Diese medizinische Fachzeitschrift behauptet nicht, dass Covid-19-Impfstoffe wirkungslos sind

Nutzerinnen und Nutzer in sozialen Netzwerken behaupten, ein in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichter Artikel zeige, dass Corona-Impfstoffe wenig Schutz bieten würden. Sie stellen dabei allerdings eine Messangabe zur Wirksamkeit des Impfstoffs aus der Studie falsch dar. Die Studienautorinnen und -autoren bestätigten auch gegenüber AFP, dass die Impfungen wirken.

Nutzerinnen und Nutzer haben Ende September in sozialen Medien eine Behauptung geteilt, wonach eine Studie des wissenschaftlichen Fachmagazins "The Lancet" die "Marketing-Lügen" von Impfkonzernen aufgedeckt habe. Dutzende teilten die Behauptung auf Facebook (hier, hier, hier), Zehntausende sahen sie auf Telegram (hier, hier, hier). Auch ein auf Facebook zehntausendfach geteiltes Video stellt die Berechnung der Zahlen auf eine ähnliche Art infrage.

Die Falschbehauptung: Die Postings stellen einen "beworbenen Schutz" einem "tatsächlichen Schutz" gegenüber. Konkret seien das 95,03 Prozent gegenüber tatsächlich nur 0,84 Prozent Schutz (Pfizer/Biontech), 94,08 Prozent gegenüber 1,24 Prozent (Moderna), 66,62 Prozent gegenüber 1,19 Prozent (Janssen) und 66,84 Prozent gegenüber 1,28 Prozent (Astrazeneca).

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Facebook-Screenshot: 24.09.2021

Die Posting-Autorinnen und Autoren benutzen bestimmte Begriffe, die zunächst einer Erklärung bedürfen. Eine dem Posting beigestellte Graphik etwa konkretisiert die angegebenen Zahlen der "beworbenen Impfwirksamkeit" als relative Risikoreduktion (RRR) und die angeblich tatsächliche Wirksamkeit als absolute Risikoreduktion (ARR).

Die relative Risikoreduktion beschreibt, um wie viel das Risiko durch eine Veränderung verringert wird, etwa durch die Injektion eines Impfstoffs. Diese Zahl zeigt, wie gut der Impfstoff einen Patienten vor einer Krankheit schützt und wird auch von Medien gerne zur Veranschaulichung herangezogen. Die absolute Risikoreduktion dagegen gibt an, um wie viele das bestehende Risiko bezogen auf alle Untersuchten durch eine Veränderung wie der Impfung schwankt, also die Differenz zwischen dem Risiko der behandelten Gruppe und einer Placebogruppe.

Ein Beispiel: An einer Studie nehmen 40.000 Personen teil, 20.000 erhalten einen Impfstoff, 20.000 ein Placebo. In der Placebogruppe erkranken 200 Personen. In der Impfstoffgruppe erkrankt niemand. Die RRR-Wirksamkeit des Impfstoffes würde damit bei 100 Prozent liegen. Die Berechnung der absoluten Risikoreduktion würde allerdings zeigen, dass dieser Impfstoff das Risiko nur um einen Prozentpunkt senkt. Wenn 200 der 20.000 Personen in der Placebogruppe erkranken, sind das ein Prozent der gesamten Gruppe. Da in der Impfstoffgruppe aber niemand, also null Prozent, von den 20.000 Personen erkranken, entspricht die Differenz zwischen beiden Prozentzahlen eins und null einem Prozentpunkt.

Das kann irreführend sein, je nachdem wie man dieses Ergebnis präsentiert, erklären ein Beitrag des Gesundheitsnetzwerkes Cochrane, und auch das deutschen Ärzteblatt.

Die Lancet-Publikation

So ähnlich sieht das auch die Lancet-Publikation. Die medizinische Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichte die Einschätzung im April 2021 als Kommentar, nicht als peer-reviewte Studie. Ein Kommentar zeigt eine Meinungsaussage und keinen wissenschaftlichen Versuchsaufbau.

Der Lancet-Kommentar diskutiert die verschiedenen Arten, in denen Impfwirksamkeit angegeben werden kann, und kommt zu dem Schluss, dass die meistens verwendete relative Risikoreduktion nicht die einzige Größe bei Entscheidungen der öffentlichen Gesundheit sein sollte. Die absolute Risikoreduktion müsse ebenfalls berücksichtigt werden, um ein vollständiges Bild von der Wirksamkeit eines Impfstoffs zu erhalten.

Der Lancet-Artikel besagt etwa, dass die Impfung von Pfizer-Biontech eine relative Risikoreduktion von 95 Prozent aufweise, für den Impfstoff von Astrazeneca sind es 67 Prozent. Unter Beachtung der absoluten Risikoreduktion könnte allerdings der Astrazeneca- Impfstoff die wirksamere Option sein. Wenn die Daten auf diese Weise – unter Berücksichtigung der Zahl der Personen, die geimpft werden müssen, um einen weiteren Corona-Fall zu verhindern – untersucht werden, zeige sich, dass die Impfstoffe mit niedrigerer relativer Risikoreduktion in Gruppen mit verschiedenen Risikofaktoren wirksamer sein können.

Der Artikel behauptet keineswegs, dass die Impfstoffe nicht wirksam sind. Er weist lediglich darauf hin, dass der Vergleich der Wirksamkeit eines Impfstoffs mit der eines anderen nicht so eindeutig ist, wie es die relative Risikoreduktion vermuten ließe.

In den aktuell geteilten Grafiken werden die scheinbar geringen ARR-Wirksamkeiten hervorgehoben und als Beweis dafür angeführt, dass die Impfstoffe nicht wirksam seien. Der Text, der die Grafiken begleitet, verdreht das noch weiter. Er bezeichnet die ARR-Angaben als "tatsächlichen Schutz" und stellt sie den RRR-Angaben als "beworbener Schutz" gegenüber. Der Lancet-Beitrag hat aber nicht herausgefunden, dass die Wirksamkeit niedriger sei als ursprünglich angegeben, sie hebt nur verschiedene Messtechniken hervor.

Luís Correia, außerordentlicher Professor für evidenzbasierte Medizin an der Bahiana School of Medicine and Public Health in Brasilien, erklärte AFP am 27. Mai, dass die ARR-Zahl in der Regel gering ist, weil die Menschen den Schutz nur dann aktiv wahrnehmen, wenn sie sich andernfalls mit der Krankheit angesteckt hätten: "Die meisten werden ohnehin nicht an Covid erkranken, sodass sie den Schutz nicht in Anspruch nehmen würden", aber alle sollten geimpft werden, damit die Minderheit vor einer Infektion geschützt werde, sagte Correia.

Die Autorinnen und Autoren empfehlen die Impfung

Piero Olliaro ist einer der Autoren des Lancet-Kommentars. "Es ist äußerst enttäuschend zu sehen, wie Informationen verdreht werden können und wie spaltend die Diskussionen insbesondere über Covid-19-Impfstoffe geworden sind, da sie sich offensichtlich mit der allgemeinen Impfverweigerung und den Impfgegner-Segmenten in der Bevölkerung überschneiden", sagte er am 27. Mai gegenüber AFP.

Er erklärte weiter: "Wir sagen nicht, dass Impfstoffe nicht funktionieren. Wir sagen, dass Impfstoffe funktionieren, und fügen Überlegungen über die intrinsische Wirksamkeit von Impfstoffen und ihre Effektivität bei der Anwendung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen hinzu." Er führte aus, dass Studien auch die absolute Risikoreduktion angeben sollten: "Es ist falsch, Impfstoffe auf der Grundlage von klinischen Studien zu vergleichen, die unter verschiedenen Bedingungen durchgeführt wurden, dabei die relative Risikoreduktion (RRR) zu verwenden und anzunehmen, dass Impfstoffe mit einer niedrigeren RRR nicht gut genug wirken." Sein Fazit: "Unterm Strich sind diese Impfstoffe gute Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit."

Els Torreele, eine weitere Autorin des Lancet-Kommentars, stimmte zu: "Am wichtigsten: Die Covid-19-Impfstoffe wirken sehr gut!", schrieb sie in einem Twitter-Thread im Mai 2021, der Impfgegener dafür kritisierte, den Artikel zu verwenden, "um alle möglichen Dinge zu behaupten, die falsch sind".

Impfungen sind sicher

Einem Bericht der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zufolge haben sich die Impfstoffe als wirksam gegen das Coronavirus erwiesen: "FDA-zugelassene Covid-19-Impfstoffe sind sicher und wirksam", heißt es dort. Auch das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) schreibt auf seiner Website von einer hohen Wirksamkeit von etwa 98 Prozent von mRNA-Impfstoffen und einer Wirksamkeit von bis zu 80 Prozent beim Vektorimpfstoff Astrazeneca. Inwieweit die Wirksamkeit über die Zeit abnimmt, ist gerade Teil einer Diskussion.

Fazit: Die Autorinnen und Autoren eines Kommentars in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" haben nicht herausgefunden, dass Corona-Impfstoffe weniger wirksam sind als beworben. Sie schlagen nur zusätzlich eine andere Angabe vor, die Risiken anders abbildet.

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