Nein, dieser Bericht beweist keine Herzinfarkte als häufige Nebenwirkung von Corona-Impfungen

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  • Veröffentlicht am 15. Oktober 2021 um 16:51
  • Aktualisiert am 15. Oktober 2021 um 16:53
  • 6 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Hunderttausende User haben ein Video auf Telegram und Facebook gesehen, wonach die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA die Corona-Auffrischungsimpfung von Pfizer/Biontech verboten habe. Grund sei ein vermeintlich wissenschaftlich belegtes erhöhtes Risiko für Herzinfarkte nach Impfungen. Die von den Video-Machern herangezogenen Quellen belegen diese Behauptung allerdings nicht. Die Forschenden widerlegen sie sogar. Auch die FDA und andere Behörden dementieren den angeblichen Risiko-Nachweis.

Dutzende Facebook-User haben das Video über das angebliche Pfizer-Verbot seit dem 3. Oktober geteilt (hier, hier). Auf Telegram erreichte es mehr als 400.000 Nutzerinnen und Nutzer.

Die Falschbehauptung: In "geleakten" FDA Sitzungsprotokollen sei laut den Teilnehmern des Videos zu lesen, dass der vermeintliche Corona-Forscher Steve Kirsch in einem von der Öffentlichkeit unbemerkten Vortrag belege: "Im Sechsmonatsprüfbericht über die Pfizerimpfung [...] hat es viermal mehr Herzinfarkte in der Impfgruppe mit Pfizer gegeben wie der Nicht-Impfgruppe." Außerdem belege die US-Nebenwirkungsdatenbank "Vaers": "Bei der Biontech/Pfizer-Impfung gebe es 71-Mal häufiger Herzinfarkt-Meldungen als bei allen anderen Impfungen."

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Facebook-Screenshot: 15.10.2021

Das geteilte Video stammt ursprünglich aus der Sendung "Fellner! Live" vom 22. September 2021, ausgestrahlt beim österreichischen Sender OE24. Im Talk-Format treffen jeweils zwei Gäste zu einem Diskussionsthema aufeinander. Die von ihnen in der Sendung aufgestellten Behauptungen waren bereits mehrfach Gegenstand von AFP-Faktenchecks (hier, hier) – dabei ging es auch um Behauptungen von Peter Westenthaler, ehemaliger Politiker der rechtspopulistischen BZÖ, der auch in der aktuell geteilten Fellner-Sendung falsche Behauptungen aufstellt.

Wer ist Steve Kirsch?

Westenthaler erklärte vor der Kamera, dass der angebliche Epidemiologe und "Corona-Forscher" Steve Kirsch vor der FDA einen Vortrag gehalten habe, was zu der Verbotsentscheidung der FDA geführt habe. Westenthaler liest aus angeblich "geleakten" Sitzungsdokumenten die Behauptungen von Kirsch vor.

Die FDA-Sitzung gab es tatsächlich. Am 17. September 2021 sprach Kirsch im öffentlichen Teil der Sitzung des "167th Meeting of the Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee". Der FDA-Ausschuss war zusammengekommen, um über Auffrischungsimpfungen von Pfizer/Biontech in den USA zu diskutieren und über eine Empfehlung für einen Zulassungsantrag abzustimmen. Die Sitzung war weder geheim, noch sind geheime Sitzungsprotokolle "geleaked" worden. Eine Aufnahme der gesamten achtstündigen Sitzung samt Kirschs Vortrag ist auf Youtube zu finden. Hochgeladen wurde das Video von CNBC, einem amerikanischen Nachrichtensender.

Kirsch selbst stellt sich der FDA als Direktor des "Covid-19 Early Treatment Fund" vor. Die Homepage dieser Covid-Impfstoff-kritischen Organisation stellt Kirsch als Geschäftsführer eines Unternehmens vor, das im Bereich Kryptowährungen arbeitet. Die Seite betitelt ihn außerdem als Erfinder der optischen Maus und einer der ersten Internetsuchmaschinen. Relevante wissenschaftliche Arbeiten von Kirsch zum Thema Impfungen konnte AFP allerdings weder in der wissenschaftlichen Datenbank Pubmed noch auf Google Scholar finden. AFP hat in der Vergangenheit bereits Falschbehauptungen Kirschs zu Impfstoffen überprüft.

Beweise für auffällig viele Herzinfarkte in der Vaers-Datenbank?

AFP hat bei der FDA nachgefragt, ob etwas an Kirschs Behauptung dran ist. FDA-Sprecherin Abigail Capobianco schrieb am 21. September in einer E-Mail:

Die Behauptung, dass Herzinfarkte nach Injektionen mit dem Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer 71-mal häufiger zu Herzinfarkten führen würden, belegen die als Beweis angeführten Vaers-Daten nicht. Sie beweisen keinen Zusammenhang der Krankheit zum Impfstoff.

Bereits in der Suchmaske der Datenbank ist ein Disclaimer zu finden, in dem es heißt: "Die Datenbank [...] Vaers enthält Informationen über nicht verifizierte Berichte über unerwünschte Ereignisse [...] nach Impfungen mit in den USA zugelassenen Impfstoffen. Berichte werden von jedermann akzeptiert und können elektronisch [...] eingereicht werden."

Auf der gleichen Seite müssen User vor Zugriff auf die Datenbank einen Disclaimer akzeptieren, der auch noch einmal auf Folgendes hinweist: "[...] die Berichte von Vaers allein [...] können [...] nicht dazu verwendet werden festzustellen, ob ein Impfstoff ein unerwünschtes Ereignis oder eine Krankheit verursacht oder dazu beigetragen hat."

Und weiter heißt es zur Qualität der Daten: "Die Berichte können Informationen enthalten, die unvollständig, ungenau, zufällig oder nicht überprüfbar sind." Kirsch lässt all diese Informationen weg.

Die in der Datenbank aufgeführten Fälle können also falsch sein. Das verdeutlicht eine Meldung, über die die Faktencheck-Organisation Politifact schon 2017 berichtet hatte. Demnach hatte ein Dr. James R. Laidler nach einer Influenza-Impfung dem Vaers berichtet, er hätte sich in die Marvel-Comicfigur "Hulk" verwandelt. Die Symptome: grüne Haut, wachsende Muskeln und Wutprobleme. Die CDC bestätigten die offensichtlich erfundene, aber dennoch im Vaers aufgeführte Meldung gegenüber Politifact. Mittlerweile wurde dieser Fall in Absprache mit Laidler aus der Datenbank entfernt.

AFP Faktencheck hat andere irreführende Behauptungen im Zusammenhang mit der Vaers-Datenbank hier oder hier geprüft.

Viermal mehr Herzinfarkte in Sechsmonatsprüfbericht?

Westenthaler liest bei Fellner auch aus einem Sechsmonatsprüfbericht über die Pfizer-Impfung vor. Demnach habe es bei der Pfizer-Impfgruppe viermal mehr Herzinfarkte gegeben als bei der Kontrollgruppe.

Dieser angesprochene Pfizer-Bericht vom 28. Juli 2021 ist auch als Quelle in einer Präsentation verlinkt, die Steve Kirschs als Ergänzung zu seinem Vortrag hochgeladen hat (Seite 7).

Zahlreiche internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben für diesen Bericht eine Studie über die Sicherheit und Wirksamkeit des Pfizer-Impfstoffes durchgeführt, um mehr Daten für die Auswirkungen der Impfung zu erhalten. Pfizer und Biontech selbst finanzierten die Studie. Dabei teilten die Forschenden 44.165 Patienten in eine Impf- und eine Kontrollgruppe ein und beobachteten diese nach der Impfung sechs Monate lang. Das Ergebnis: Der Pfizer Impfstoff erwies sich "weiterhin als sicher und wies ein akzeptables Nebenwirkungsprofil auf."

Tatsächlich berichteten die Studienautorinnen und -autoren dabei auch von Todesfällen unter den Studienteilnehmenden im Studienzeitraum. Von den 44.165 Teinehmerinnen und Teilnehmern sind 18 Geimpfte und 16 Menschen aus der Placebo-Gruppe gestorben. Letztere hatten zuvor also keinen Pfizer-Impfstoff injiziert bekommen.

Die Todesursachen sind im Anhang des Berichts auf Seite 12 zu finden. Dort steht, dass vier Menschen mit und einer ohne Impfung an einem Herzinfarkt gestorben sind.

Laut Bericht seien die Todesfälle in beiden Gruppen ausgeglichen. Die beteiligten Forschenden schreiben in diesem Kontext außerdem:

Sind Herzinfarkte überhaupt eine häufige Impfnebenwirkung?

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erklärt in seinem aktuellen Sicherheitsbericht vom 20. September zu den Nebenwirkungen aller Covid-Impfungen, dass "eine Analyse der Spontanmeldungen aus Deutschland zu Herzinfarkten und Lungenembolien kein Signal für alle vier Impfstoffe ergab". Dieser Bericht berücksichtigt Meldungen bis zum 31. August 2021.

Demnach sei nach mRNA-Impfungen ein geringes Risiko für Myokarditis, also eine Herzmuskelentzündung, festgestellt worden. Dieses betreffe vor allem für junge Männer. Eine solche Entzündung kann in schweren Fällen zum Herzversagen führen. Jedoch würden sich laut PEI die meisten Patientinnen und Patienten schnell wieder erholen. Das Institut stuft die Nebenwirkung als "sehr selten" ein.

Auch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) hat für Österreich bis zum 24. September 2021 keine Herzinfarkte im "Bericht über Meldungen vermuteter Nebenwirkungen nach Impfungen zum Schutz vor Covid-19" als Nebenwirkungen aufgeführt.

Hat die FDA den Pfizer-Impfstoff verboten?

Das "Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee", das am 17. September 2021 zur Pfizer Auffrischungsimpfung tagte, hat den Impfstoff nicht verboten. AFP hat das Sitzungsmaterial und die darin getroffenen Entscheidungen gesichtet. Der Ausschuss hat lediglich eine Empfehlung gegen die Auffrischungsimpfung für Menschen ab 16 Jahren ausgesprochen. Dabei sprach sich das Komitee auch einstimmig für diese Auffrischungsimpfung für Risikogruppen aus, zu denen auch Menschen über 65 Jahre gehören.

Das Voting und die Erklärungen der Entscheidungen sind in der Aufzeichnung auf Youtube veröffentlicht.

Fazit: Die von Westenthaler und Kirsch präsentierten Daten widersprechen explizit der Behauptung, dass die Pfizer/Biontech-Impfung gegen Covid-19 das Herzinfarktrisiko erhöht. Auch von diesen Quellen unabhängige Behörden erklären, dass Herzinfarkte keine nennenswerte Nebenwirkung von Corona-Impfungen sind.

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