Ex-EU-Kommissar Breton falsch interpretiert – EU kann Bundestagswahl nicht annullieren

  • Veröffentlicht am 29. Januar 2025 um 17:35
  • Aktualisiert am 6. Februar 2025 um 13:01
  • 6 Minuten Lesezeit
  • Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
Die mögliche Einflussnahme auf die Wahl des Deutschen Bundestags im Februar 2025 ist wenige Wochen vor der Abstimmung häufig Diskussionsgegenstand. In sozialen Medien wurde Anfang Januar 2025 irreführend behauptet, der ehemalige EU-Kommissar Thierry Breton hätte von einer möglichen Annullierung der Wahl durch die EU gesprochen. Tatsächlich sprach er aber über die Anwendung des Digital Services Acts im Fall von Manipulation in sozialen Medien.

Am prominentesten verbreitete die Behauptung wohl X-Eigentümer Elon Musk: Auf seiner Plattform teilte der US-amerikanische Tech-Milliardär am 11. Januar 2025 einen Post mit einem Interviewausschnitt, in dem der ehemalige französische EU-Kommissar Thierry Breton über die Europäische Union, Rumänien und Deutschland spricht. Angeblich sage Breton darin, dass die EU die Bundestagswahl für ungültig erklären könnte, wenn die AfD als Sieger daraus hervorginge. Musk bezeichnete Breton in seinem Repost als "Tyrann von Europa".

Viele Nutzerinnen und Nutzer teilten diese vermeintliche Aussage von Breton in Beiträgen auf Facebook, X und Telegram sowie in Videos auf Youtube und Tiktok. Die Behauptung kursierte auch auf anderen Sprachen wie Tschechisch oder Serbisch. Einige Posts enthalten einen Instagram-Beitrag des österreichischen Senders AUF1. Behauptungen dieses Senders hat AFP bereits mehrfach widerlegt. Auch ein AfD-Abgeordneter des bayerischen Landtags und ein Wiener Bezirksrat der rechtspopulistischen Partei Team HC Strache – Allianz für Österreich teilten Beiträge mit der angeblichen Aussage Bretons. Die Website Report24, die bereits häufiger von AFP überprüfte Falschinformationen verbreitet hat, schrieb ebenfalls über die Behauptung.

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Facebook-Screenshot der Behauptung: 28. Januar 2025

In dem geteilten Interviewausschnitt ging es jedoch um etwas anderes. Breton sprach nicht über die angebliche Kompetenz der EU, die Bundestagswahl für ungültig erklären zu können, sondern über den Digital Services Act (DSA, Gesetz über digitale Dienste) und dessen Anwendung bei Wahlmanipulation in sozialen Medien. 

Die Sequenz stammt aus einem Interview mit dem französischen Fernsehsender RMC, das am 9. Januar 2025 ausgestrahlt wurde (hier archiviert). Darin sprach die Moderatorin Apolline de Malherbe mit Breton über die Gefahr für Europa, wenn sich Elon Musk in Wahlkämpfe und die Politik europäischer Mitgliedstaaten einmischt und Einfluss darauf nimmt.

Breton führte aus, dass die EU rechtlich dafür gewappnet sei: Er spielte auf den DSA an, der im Falle von einer Einmischung auf der Plattform X angewendet werden müsse. Derartiges sei in Rumänien gemacht worden und das müsse man, "wenn nötig, auch in Deutschland machen".  Anlass für diese Ausführungen war Musks Einmischung in innerdeutsche Politik etwa durch seinen Post zugunsten der AfD sowie ein zum Zeitpunkt des Interviews bereits anberaumtes Gespräch zwischen Musk und der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.

Der DSA ist eine Verordnung der Europäischen Union, die darauf abzielt, die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Diensten, also beispielsweise großen Plattformen wie Facebook oder X, aber auch Suchmaschinen zu wahren. Dabei geht es unter anderem darum, dass Diensteanbieter wie soziale Medien Meinungsfreiheit garantieren oder auch gegen Hassrede und Manipulation vorgehen müssen, erklärt die Europäische Kommission online. Zuständig für die Umsetzung des DSA sind die EU-Mitgliedstaaten. Breton war von 2019 bis 2024 EU-Binnenmarktkommissar und spielte eine tragende Rolle bei der Aushandlung des DSA.

Gericht in Rumänien erklärte Wahl für ungültig

Im Dezember 2024 erklärte das Verfassungsgericht in Rumänien die dortige Präsidentschaftswahl für ungültig. Der rechtsextreme Kandidat Calin Georgescu hatte überraschend den ersten Wahlgang Ende November 2024 gewonnen. Das Verfassungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Wahlprozess irregulär verlaufen sei und Wählerinnen und Wähler manipuliert worden seien, indem ein Präsidentschaftskandidat in sozialen Medien gesetzeswidrig bevorzugt worden sei. Rumänische Behörden beschuldigten Georgescu, von einer illegalen russischen Unterstützungskampagne auf Tiktok profitiert zu haben. Der neue Termin für den ersten Wahlgang ist nun der 4. Mai 2025. 

Die Entscheidung des rumänischen Gerichts basiert laut Einschätzung von Expertinnen und Experten für das Science Media Center Germany in erster Linie auf der rumänischen Verfassung, die freie, regelmäßige und faire Wahlen garantiert. Daraus leite sich ab, "jede ungerechtfertigte Einmischung in den Wahlprozess zu verhindern", erklärte dort unter anderem Rechtsprofessor Matthias Kettemann von der Universität Innsbruck. 

Im Präsidentschaftswahlkampf sei die freie Stimmabgabe laut dem Verfassungsgericht vorliegenden Sicherheitsberichten jedoch beeinträchtigt worden. Gleichwohl deckten sich diese Wahlgrundsätze "mit dem Kernanliegen des Digital Services Acts", erklärte Kettemann. "Aufgrund der vom rumänischen Verfassungsgerichtshof festgestellten Desinformationskampagne, insbesondere in Bezug auf Fake-Accounts, die in einer koordinierten Kampagne eingesetzt wurden, und nicht ausgewiesener bezahlter politischer Werbung auf Tiktok, ist ein Verstoß gegen den DSA wahrscheinlich."

Breton antwortete Musk mit Dementi

Thierry Breton selbst reagierte auf Elon Musks Post und wies die irreführende Behauptung zurück. "Die EU verfügt über keine Mechanismen, eine Wahl irgendwo in der EU zu verbieten", schrieb er am 11. Januar 2025. Seine Aussagen im verbreiteten Interviewausschnitt bezögen sich "auf die Anwendung des DSA und dessen Moderationspflichten". Auf AFP-Anfrage bestätigte Breton telefonisch am 24. Januar 2025, dass es sich bei der Behauptung um "Fake News" handele. "Die EU verfügt über absolut keinen Mechanismus dieser Art." Zwischen Breton und Musk kam es wegen des DSA schon einmal zu einer öffentlichen Auseinandersetzung.

Eine Suche zu den Stichwörtern "Wahl" und "Annullierung" etwa im Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergab keine Ergebnisse, die die irreführende Behauptung stützen würden. Auf AFP-Anfrage erklärte Matthias Ruffert, Professor und Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, in einer E-Mail vom 27. Januar 2025, dass die EU keine Kompetenz habe, nationale Wahlen ihrer Mitgliedstaaten für ungültig zu erklären. Das bestätigte auch eine Sprecherin der EU-Kommissionsvertretung in Deutschland auf AFP-Anfrage am 24. Januar 2025 per Mail. 

Bundestag ist zwingend in Wahlannullierung eingebunden

Grundsätzlich kann die Wahl des Deutschen Bundestags angefochten und in der Konsequenz wiederholt werden. "Über die Gültigkeit von Bundestagswahlen entscheidet nach dem Grundgesetz (Artikel 41) der Deutsche Bundestag", erläuterte eine Sprecherin der für die Bundestagswahl zuständigen Bundeswahlleiterin am 19. Januar 2025 auf AFP-Anfrage. Anschließend gebe es die "Möglichkeit der Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht". Die Europäische Union spielt in diesem Prozess keine Rolle. Auch die Bundesregierung reagierte auf ihrem Instagram-Account auf die verbreitete Behauptung und stellte sie in einem Beitrag richtig. 

Ähnlich wie in Rumänien sichert das Grundgesetz mit Artikel 38, dass die Bundestagswahl "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer" Weise erfolgt. Wird gegen geltendes Recht verstoßen oder treten schwerwiegende Unregelmäßigkeiten auf, kann eine Bundestagswahl angefochten werden, führte Matthias Kettemann für das Science Media Center Germany weiter aus. "Gravierende Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstöße liegen allerdings nur dann vor, wenn sie geeignet sind, das Mandatsergebnis zu verändern oder die Integrität des gesamten Wahlprozesses in Frage zu stellen."

AFP widerlegte bereits eine weitere Falschbehauptung zu einer angeblichen Wahlannullierung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Fazit: In einem Interview mit einem französischen Sender sprach Ex-EU-Kommissar Thierry Breton über die Anwendung des Digital Services Acts der EU, nicht darüber, dass die Europäische Union wenn nötig die Bundestagswahl für ungültig erklären würde. Rechtlich hat die EU keine Kompetenz, nationale Wahlen eines Mitgliedsstaates zu annullieren, wie die deutsche Kommissionsvertretung und Rechtsexperten erklärten. 

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