Dieser Vergleich der Corona-Impfstoffe mit früheren Impfstoffen ist irreführend

Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben seit Mitte November einen Text auf Facebook und Telegram geteilt, in dem ein anonymer Apotheker behauptet, die Impfstoffe gegen das Coronavirus seien die ersten Impfstoffe, die die Ausbreitung einer Krankheit nicht stoppen könnten. Zudem machten sie im Gegensatz zu früheren Vakzinen zusätzliche Hygienemaßnahmen wie das Tragen von Masken und die Einhaltung von Mindestabständen erforderlich.

Hunderte User haben das angebliche Zitat auf Facebook und Telegram in verschiedenen Versionen geteilt (hier, hier, hier). Auch der AfD-Politiker Ralf Borschke, Landtagsabgeordneter in Mecklenburg-Vorpommern, und die fraktionslose Landtagsabgeordnete und ehemalige schleswig-holsteinische Landesvorsitzende der AfD, Doris von Sayn-Wittgenstein, teilten den Text auf ihren Facebookseiten (hier, hier). Der Text taucht in der Kommentarspalte einer Zeitung, auf Blogs (hier, hier) und sogar als Stellungnahme zu einem Gesetzesentwurf zur Einführung der allgemeinen Corona-Impfpflicht in Österreich auf. Versionen des Textes finden sich auf Facebook auf Englisch, Französisch, Spanisch und Ungarisch. Mal wird er als die Äußerung eines anonymen Apothekers, mal als die eines langjährigen Mitarbeiters im Gesundheitswesen bezeichnet. An anderer Stelle bleibt der Urheber unerwähnt.

Die irreführende Behauptung: Der Autor des Textes vergleicht die Corona-Impfstoffe mit Impfungen gegen zahlreiche andere Krankheiten und kommt dabei zum Schluss, dass der Impfstoff nicht wirksam sei. "Von allen Impfstoffen, die ich in meinem Leben gekannt habe (Keuchhusten, Diphtherie, Tetanus, Pocken, Masern, Röteln, Mumps, Hepatitis, Meningitis und Tuberkulose), habe ich noch nie einen Impfstoff gesehen, bei dem Sie eine Maske tragen und Abstand halten müssen, auch wenn Sie vollständig geimpft sind”, so der Text und weiter: "Ich habe noch nie von einem Impfstoff gehört, der dazu führt, dass sich das Virus auch nach der Impfung ausbreitet.” Im Anschluss führt der Postingtext seine Meinung dazu aus.

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Facebook-Screenshot der irreführenden Behauptung: 26.01.2022

Verschiedene Beiträge in den sozialen Netzwerken haben die Wirksamkeit von Impfstoffen schon in der Vergangenheit infrage gestellt (hier, hier, hier). Der Vergleich mit älteren Impfstoffen reiht sich in diese Erzählung ein. Der Post verbreitete sich in den sozialen Medien, während in vielen Ländern die Corona-Infektionszahlen trotz teils hoher Impfquoten stark ansteigen. Die schnelle Ausbreitung der Omikron-Variante des Coronavirus hat gezeigt, dass die neue Mutation nicht nur ansteckender, sondern auch in der Lage ist, den Immunschutz durch Impfungen oder eine überstandene Covid-Erkrankung zu umgehen. Gleichzeitig zeigen erste Daten, dass Infektionen mit der Omikron-Variante weniger schwere Krankheitsverläufe verursachen, insbesondere bei Geimpften.

Hundertprozentig schützende Impfstoffe sind rar

Einige der im Text genannten Impfstoffe werden seit Jahrzehnten oder – wie im Fall der Pocken – seit Jahrhunderten verwendet. Ihre Effektivität beim Schutz vor Übertragung ist unterschiedlich. Im Gegensatz zur im Facebook-Post aufgestellten Behauptung bieten Impfstoffe allerdings äußerst selten einen vollständigen Schutz vor einer weiteren Übertragung der Krankheit. Darin sind sich alle von AFP befragten Experten einig. Das Hauptziel von Impfungen sei es, Krankheiten unter Kontrolle halten zu können sowie schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern.

Charles Bangham, Professor für Immunologie und Co-Direktor des Instituts für Infektionsforschung am Imperial College London, sagte am 11. Januar 2022 gegenüber AFP: "Obwohl viele existierende Impfstoffe gegen Viren und Bakterien extrem effektiv sind, ist hundertprozentige Immunität – manchmal auch als sterile Immunität bezeichnet – selten." Bangham erklärte, dass sich oft anhand der spezifischen Immunantwort auf eine Krankheit feststellen lasse, dass eine geimpfte Person infiziert sei, auch wenn sie keine Symptome zeige.

Das bestätigte Peter Sebo, Chef des Labors für molekulare Biologie bakterieller Krankheitserreger am Institut für Mikrobiologie Prag. Er sagte AFP am 13. Januar, dass die Corona-Impfstoffe nicht die einzigen seien, die eine Virusinfektion nicht vollständig verhindern könnten. Auch der ehemalige Leiter der US-Gesundheitsbehörde CDC, Tom Frieden, erklärte via Twitter im Oktober 2021, es sei selten, dass ein Impfstoff vollständig vor Infektion und Übertragung schütze.

Keith Neal, emeritierter Professor für die Epidemiologie von Infektionskrankheiten an der Universität Nottingham in England, sagte AFP am 11. Januar 2022, dass bei mehreren der im irreführenden Post aufgeführten Krankheiten auch nach einer Impfung die Möglichkeit einer Infektion bestehe. Ebenso sei es möglich, dass ein Erreger auch nach einer Impfung im Organismus nachgewiesen werden könne ohne Symptome hervorzurufen.

"Diphtherie-Erreger können im Körper getragen werden, aber man ist gegen das Toxin geschützt, genau wie bei Tetanus", sagte Neal. Das heißt, dass die Impfung das Immunsystem darauf vorbereitet, sich gegen die von den auslösenden Bakterien produzierten Toxine zu schützen, nicht gegen die Erreger selbst. Anders als Covid-19 verbreitet sich Tetanus nicht von Mensch zu Mensch.

Auch die Impfung gegen Tuberkulose stoppe die Krankheit "nicht mit Sicherheit", aber "verbessert die Chancen erheblich", nicht zu erkranken, sagte Neal So erklärt das britische Gesundheitssystem NHS auf seiner Webseite, dass die Tuberkulose-Impfung zwar effektiv vor schweren Krankheitsverläufen bei Kindern schütze, der Schutz vor einer Übertragung der Krankheit jedoch begrenzt sei.

Ein weiteres Beispiel ist Mumps: Auch Menschen, die zweifach mit einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft sind, können sich laut Robert-Koch-Institut (RKI) weiterhin mit Mumps infizieren und die Krankheit übertragen.

Andrew Preston ist Professor für mikrobielle Pathogenese an der Universität Bath in England und forscht zu Impfstoffen gegen Keuchhusten. Er sagte AFP am 12. Januar 2022, dass ein derzeit verwendeter neuer Keuchhusten-Impfstoff weniger Nebenwirkungen hervorrufe, dabei jedoch vor schweren Krankheitsverläufen und Tod schütze. Der Keuchhustenerreger kursiert dennoch weiterhin in der Bevölkerung und stellt vor allem für Ungeimpfte eine Bedrohung dar.

Keuchhusten-Impfstoffe "stoppen nicht die Verbreitung des Erregers in der Bevölkerung", sagte Preston. Aber sie "erfüllen ihren hauptsächlichen Zweck zu verhindern, dass sehr kleine Kinder krank werden und sterben". Auch der tschechische Mikrobiologe Peter Sebo, der zu Impfstoffen gegen Keuchhusten forscht, sagte: "Die Keuchhusten-Impfung schützt nur vor schweren Krankheitsverläufen, genau wie die Corona-Impfstoffe."

Ausrottung einer Krankheit braucht Zeit

Andrew Preston hält den Vergleich des Übertragungsschutzes von seit Jahrzehnten gebräuchlichen Impfstoffen einerseits und den Corona-Impfstoffen andererseits für unfair. "Es brauchte 250 Jahre lang Impfungen, um die Windpocken auszurotten. Gegen Keuchhusten und Tuberkulose impfen wir seit Jahrzehnten. Die Corona-Impfstoffe damit zu vergleichen, ist irreführend", sagte er.

Neu auftretende Mutationen würden den Übertragungsschutz der Impfstoffe zusätzlich einschränken, erklärte Preston. Dies sei der Fall bei der Grippe, die in dem irreführenden Posting nicht genannt ist. Ohne die neuen Virusvarianten hätten die Corona-Impfstoffe einen größeren Schutz vor Übertragung geboten, sagte er. "Deshalb müssen viele Impfstoffe, wie die Grippe-Impfungen, konstant aktualisiert werden", erklärte Preston.

Neben Impfkampagnen gebe es weitere medizinische Maßnahmen, die zum Erfolg im Kampf gegen eine Krankheit beitrügen, sagte Preston. Im Fall der Tuberkulose hätten neben den Impfungen etwa verbesserte hygienische Bedingungen und bessere Belüftung dazu geführt, dass die Virusverbreitung in der Bevölkerung soweit reduziert werden konnte, dass allgemeine Impfungen in Großbritannien nicht mehr erforderlich seien. Auch in Deutschland wird die Tuberkulose-Impfung seit 1998 nicht mehr von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen.

Die Impfpflicht ist historisch nicht einzigartig

Der irreführende Post behauptet weiterhin, dass es vor den Corona-Impfungen "keine Diskriminierung" gegeben hätte, "wenn Sie nicht geimpft waren". Die Behauptung ist irreführend, es gibt zahlreiche historische Beispiele für die gesetzliche Regelung von Impfpflichten und die Sanktionierung von Verstößen gegen diese. So führte das Königreich Bayern 1807 den Impfzwang gegen Pocken ein. Im Deutschen Reich verpflichtete das Reichsimpfgesetz ab 1874 Eltern dazu, ihre Kinder gegen Pocken impfen zu lassen. Bei Verstößen drohten Geld- oder Haftstrafen. Die Impfpflicht wurde in der Bundesrepublik und in der DDR bis in die 1980er Jahre fortgeführt. Auch hier drohten Geld- oder Haftstrafen für Impfverweigerer.

Seit 1. März 2020 gilt in Deutschland eine bundesweite Impfpflicht gegen Masern. Das Masernschutzgesetz sieht vor, dass alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr beim Eintritt in die Schule oder den Kindergarten die von der Stiko empfohlenen Masern-Impfungen vorweisen müssen. Bei Zuwiderhandlungen droht ein Bußgeld von bis zu 2500 Euro. Auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer und medizinisches Personal sowie Asylbewerberinnen und Asylbewerber, sofern sie in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind, müssen gegen Masern geimpft sein.

Fazit: Mehrere unabhängige Wissenschaftler widersprachen gegenüber AFP der Behauptung, frühere Impfstoffe würden die Übertragung von Krankheiten vollständig verhindern. Vielmehr ist es seit jeher das primäre Ziel von Impfungen, schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Gesetzliche Impfpflichten mit Sanktionen für Impfverweigerer gab es bereits früher und gibt es auch heute noch.

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