die globale Erwärmung im 20. und 21. Jahrhundert ist zu 100 Prozent auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen." Der Temperaturanstieg sei nicht erklärbar "ohne die Treibhausgase zu berücksichtigen, denn aus wissenschaftlichen Modellen wissen wir, dass die natürliche Klimavariabilität kaum zur Erhitzung im vergangenen Jahrhundert beigetragen hat".
Fazit: Eine online geteilte Studie aus der Fachzeitschrift "Science" beweist nicht, dass die Erderhitzung auf natürliche Schwankungen statt menschlichen Einfluss zurückzuführen ist. Diese irreführende Interpretation widerlegten beteiligte Studienautorinnen und andere Experten.