Norwegen hat Covid-19 nicht als genauso gefährlich wie die Grippe eingestuft

Tausende User haben auf Facebook Ende September ein Bild und mehrere Artikel über eine angebliche neue Klassifizierung von Covid-19 in Norwegen geteilt. So heißt es, dass das norwegische Institut für öffentliche Sicherheit (FHI) Covid-19 als “nicht gefährlicher als die herkömmliche Grippe” eingestuft habe. Das FHI und zwei norwegische Immunologen dementierten die Informationen gegenüber AFP und erklärten, es handele sich um eine Fehlinterpretation eines Artikels in einer norwegischen Zeitung. Nach Ansicht der WHO und mehrerer Wissenschaftler gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass Covid-19 gefährlicher ist als die Grippe.

Mehr als 7000 Nutzerinnen und Nutzer haben die Norwegen-Behauptung auf Facebook und Instagram geteilt (hier, hier, hier, hier). Auf Telegram erreichte sie Hunderttausende (hier, hier).

Unter den reichweitenstärksten Verbreitern der Behauptung sind unter anderem der russische Staatssender RT Deutschland, der bayerische AfD-Landespolitiker Andreas Winhart, die AfD-Landesfraktion selbst und die NRW-Spitzenpolitikerin Nathalie Sanchez Friedrich der “Querdenker”-Partei “Die Basis”. Auch die Blogs “Uncut News” und “Report24” haben Artikel mit der Behauptung verfasst.

Die irreführende Behauptung: Sie alle behaupten inhaltlich gleich, dass die FHI Covid-19 “nicht gefährlicher als die herkömmliche Grippe” eingestuft habe.

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Facebook-Screenshot: 05.10.2021

Die Behauptungen in den Postings beziehen sich alle auf ein Interview der norwegischen Tageszeitung “Verdens Gang” (VG) mit dem stellvertretenden Direktor des Folkehelseinstituttet (FHI), Geir Bukholm, vom 20. September 2021. Es handelt sich um das norwegische Institut für öffentliche Gesundheit, das im Englischen mit NIPH (Norwegian Institute of Public Health) abgekürzt wird. Die Abkürzungen variieren in den Postings.

Was steht im Interview?

In dem Interview sagt Bukholm: “Wir befinden uns jetzt in einer neuen Phase, in der wir das Coronavirus als eine von mehreren Atemwegserkrankungen mit saisonalen Schwankungen betrachten müssen.” Etwas später sagt er außerdem: “Das Coronavirus reiht sich damit in eine Reihe mit anderen Atemwegserkrankungen wie Erkältung und saisonale Grippe ein.” (Übersetzung von AFP).

Abgesetzt und gefettet folgt der Satz: “Das bedeutet, dass das Coronavirus nun insbesondere mit der saisonalen Grippe und RS-Infektionen (Respiratorisches Syncytial-Virus) verglichen werden kann.” Ob es sich dabei um die Schlussfolgerung Bukholms oder der Autoren des Interviews handelt, ist wegen der Form des Interviews unklar.

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Verdens Gang-Screenshot: 04.10.2021

Im Interview macht Bukholm jedoch klar, dass die Pandemie nicht vorbei sei, solange in anderen Ländern die Impfquote gering sei und Corona sich dort ausbreite. Das norwegische Gesundheitssystem werde zwar im Winter angesichts einer Kombination von Covid-19, dem RS-Virus und der Grippe herausgefordert, aber nicht zu sehr belastet werden. Auch neue Varianten des Coronavirus spielten dabei eine Rolle. Er empfiehlt, sich weiter an Hygieneregeln zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn man krank ist.

Der in Facebook-Posts zitierte Satz “nicht gefährlicher als eine Grippe” fällt an keiner Stelle. Auch inhaltlich gibt es keine ähnliche Formulierung.

Fehlinterpretation des Interviews

AFP hat das norwegische Gesundheitsinstitut FIH um eine Stellungnahme zu dem Interview und der Behauptung gebeten. Am 29. September antwortete es: “Es ist nicht richtig, dass das norwegische Institut für öffentliche Gesundheit behauptet hat, dass ‘Covid-19 nicht gefährlicher ist als eine normale Grippe’.” Und weiter: "Diese Aussage ist wahrscheinlich eine Fehlinterpretation des Interviews in einer großen norwegischen Zeitung."

Das FIH erklärt weiter: "Wie in dem [VG-]Nachrichtenartikel dargelegt, sind wir der Meinung, dass wir Covid-19 zum jetzigen Zeitpunkt der Pandemie als eine von mehreren Atemwegserkrankungen betrachten müssen, die mit saisonalen Schwankungen zirkulieren. Das bedeutet, dass die Bekämpfungsmaßnahmen, die für die verschiedenen Atemwegserkrankungen gelten, dasselbe Maß an gesellschaftlicher Bereitschaft erfordern werden. Das bedeutet nicht, dass Erkrankungen durch das Coronavirus und die saisonale Grippe gleich sind.”

Der epidemiologische Kontext in Norwegen

Auch Gunnveig Grødeland, Immunologin von der Universität Oslo, erklärte gegenüber AFP: “Was die Auffassung des Norwegischen Instituts für öffentliche Gesundheit zu SARS-CoV-2 betrifft, hat es meines Wissens in Norwegen keine formelle Neueinstufung gegeben.”

Die aktuelle Situation in Norwegen beschrieb sie in ihrer E-Mail vom 30. September wie folgt: “Wir befinden uns derzeit in einer Situation, in der die hohe Durchimpfung eine Rückkehr zum normalen Leben ermöglicht hat. Dementsprechend beobachten wir, dass die durch Covid-19 verursachten Krankenhausaufenthalte überschaubar sind und derzeit nicht in einer Weise zunehmen, die Anlass zur Sorge gibt. Die Situation in Norwegen ist also vergleichbar mit der Krankheitslast, die häufig mit der saisonalen Grippe verbunden ist.”

Auch Anne Spurkland, Molekular-Biologin an der Universität Oslo, schilderte gegenüber AFP am 30. September die aktuelle Situation: "In den letzten Wochen haben wir in Norwegen einen allmählichen Rückgang der bestätigten Fälle und eine gleichbleibende oder abnehmende Zahl von Hospitalisierungen erlebt, obwohl zu Beginn des Schuljahres im August viele Beschränkungen aufgehoben wurden. Es bleibt zu hoffen, dass die Impfkampagne in Norwegen erfolgreich genug war, um die weitere Ausbreitung des Virus zu begrenzen.”

In Norwegen haben nach den neuesten Zahlen des Gesundheitsministeriums vom 30. September 90,7 % der Bevölkerung über 18 Jahren eine erste Dosis des Impfstoffs erhalten, und 84,4 % der norwegischen Erwachsenen sind doppelt geimpft.

Nach Angaben des norwegischen Gesundheitsinstituts FHI verzeichnete Norwegen bis zum 6. Oktober 2021 insgesamt 191.016 Coronainfizierte und eine niedrige Sterblichkeitsrate. Seit Beginn der Pandemie wurden nur 861 Todesfälle in einer Bevölkerung von etwas mehr als fünf Millionen verzeichnet.

Die meisten der im März 2020 zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie eingeführten Beschränkungen, wie das Tragen von Masken, soziale Distanzierung oder begrenzte Sitzplätze bei Kultur- oder Sportveranstaltungen, wurden von der norwegischen Regierung angesichts der verbesserten Lage im Land am 25. September wieder aufgehoben.

Die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg warnte damals, dass das Coronavirus "noch jahrelang unter den Norwegern bleiben wird". Die Möglichkeit, im Falle einer explosionsartigen Ausbreitung einer neuen Variante wieder Gesundheitsmaßnahmen einzuführen, schloss sie nicht aus.

Covid-19 ist gefährlicher als die Grippe

Die Gefährlichkeit von Covid-19 mit einer “herkömmliche Grippe” zu vergleichen, ist auch nicht durch die Daten zu der Erkrankung gedeckt. Zwar haben die saisonale Grippe und Covid-19 relativ ähnliche Symptome, wie auf der Website der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erläutert wird, doch zeigen die Übertragungs- und Vermehrungsraten des Coronavirus und seine Sterblichkeitsrate, dass Covid-19 gefährlicher ist als die Grippe.

Zahlreiche Experten, die von AFP in mehreren Faktenchecks befragt wurden, erklärten, dass Covid-19 aus verschiedenen Gründen gefährlicher ist als die Grippe (hier und hier). So sterben Covid-19-Infizierte häufiger an der Krankheit als Grippe-Erkrankte.

Das FHI erklärte auf AFP-Anfrage: “Auf individueller Ebene müssen die Menschen die richtige Behandlung für die jeweilige Krankheit erhalten. Wir werden die Epidemiologie sowohl von Covid-19 als auch von anderen Atemwegserkrankungen kontinuierlich verfolgen und darauf vorbereitet sein, bei einer Verschlechterung der Umstände anders zu reagieren.”

Der Coronavirus-Pandemie sind mit Stand 4. Oktober 2021 weltweit mindestens 4,8 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, seit das WHO-Büro in China den Ausbruch Ende Dezember 2019 gemeldet hatte. Seit Beginn des Ausbruchs wurden offiziell mehr als 235 Millionen Infektionsfälle diagnostiziert. Die überwiegende Mehrheit der Patienten erholt sich vollständig, aber ein Teil der Betroffenen leidet noch wochen- oder sogar monatelang an den Langzeitfolgen.

Reaktion der Redaktionen

AFP hat RT Deutsch, Uncut News und Report24 wegen der falschen Behauptung kontaktiert.

Nach AFP-Anfrage vom 4. Oktober veröffentlichte RT Deutsch einen neuen Facebook-Post, in dem die Redaktion erklärte, dass sie das Zitat “Wir können das Coronavirus jetzt mit der Grippe vergleichen” falsch interpretiert hätten. Der ursprüngliche Post sei “falsch”. RT Deutsch verwies auch darauf, dass es in dem Interview mit Geir Bukholm heiße: “Wir befinden uns jetzt in einer neuen Phase, in der wir das Coronavirus als eine von mehreren Atemwegserkrankungen mit saisonalen Schwankungen betrachten müssen.” Der ursprünglichen Post wurde allerdings nicht korrigiert.

UncutNews erklärte in einer E-Mail am 5. Oktober, dass sie lediglich einen fehlerhaften englischen Artikel übersetzt hätten. UncutNews hat den eigenen Artikel gelöscht.

Report24 wollte sich bis zum 6. Oktober zum von AFP dargestellten Sachverhalt nicht äußern.

Fazit: Die Behauptung, dass Norwegen Covid-19 als “nicht gefährlicher als die herkömmliche Grippe” eingestuft habe, ist falsch. Der stellvertretende Direktor des norwegischen Folkehelseinstituttet (FHI), auf den sich dieses Zitat angeblich stützt, hat dies so nicht gesagt. Auch Expertinnen und Behörden widersprechen der Behauptung. Daten zeigen außerdem, dass Covid-19 tödlicher als die Grippe ist.

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