
Nicht strafbar: Merz' Kurswechsel bei der Schuldenbremse ist rechtlich keine Wählertäuschung
- Veröffentlicht am 28. März 2025 um 14:18
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
Copyright © AFP 2017-2025. Für die kommerzielle Nutzung dieses Inhalts ist ein Abonnement erforderlich. Klicken Sie hier für weitere Informationen.
"Friedrich Merz müsste für seine Wählertäuschung eigentlich in den Knast!", hieß es beispielsweise in einem Facebook-Beitrag vom 16. März 2025. Dazu wurde in dem Post auf Paragraph 108a des Strafgesetzbuches (StGB) verwiesen. Die Behauptung wurde in ähnlicher Form auch auf Tiktok, Telegram, Youtube und X geteilt. In einigen Beiträgen, beispielsweise auf Telegram, wird lediglich die Frage gestellt "Hat sich Merz mit Wählertäuschung strafbar gemacht?", wodurch jedoch ebenfalls eine Straftat suggeriert wird.
Sehr viel Reichweite bekamen zudem ein Facebook-Post des AfD-Europaabgeordneten Petr Bystron sowie ein X-Beitrag des AfD-Politikers Christian Abel. Abel war bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im März 2025 angetreten, hat jedoch kein Mandat errungen. Die AfD-nahe Nachrichtenwebsite "Deutschland-Kurier" berichtete zudem über die Strafanzeige eines Anwalts gegen Merz wegen Wählertäuschung. Eine Strafanzeige alleine ist jedoch kein Beleg für eine Straftat, wie auch "Correctiv" berichtete. Falschinformationen des "Deutschland-Kurier" hat AFP bereits in der Vergangenheit widerlegt.

Hintergrund dieser Behauptung ist die politische Kehrtwende von Friedrich Merz (CDU) in der Schuldenpolitik. Hatte der Wahlsieger vor der Bundestagswahl 2025 im Februar noch erklärt, er werde an der Schuldenbremse festhalten, machte der CDU-Kanzlerkandidat kurze Zeit später Druck, dass eine Lockerung der Schuldenbremse schnellstmöglich im Bundestag beschlossen werden müsse. Mitte März 2025 wurde schließlich eine Grundgesetzänderung in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags beschlossen, der Merz und die CDU bis auf wenige Abweichler zustimmten. Dadurch werden Abweichungen von der Schuldenbremse ermöglicht. Mit einer "Schuldenbremse verpflichtet sich ein Staat, neue Schulden nur noch bis zu einer bestimmten Höhe zu machen", erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung online dieses politische Instrument.
"Ausgaben für Verteidigung und bestimmte sicherheitspolitische Ausgaben ab einer bestimmten Höhe sollen künftig nicht mehr auf die Schuldenregel des Grundgesetzes angerechnet werden", schrieb der Deutsche Bundestag zum Ergebnis der Abstimmung. "Darüber hinaus soll im Grundgesetz die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von 500 Milliarden Euro 'für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045' ermöglicht werden." Auch Kredite sollen in diesem Zusammenhang von der Schuldenbremse ausgenommen werden.
Merz begründete seine Meinungsänderung mit Umständen, die sich in der Zwischenzeit verändert hätten: Nach dem Eklat im Weißen Haus am 28. Februar 2025 zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj befänden sich Deutschland und Europa in einer besorgniserregenden Sicherheitslage, der mit erhöhten Verteidigungsausgaben schnellstmöglich Rechnung getragen werden müsse, so Merz' Auffassung der Lage.
Laut dem Politbarometer vom 21. März 2025, einer regelmäßigen Umfrage zu parteipolitischen Präferenzen von Befragten in Deutschland, werfen 73 Prozent der Befragten Merz und der CDU/CSU Wählertäuschung wegen dieser Kehrtwende vor. Auch im Wahlprogramm der CDU hieß es: "Wir halten an der Schuldenbremse des Grundgesetzes fest." In sozialen Medien leiteten Nutzerinnen und Nutzer ab, Merz' Verhalten sei illegal gewesen und führen als vermeintlichen Beweis Paragraph 108a StGB an.
Die Behauptung, Merz' gebrochenes Wahlversprechen wäre nach Paragraph 108a StGB strafbar, ist jedoch falsch.
Das Strafrecht kennt eine Reihe von Straftaten, die sich auf Wahlen beziehen. Darunter ist in Paragraph 108a StGB der Straftatbestand der Wählertäuschung beschrieben. Darin heißt es: "Wer durch Täuschung bewirkt, dass jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Paragraph bezieht sich auf Stimmabgabe statt Wahlversprechen
Politische Aussagen sind davon jedoch nicht erfasst. "Eine Meinungsänderung, selbst ein bewusstes Belügen von Wählern in der Wahlwerbung ist nach deutschem Strafrecht nicht strafbar", erklärte Jens Bülte, Professor und Lehrstuhlinhaber für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an der Universität Mannheim am 24. März 2025 auf AFP-Anfrage. Gerhard Seher, Professor für Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Rechtsphilosophie an der Freien Universität Berlin, bestätigte das. "108a StGB erfasst nur Täuschungen, die dazu führen, dass der Wähler bei der unmittelbaren Stimmabgabe anders handelt, als er es eigentlich will", schrieb er auf AFP-Nachfrage am 26. März 2025.
Die Rechtswissenschaftler nennen Beispiele, welche Handlungen im Sinne dieses Paragraphen als Wählertäuschung gelten: Etwa "ein falscher akademischer Titel oder eine falsche Berufsbezeichnung" auf dem Stimmzettel fielen laut Bülte darunter, ebenso wenn "jemand durch Täuschung in den Glauben versetzt wird, er wähle den Gemeinderat, obwohl die Wahl den Bundestag betrifft".
Jemanden so zu täuschen, dass ein Wähler oder eine Wählerin ungültig wählt, obwohl er oder sie eine gültige Stimme abgeben wollte, ist Seher zufolge ebenfalls von Paragraph 108a StGB erfasst. So überprüfte AFP kurz vor der Bundestagswahl 2025 beispielsweise ein Sharepic mit der Aufforderung, den Wahlzettel zu unterschreiben, um Wahlbetrug zu verhindern. Ein weiteres Beispiel einer strafbaren Wählertäuschung sei es, jemandem einen falschen Wahltermin zu nennen, wodurch er oder sie den Wahltag verpasst, erklärte Seher. Die Entscheidungsfindung der Wählerinnen und Wähler selbst sei jedoch von dem Paragraphen nicht erfasst.
In einer Ausgabe der "Zeitschrift für Wahlorganisation und Wahlrecht" heißt es zudem, im allgemeinen Sprachgebrauch werde "Wählertäuschung" zwar für gebrochene Wahlversprechen verwendet. Illegal sei das jedoch nicht: "Diese zum Teil subjektiv empfundenen, zum Teil offensichtlichen Abweichungen von Wahlwerbeaussagen sind allenfalls politisch, nicht strafrechtlich erfassbar." Die Auslegung im Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch bestätigt diese Einschätzungen.
Wenngleich Merz sich somit nicht strafbar gemacht hat, schädigte er mit seiner Kehrtwende seine Glaubwürdigkeit, wie er selbst bei einer Veranstaltung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Ende März 2025 sagte: "Ich weiß, dass ich einen sehr hohen Kredit in Anspruch genommen habe, auch was meine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft."
Weitere Faktenchecks zu Wahlprozessen sammelt AFP auf der Website.
Fazit: Der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat sich nicht wegen Wählertäuschung nach Paragraph 108a StGB strafbar gemacht. Dieser Paragraph betrifft die Täuschung einer Person bei ihrer Stimmabgabe und umfasst keine politischen Kursänderungen gewählter Abgeordneter nach einer Wahl, erklärten Rechtsprofessoren gegenüber AFP.