Gastbeitrag in "Berliner Zeitung" verbreitet Falschinfos zu Krebs durch Covid-Impfungen

  • Veröffentlicht am 11. November 2024 um 10:54
  • Aktualisiert am 14. November 2024 um 12:20
  • 11 Minuten Lesezeit
  • Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
Wie vermutlich alle Medikamente haben Covid-Impfstoffe mögliche Nebenwirkungen. Eine Pathologin behauptete im Oktober 2024 in einem Gastbeitrag für die "Berliner Zeitung" jedoch, es gäbe einen Zusammenhang zwischen den Corona-Impfungen und schnell wachsenden Tumoren, die sie "Turbokrebs" nennt. Einen solchen Begriff gibt es in der Medizin indes nicht. Die breite Forschung widerlegt zudem ihre Aussagen zu einem solchen Zusammenhang. 

"Pathologin warnt vor Corona-Impfstoffen: 'Diese mRNA-Technik ist nicht ausreichend getestet'", lautet die Überschrift eines Artikels auf der Website der "Berliner Zeitung" vom 2. Oktober 2024, der als Screenshot in Facebook-Beiträgen sowie auf X und Telegram geteilt wurde. 

Image
Facebook-Screenshot der Behauptung: 29. Oktober 2024

Die Behauptungen im Artikel sind jedoch irreführend, die angeführten Studien sprechen überwiegend von Korrelationen, jedoch nicht von kausalen Zusammenhängen und betonen, dass weitere Forschung für belastbare Aussagen nötig sei. 

Bei dem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag in der Rubrik "Open Source" der "Berliner Zeitung". In dieser Rubrik kann jeder und jede einen Artikel verfassen und an die Redaktion senden. Diese prüft die Einsendungen nach eigener Aussage gründlich und behält sich die Entscheidung vor, welche Texte auf der Website der Zeitung veröffentlicht werden. 

Die Autorin des Artikels, Ute Krüger, ist eine deutsche Pathologin, die nach Schweden ausgewandert ist. Zunächst war sie dort eigenen Angaben zufolge in schwedischen Krankenhäusern in der klinischen Pathologie sowie an einer schwedischen Universität tätig.

Während der Coronapandemie kündigte sie 2022 ihre Anstellungen "aufgrund des Umstandes, dass die Politik über die Wissenschaft bestimmte", wie sie in ihrem Gastbeitrag erläutert. Ihrer Website zufolge ist sie seither selbstständig in der ganzheitlichen Krankheitsprävention tätig.

Krebsfälle und Übersterblichkeit angeblich angestiegen

In ihrem Artikel schildert Krüger ihre Beobachtungen von zunehmenden Krebserkrankungen und Todesfällen nach Covid-Impfungen und zitiert dabei verschiedene Studien. So habe sie etwa seit Herbst 2021 mehr Fälle von Brustkrebstumoren bei Frauen beobachtet, vor allem im Alter von 30 bis 50 Jahren, sowie schneller wachsende Tumore, die sie als "Turbokrebs" bezeichnet.  

Eine Studie aus Großbritannien weise außerdem einen Anstieg der Todesfälle aufgrund von Brustkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs und schwarzem Hautkrebs bei jungen Menschen nach. Die Übersterblichkeitsrate sei angestiegen, behauptet Krüger weiter, und die Impfstoffe seien nicht ausreichend getestet worden. Die Daten und Studien, auf die sich Krüger stützt, sind jedoch meist nicht breit angelegt und berücksichtigen die Jahre vor der Pandemie nicht. Zudem sprechen die Studienautorinnen und -autoren selbst häufig davon, dass weitere Forschung für belastbare Aussagen nötig sei. 

In Reaktion auf ihren Gastbeitrag ist – ebenfalls als "Open Source"-Beitrag – am 15. Oktober 2024 ein Artikel der "Berliner Zeitung"-Redakteurin Wiebke Hollersen und dem freien Journalisten Martin Rücker auf der Website des Mediums erschienen. Sie haben exemplarisch für Deutschland breit angelegte Krebsregisterdaten analysiert, die den Behauptungen von Pathologin Ute Krüger widersprechen. 

Brustkrebsfälle seit Jahren auf ähnlichem Niveau

Krüger beginnt mit der Behauptung, seit Herbst 2021 habe sie "häufiger als gewohnt Tumore jüngerer Patientinnen, oft zwischen 30 und 50 Jahre alt" sowie "mehr aggressiv wachsende Tumore und somit größere Tumore" beobachtet und einen Zusammenhang mit der Covid-Impfung gesehen. Ihre Erklärung für diese Schlussfolgerung ist, dass die Tumore "wiederholt wenige Monate nach der Corona-Impfung" aufgetreten seien. Aufgrund ihres schnellen Wachstums bezeichnet sie diese Tumore als "Turbokrebs". 

Zunächst ist "Turbokrebs" kein medizinischer Fachbegriff. Er war bereits Bestandteil anderer Falschbehauptungen, die AFP widerlegt hat. Nach dem Beginn der Impfkampagne prägten ihn Impfgegnerinnen und -gegner. "Ich kann mich nicht erinnern, den Begriff 'Turbokrebs' jemals zuvor gehört zu haben", erklärte David Gorski, Co-Direktor der Michigan Breast Oncology Initiative, im Januar 2023 gegenüber AFP. "Er taucht in keiner Arbeit auf, die ich auf PubMed (einer Datenbank medizinischer Studien, Anm. d. Red.) finden konnte." 

Auch die Behauptung, es gebe einen Zusammenhang zwischen den Covid-Impfungen – meist sind wie im Artikel von Krüger mRNA-Impfstoffe gemeint – und Krebserkrankungen, ist nicht neu. AFP hat dazu bereits einen Faktencheck veröffentlicht. Der Artikel, der direkt auf Krügers Gastbeitrag antwortet, führt zu dieser Behauptung Zahlen des Zentrums für Krebsregisterdaten an. "Die Brustkrebsfälle in Deutschland sind nach Beginn der Impfungen nicht gestiegen", schreiben Hollersen und Rücker dazu auf der Basis dieser Daten. AFP hat sich die Daten angesehen. Die aktuellsten Zahlen für Brustkrebsfälle stammen von 2022. In dem Jahr erkrankten rund 74.500 Frauen aller Alterssparten in Deutschland an Brustkrebs, 2021 waren es etwa 75.500.

Beide Werte bedeuten keinen Anstieg: In den Jahren 2008 und 2009, lange vor der Pandemie, waren es jeweils etwa 78.000 Fälle. Kurz vor der Pandemie, im Jahr 2019, war der Wert mit etwa 74.800 Fällen ähnlich hoch wie in den Pandemiejahren selbst. 

Image
Screenshot der Brustkrebsfälle in Deutschland, Datenquelle Zentrum für Krebsregisterdaten: 31. Oktober 2024

Die Datenlage für Deutschland widerspricht somit der Behauptung von mehr Brustkrebsfällen seit Impfbeginn. Die Impfkampagne in Deutschland begann im Januar 2021.  Auch auf alle Krebsdiagnosen in Deutschland bezogen ist die Behauptung falsch, wie aus den Krebsregisterdaten hervorgeht: 

Image
Screenshot der erfassten Krebsdiagnosen in Deutschland, Datenquelle Zentrum für Krebsregisterdaten: 31. Oktober 2024

Auch die Datenlage in Schweden – wohin Krüger ausgewandert ist – deckt ihre Behauptungen nicht. Die Zahlen der schwedischen Gesundheitsbehörde zeigen, dass die Brustkrebsraten seit mehreren Jahrzehnten steigen (hier einsehbar). Wie die nachstehende Grafik zeigt, ist die Rate der neuen Brustkrebsfälle bei Frauen pro 100.000 Personen zwischen 1970 und 2023 gestiegen:

Image
Neue Brustkrebsfälle bei Frauen pro 100.000 Einwohner in Schweden im Zeitraum 1970-2023, Screenshot der Daten des schwedischen Amts für Gesundheit und Wohlfahrt: 13. November 2024

Die Daten für die Regionen Kalmar und Skåne, wo Krüger nach eigenen Angaben zuletzt gearbeitet hat, entsprechen dem nationalen Trend.

In einem Bericht über Brustkrebsstatistiken vom Oktober 2023, der Daten bis 2021 umfasst – ab diesem Jahr behauptet Krüger mehr Brustkrebsfälle festgestellt zu haben –, erklärt das Nationale Amt für Gesundheit und Wohlfahrt in Schweden, dass die Zahl der Frauen, bei denen jedes Jahr eine Diagnose gestellt wird, von 1975 bis 2021 um etwa 50 Prozent gestiegen ist (hier archiviert).

Währenddessen ist dem Bericht zufolge die Zahl der Todesfälle um fast 44 Prozent zurückgegangen ist. Die Inzidenz, also die Zahl der Neuerkrankungen, hat sich stabilisiert, während die Sterblichkeit weiter zurückgeht. Weiter wird erläutert, dass im ersten Pandemiejahr, also 2020, ein Rückgang der Neudiagnosen zu verzeichnen war. Nach Angaben der Schwedischen Krebsgesellschaft (hier archiviert) hat die Zahl der Krebsfälle seit 1980 insgesamt zugenommen.

In einemschwedischen Faktencheck vom April 2024 erklärte Malin Sund, Vorsitzende des Forschungsausschusses der Schwedischen Krebsgesellschaft, Krebsforscherin und Krebschirurgin, dass es nach der Pandemie zu einem Anstieg bestimmter Krebsarten und Diagnosen in späteren Stadien gekommen ist, was aber nicht auf die Impfstoffe zurückzuführen ist.

Sie sagte, dass Vorsorgeuntersuchungen abgesagt wurden und die Bevölkerung im Allgemeinen medizinische Einrichtungen aus Angst vor Ansteckung während der Pandemie mied. "Infolgedessen sieht man jetzt nach der Pandemie einen Anstieg bestimmter Krebsarten, und es gibt mehr Menschen, bei denen Krebs in späteren Stadien diagnostiziert wird", erklärte sie in einer E-Mail am 8. April 2024. Sund fügte hinzu, dass ein Zusammenhang zwischen Impfung und Krebs in der Literatur nicht bewiesen sei.

"Im Gegenteil, die Impfstoffe haben es möglich gemacht, dass mehr Krebspatientinnen und -patienten auch während der Pandemie behandelt werden konnten, weil man infizierte Patientinnen und Patienten mit Symptomen nicht behandeln konnte", erklärte sie. Auch Operationen seien für Infizierte riskant.

Britischer Studie fehlt größerer Kontext

Als nächstes führt Krüger in ihrem Text eine Studie aus Großbritannien an, die eine Zunahme der Krebstodesfälle von 15- bis 44-Jährigen belegen soll. Beispielhaft nennt sie prozentuale Anstiege der Todesrate durch Brustkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs oder auch schwarzen Hautkrebs. Der Autor der Datenanalyse, Carlos Alegria, ist der Forschungsdatenbank Researchgate zufolge Doktor der Philosophie und Experte in den Themenbereichen Finanzanalyse und Investment. Medizinische Expertise wird nicht aufgelistet und führt er selbst auch auf der Business-Plattform Linkedin nicht auf. 

In ihrer Antwort auf den Gastbeitrag setzen Hollersen und Rücker die Zahlen in einen größeren Kontext. Beispielsweise sei die angeblich exorbitante Steigerung von Todesfällen aufgrund von Bauchspeicheldrüsenkrebs dadurch zu erklären, dass nur sehr wenige Menschen unter 45 Jahren in Großbritannien an diesem Krebs sterben. Kommen nur wenige Fälle dazu, ist der prozentuale Anstieg entsprechend weitaus höher. Zudem formuliert Alegria in der Datenanalyse keine Kausalität, sprich: er führt die gestiegenen Sterbefälle nicht explizit auf Covid-Impfungen zurück und schließt damit, dass weitere Forschung nötig sei.

Korrelation und Kausalität werden häufig miteinander verwechselt. Kausalität bedeutet, dass zwei Faktoren miteinander in Beziehung stehen und die Veränderung von einem Faktor definitiv durch den anderen Faktor hervorgerufen wird. Andere Einflüsse müssen dabei ausgeschlossen werden können. Dagegen bedeutet Korrelation, dass zwei Dinge miteinander in Beziehung stehen, also beispielsweise gleichzeitig oder kurz aufeinanderfolgend passieren, es allerdings nicht erwiesen ist, dass eines der Dinge die Ursache des anderen ist.

In Bezug auf die Behauptung, die Covid-Impfstoffe seien für die hohe Zahl von Todesfällen im Vereinigten Königreich verantwortlich, erklärte Paul Hunter, Medizinprofessor der Universität East Anglia in England, für einen weiteren AFP-Faktencheck am 28. April 2023, diese sei "falsch und es gibt keine stichhaltigen Beweise, die das belegen". 

Auch für Deutschland trifft die Aussage nicht zu, betrachtet man die Zeitreihe der Sterbefälle durch Krebs im Allgemeinen sowie die genannten Krebsarten in der untersuchten Altersspanne:

Image
Screenshot der erfassten Todesfälle durch ausgewählte Krebsarten in Deutschland, Datenquelle Zentrum für Krebsregisterdaten: 31. Oktober 2024

Für keine der genannten Krebsarten sowie alle Krebsarten zusammengefasst kann eine Zunahme über die Jahre, insbesondere während der Pandemie und nach Impfbeginn, festgestellt werden. Eine Sprecherin des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) erklärte in einer E-Mail vom 10. Oktober 2024 an AFP, dass die Datenlage in Bezug auf alle Altersgruppen gegen die Behauptungen von Krüger spreche: "In der bundesdeutschen Todesursachen-Statistik findet sich bis 2023 kein Anstieg bei den Krebssterbefällen."

Übersterblichkeit hat andere Ursachen als Impfung

Als nächstes behauptet Krüger, im zweiten und dritten Jahr der Coronapandemie habe es einen beträchtlichen "Anstieg der Übersterblichkeit" gegeben, "der nicht durch die Corona-Infektionen erklärt werden kann, sondern im Zusammenhang mit den Corona-Impfungen zu sehen ist". Zusätzlich führt Krüger an, dass auch die Rate der Totgeburten angestiegen sei und im dritten Jahr der Pandemie mit der Anzahl der Covid-Impfungen korreliert habe.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge gab es in den ersten beiden Pandemiejahren tatsächlich rund 70.000 bis 100.000 Sterbefälle mehr als zuvor angenommen wurde. Die Studie, die Krüger in diesem Zusammenhang anführt, hat sich die Faktencheck-Redaktion der Tagesschau genauer angesehen. Statistikexperten kommen der Tagesschau zufolge zu dem Ergebnis, dass die Schwankung der Übersterblichkeit mit einem anderen Berechnungsmodell geringer ausfällt. Die trotz Covid-Impfung steigenden Sterbefallzahlen ließen sich vielmehr dadurch erklären, dass der Umgang mit der Pandemie im Verlauf ein anderer geworden sei und sich neue, ansteckendere Varianten des Coronavirus entwickelt hätten. Dadurch seien die Covid-Infektionen weitaus mehr geworden.

Auch die steigende Zahl der Totgeburten stehe in keinem Zusammenhang mit den Covid-Impfstoffen. Vielmehr ist diese steigende Tendenz bereits seit 2013 zu beobachten, wie eine Studie aus dem Jahr 2021 zeigt (hier archiviert). Es wurde bereits mehrfach fälschlich behauptet, dass Corona-Impfungen für Totgeburten sorgen würden – AFP hat einige der Behauptungen bereits widerlegt.

Test von Covid-Impfungen: Alle Phasen durchlaufen

Zur Sicherheit der Impfstoffe äußert sich Krüger in ihrem Artikel ebenfalls. Sie seien "nach nicht mal einem Jahr, völlig unzureichend getestet, auf den Markt gekommen", behauptet sie. Auch dazu hat AFP, vor allem in der Zeit nach Impfbeginn, Faktenchecks veröffentlicht und diese Behauptung widerlegt. Zwar war das Zulassungsverfahren für die Covid-Impfstoffe beschleunigt, ihre Wirksamkeit wurde dennoch ausreichend an Tieren und Menschen getestet, erklärten Fachleute.

Wenn Impfstoffe entwickelt würden, kämen in der Regel in zwei verschiedenen Phasen Tiere zum Einsatz, erklärte Kirk Leech, Geschäftsführer der European Animal Research Association, gegenüber AFP im Mai 2021. Das war auch für die Impfstoffe gegen Covid-19 der Fall. "Wenn Sicherheit und Wirksamkeit in den präklinischen Versuchen nicht gewährleistet sind, wird die Studie nicht fortgesetzt" – auf die Corona-Impfstoffe traf das nicht zu. Moderna und Pfizer hätten wegen der Dringlichkeit während der Pandemie die Impfstoffe an Tieren und Menschen gleichzeitig getestet. Zudem wurde die für einige Impfstoffe verwendete mRNA-Technologie bereits seit den 1990er-Jahren erforscht und war somit nicht gänzlich neu.

Die Schweizer Akademie der Naturwissenschaften erklärt online, dass die Erforschung und Zulassung der Covid-Impfstoffe schneller gelingen konnte, weil viele Pharmaunternehmen gleichzeitig an Impfstoffen forschten und dafür staatliche Zuschüsse bekamen, was ihr wirtschaftliches Risiko minimierte. Auch eine vereinfachte Bürokratie und Vorkenntnisse beispielsweise zur mRNA-Technologie haben demnach bei der schnellen Erforschung geholfen.

Alle Faktenchecks zu Impfungen und Covid-19 finden sich auf der AFP-Website.

Fazit: Corona-Impfungen rufen keinen "Turbokrebs" hervor. Sowohl für verschiedene Krebsarten wie Brustkrebs, aber auch bezogen auf alle Krebserkrankungen in Deutschland sind weder Diagnosen noch Todesfälle durch Covid-Impfungen angestiegen, wie lange Zeitreihen zeigen. Auch die Test- und Zulassungsverfahren der Impfstoffe waren zwar beschleunigt, aber ausreichend getestet und es wurden keine Etappen übersprungen.

Daten zu Brustkrebsfällen in Schweden hinzugefügt
14. November 2024 Daten zu Brustkrebsfällen in Schweden hinzugefügt

Haben Sie eine Behauptung gefunden, die AFP überprüfen soll?

Kontaktieren Sie uns