Nein, Wissenschaftler versetzen Milchprodukte nicht mit Corona-Impfstoffen
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- Veröffentlicht am 2. Juni 2023 um 17:45
- 9 Minuten Lesezeit
- Von: Ivan FISCHER, AFP Kroatien, AFP Deutschland
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Eine sogenannte "Preprint-Studie" - vorab veröffentlichte Forschungsergebnisse, die noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet wurden - die von chinesischen Forschenden an Labormäusen durchgeführt wurde, wird in sozialen Netzwerken und auf mehreren Nachrichtenportalen aus Beweis dafür angeführt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angeblich Kuhmilch, die für den menschlichen Verzehr gedacht ist, mit mRNA-Impfstoffen anreichern würden.
"Sie schmuggeln mRNA in Milch, um uns zu 'impfen'," behauptet ein User in einem kroatischsprachigen Facebook-Beitrag vom 10. April 2023. Ähnliche Schlagzeilen erschienen auf zwei kroatischen Newsportalen, die zuvor falsche oder irreführende Behauptungen verbreitet hatten und die AFP bereits auf Serbisch und auf Kroatisch widerlegt hat. "Wissenschaftler fügen mRNA zu Kuhmilch hinzu, um zu 'impfen'," heißt es in einem Artikel vom 8. April 2023. "Bill Gates will die Menschheit wirklich zwingen, mRNA-Technologie über die Nahrung aufzunehmen", wird in einem anderen Artikel behauptet, der am 16. April 2023 veröffentlicht wurde. Die Behauptungen und Links zu den Artikeln wurden auch auf mehreren kroatischen Telegram-Kanälen geteilt, wo die Beiträge mehr als 5000 Mal aufgerufen wurden.
Beide Portale beziehen sich auf eine Studie, in der chinesische Forschende untersuchten, ob es möglich wäre, einen oralen mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln, indem sie die fragile und instabile mRNA in Exosomen (biologische Strukturen, die Moleküle transportieren können) verpacken, die in Kuhmilch vorkommen. Die Theorie lautet, dass das Molekül so überleben kann, ohne bei sehr niedrigen Temperaturen gelagert werden zu müssen und könnte den menschlichen Verdauungstrakt überstehen, der die mRNA-Moleküle sonst abbauen und inaktiv machen würde.
Der Studie zufolge kann der mRNA-Impfstoff gegen Sars-Cov-2 "neutralisierende Antikörper in Mäusen stimulieren". Der Impfstoff basiert auf aus Kuhmilch gewonnenen Exosomen.
Tamara Čačev ist Molekularbiologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ruđer Bošković-Institut in Zagreb. Sie erklärte gegenüber AFP, dass die Studie darauf hindeute, dass ein solcher mündlich verabreichter Impfstoff den Organismus zur Bildung von Antikörpern veranlassen könne, doch es gebe keine Garantie, dass das beim Menschen funktioniere.
"Zwischen Maus und Mensch liegt ein gewaltiger Evolutionssprung und viele Dinge, die in Experimenten in vitro (in Glasröhrchen, Anm. d. Red.) und in vivo (am Lebewesen, Anm. d. Red.) gut erscheinen, versagen, sobald Versuche am Menschen beginnen", teilte Čačev AFP in Nachrichten via Facebook Messenger am 20. April 2023 mit.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) teilte AFP in einer E-Mail am 2. Mai 2023 mit, dass es verschiedene zu erfüllende Vorgaben gebe, bevor ein neuer Corona-Impfstoff in der EU auf den Markt kommen könne. Beantragt ein Unternehmen eine Genehmigung für einen Impfstoff, der mit einer neuartigen Technologie entwickelt wird, muss die Firma auch eine Überprüfung und Bewertung der unterstützenden Daten über die Verwendung einer solchen Technologie bei der EMA beantragen. Außerdem muss das Unternehmen nachweisen, dass der neuartige Impfstoff die EU-Anforderungen an Sicherheit und Wirksamkeit erfüllt.
"Darüber hinaus möchten wir darauf hinweisen, dass der EMA zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Antrag auf Entwicklung eines Impfstoffs für den Menschen vorliegt, der diesen Ansatz verwendet, und dass es bisher keinen Kontakt mit einem potenziellen Entwickler gegeben hat, der eine solche Strategie verfolgen will", teilte ein EMA-Sprecher AFP in einer E-Mail mit.
Mäusen wurde kein Impfstoff in Milch verabreicht
Auf den beiden Nachrichtenseiten und in sozialen Netzwerken wird behauptet, dass die "mRNA in Milch gegeben wurde, die dann an die Mäuse verfüttert wurde". Beides stimmt jedoch nicht: Die mRNA-Moleküle wurden nicht normaler Kuhmilch hinzugefügt und der Impfstoff wurde den Mäusen nicht in Form von Milch verabreicht.
Der Studie zufolge wurden Exosomen aus Kuhmilch extrahiert und dann als "Verpackung" für mRNA-Schnipsel verwendet, die eine Immunreaktion auf den Sars-Cov-2-Virus hervorrufen können.
Čačev erklärte gegenüber AFP, dass Exosomen mikroskopisch kleine blasenartige Strukturen mit einer Außenschicht aus Fett seien, die sowohl von Pflanzen als auch von Tieren zum Transport von Molekülen innerhalb eines Organismus verwendet würden. "Kuhmilch ist ein Beispiel für eine Ausscheidung, bei der Exosomen ebenfalls identifiziert sowie leicht verwendet und modifiziert werden können. Es gibt zahlreiche Verwendungen für Kuhmilch in der Biotechnologie", so Čačev.
In der Studie wird nicht erwähnt, dass bei der Herstellung des Schluckimpfstoffs für Mäuse außer den Exosomen noch andere Bestandteile der Milch verwendet wurden. Die EMA wies auch darauf hin, dass die Autorinnen und Autoren der Studie die Verwendung von Kuhmilch-Exosomen als Transportmittel zur Auslösung von Immunreaktionen bei Mäusen untersucht haben. "Dies ist nicht gleichbedeutend mit 'Kuhmilch mit mRNA-Impfstoffen versetzen'", sagte ein Sprecher der EMA gegenüber AFP.
Die Mäuse wurden auch nicht mit dem Impfstoff gefüttert, so die Autorinnen und Autoren der Studie. Die Lösung mit den modifizierten Exosomen wurde den Mäusen per Injektion direkt in den Verdauungstrakt, in den Zwölffingerdarm, gespritzt und ließ somit den Weg über Mund, Speiseröhre und Magen aus.
Impfstoff in der Milch wäre unpraktisch und nicht lange haltbar
Jeder Versuch, mRNA heimlich in Kuhmilch zu schmuggeln, um Konsumentinnen und Konsumenten zu impfen, würde auf zahlreiche Schwierigkeiten stoßen. "Das größte Problem ist die technische Unmöglichkeit und die Kosten dieses Verfahrens", sagte Čačev gegenüber AFP bezogen auf die Herstellung von Schluckimpfstoffen mithilfe von Milchexosomen. "Das ist ein technologisch herausfordernder Prozess, den nur wenige Hersteller auf der Welt durchführen könnten", so die Molekularbiologin.
"Die in dieser Studie verwendete Technik zur Reinigung von Exosomen ist nicht mit einer groß angelegten Exosomenproduktion vereinbar, was einen der Hindernisse für den Fortschritt der Industrialisierung darstellt", stellen die Autorinnen und Autoren auf Seite 10 der Studie fest.
Čačev äußerte auch Zweifel daran, dass ein solcher Impfstoff bei Raumtemperatur haltbar wäre. "Die mRNA selbst, verpackt in einem Exosom und dann in einer Milchflasche im Geschäft abgefüllt, würde nicht lange halten. Und wer befürchtet, dass die Milch mit mRNA-Impfstoffen kontaminiert ist, könnte diese Milch jederzeit abkochen. Denn in diesem Fall wären die mRNA-Impfstoffe immer noch instabil, unabhängig davon, wie sie verpackt sind", sagte Čačev gegenüber AFP.
Zusatz von mRNA zu Kuhmilch ist in der EU nicht erlaubt
Biljana Borzan ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Ärztin und Mitglied des parlamentarischen Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Sie verwies auf mehrere rechtliche Mechanismen, die den Zusatz von künstlichen biologischen oder chemischen Verbindungen in der Milch verhindern würden.
"Das wäre die EU-Milchrichtlinie, dann die Verordnung über eine Gemeinsame Marktorganisation für Agrarerzeugnisse und als übergeordnetes Gesetz das Allgemeine Lebensmittelrecht der EU", erklärte Borzan in einer E-Mail an AFP am 25. April 2023.
Borzan sagte, dass jeder Schritt zur Legalisierung solcher Praktiken die Zustimmung einer Vielzahl von Gremien wie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und der Institutionen der Mitgliedstaaten erfordern würde. Von der Einleitung des Verfahrens bis zur tatsächlichen Umsetzung würden mehrere Jahre vergehen. "Ich wüsste allerdings nicht, warum das jemand tun und warum das jemand gutheißen sollte", sagte Borzan.
Verdächtige Manipulationen könnten aufgedeckt werden
Jasna Bošnir ist Leiterin des Dienstes für Umweltschutz und Gesundheitsökologie am Lehrinstitut für öffentliche Gesundheit Andrija Štampar in Zagreb. Sie erklärte gegenüber AFP in einer E-Mail vom 27. April 2023, dass die Lebensmittelsicherheit in Kroatien, einschließlich der Sicherheit von Milch, durch die Verordnung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 geregelt werde. Darin sind Höchstwerte für bestimmte verunreinigende Substanzen in Lebensmitteln festgelegt. Das kroatische Veterinärinstitut und das nationale Referenzlabor für Milch und Molkerei (RL) seien dabei für die Prüfung der Qualität und Sicherheit von Konsummilch zuständig.
Nach Angaben der kroatischen Agentur für Lebensmittel und Landwirtschaft (HAPIH) werden Tests auf mRNA in der Milch derzeit nicht im Rahmen der regelmäßigen Qualitätskontrolle von Milchprodukten durchgeführt. Die Agentur teilte AFP am 25. April 2023 in einer E-Mail mit, dass sie im Jahr 2022 mehr als 1,6 Millionen Proben von Kuh-, Schafs- und Ziegenmilch getestet habe, um Sicherheit und Qualität zu bestimmen.
Nataša Mikulec, Leiterin des Milchreferenzlabors, sagte gegenüber AFP in einem Telefongespräch am 3. Mai 2023, dass die kroatischen Labors gut ausgerüstet seien, um alle Arten von Mikroorganismen, Bakterien oder Viren in Lebensmitteln nachzuweisen oder festzustellen, ob Lebensmittel manipuliert wurden. Sie wies darauf hin, dass es für das Labor wichtig sei, im Voraus zu wissen, wonach gesucht werde, wenn die Substanz nicht auf der regulären Testliste stünde.
"Aus diesem Grund haben wir das Zentrum für Lebensmittelsicherheit und -qualität als gemeinsames EU-Projekt des NSJZ Andrija Štampar und der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Zagreb gegründet", so Mikulec weiter. "Wir verfügen über die wissenschaftliche Ausrüstung, um die Herkunft von Lebensmitteln zu überprüfen oder Fälschungen festzustellen. Jeder kann eine Milchprobe oder ein anderes Lebensmittel, das er oder sie untersuchen möchte, zum Zentrum bringen."
Mikulec erklärte gegenüber AFP, dass die Methoden des Referenzlabors als Maßstab für andere Milchproduktlaboratorien in Kroatien und der Region verwendet würden. "Wir testen die Milch in Kroatien seit 2005 und wir haben nie etwas gefunden, das für den Menschen gefährlich wäre", sagte sie.
Bošnir und Mikulec rieten allen, die den Verdacht hätten, dass ihre Milch manipuliert worden sein könnte, dies der Veterinärinspektion zu melden. Borzan schlug auch vor, die Polizei einzuschalten, da eine derartige Tat illegal sei. "Falls sich die Person auf EU-Ebene damit befassen möchte, kann sie sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten oder an die Mitglieder des Parlaments wenden. Als Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die sich mit Lebensmittel- und Verbrauchersicherheit beschäftigt, erhalte ich ziemlich viele Fragen und Berichte dieser Art", sagte Borzan.
Keine mRNA-Impfstoffe in anderen Lebensmitteln
In einigen irreführenden Artikeln wird die chinesische Studie auch mit einer größer angelegten Verschwörungserzählung in Verbindung gebracht, wonach Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angeblich versuchten, die Menschen zur Einnahme von Corona-Impfstoffen zu zwingen, indem sie diese in die Nahrung injizierten. Diese Erzählung behauptet, dieser Plan sei von einer angeblichen Weltelite, darunter beispielsweise Bill Gates, propagiert worden. Die Artikel enthalten keine Beweise für diese Behauptungen.
Jessica Gordon ist Tierärztin für Rinder und außerordentliche Professorin an der Michigan State Universität. Sie teilte AFP in einer E-Mail am 25. Januar 2023 mit, dass der Viehbestand in den Vereinigten Staaten nicht mit mRNA-Impfstoffen geimpft werde. Das bestätigte auch das Zentrum für veterinärmedizinische biologische Präparate des Inspektionszentrums für Tier- und Pflanzengesundheit im US-Landwirtschaftsministerium.
AFP hat bereits die Behauptungen widerlegt, dass mRNA-Impfstoffe angeblich Nutztieren und anderen Tieren gespritzt würden und dass australische Landwirte angeblich dazu gezwungen würden. Ebenso widerlegte AFP die Behauptungen, dass Bill Gates zur "Entvölkerung durch Zwangsimpfung" aufgerufen habe, sich angeblich geweigert habe, seine Kinder zu impfen oder gefordert habe, Impfstoffe in Lebensmittel einzuführen.
Sicherheit der Corona-Impfstoffe wird kontinuierlich ausgewertet und überwacht
In den irreführenden Artikeln wird ein Blogbeitrag des US-amerikanischen Kardiologen Peter McCullough zitiert, der behauptet, dass die chinesische Studie einen "verblüffenden" wissenschaftlichen Erfolg darstelle, der jedoch aufgrund der Schäden, die die mRNA-Impfstoffe angeblich verursacht hätten, ethische Fragen aufwerfe. AFP hat bereits mehrere Behauptungen McCulloughs zu den Impfstoffen widerlegt.
Nach Angaben der EMA wurden bis April 2023 fast eine Milliarde Dosen der Corona-Impfstoffe an Menschen in der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum verabreicht. Ihre Sicherheit wird stetig überwacht und ausgewertet, wobei die meisten bekannten Nebenwirkungen leicht und von kurzer Dauer sind.
"Die zugelassenen Corona-Impfstoffe sind sicher und wirksam. Sie wurden an Zehntausenden von Teilnehmenden in klinischen Studien überprüft und haben die wissenschaftlichen Standards der EMA für Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit erfüllt", erklärt die Agentur auf ihrer Informationsseite. "Ernsthafte Sicherheitsprobleme sind extrem selten."
AFP hat bereits verschiedene Behauptungen rund um die Sicherheit der Corona-Impfstoffe widerlegt und sammelt sie hier und hier.
Fazit: Milchprodukte werden nicht mit mRNA-Impfstoffen versetzt. Expertinnen und Experten erklärten gegenüber AFP, dass es schwierig wäre, einen solchen Impfstoff mit Milch zu kombinieren, da das mRNA-Molekül in dieser Form nicht überleben würde und die Kosten des Verfahrens sehr hoch wären. Zudem gibt es in der EU mehrere rechtliche Mechanismen, die verhindern, dass ein derartiger Stoff der Milch zugefügt wird.