
Trotz Versprecher bei Kanzlerwahl: Friedrich Merz rechtmäßig gewählt
- Veröffentlicht am 9. Mai 2025 um 18:45
- 4 Minuten Lesezeit
- Von: Elena CRISAN, AFP Österreich
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"Eindeutig Wahlbetrug!", hieß es am 7. Mai 2025 unter einem Facebook-Beitrag, den mehr als siebentausend Userinnen und User teilten. In dem verbreiteten Videoausschnitt ist zu sehen, wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner das Ergebnis des zweiten Wahlgangs in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestags am Vortag vorlas, und verkündete, dass Friedrich Merz im zweiten Durchgang die nötige Stimmenanzahl erreichte.
"Mitgliederzahl 613, abgegebene Stimmzettel 618, ungültige Stimmzettel drei", sagte Klöckner vom Pult. Weiter verkündete die CDU-Politikerin: "Mit Ja haben gestimmt 325 Abgeordnete", sagte sie, während Applaus ausbrach. Damit war Friedrich Merz zum Bundeskanzler gewählt.
"Dieser 2. Wahlgang war inszeniert", lautete ein Instagram-Kommentar. Auch auf Telegram wurde auf mehreren Kanälen die Frage gestellt, wie es zusammenpasst, dass im zweiten Wahlgang die Mitgliederzahl von 630 Abgeordneten auf 613 schrumpfte und gleichzeitig 618 Stimmzettel ausgewertet wurden. Auf X wurde diese Frage ebenfalls hitzig diskutiert. Auch über die Whatsapp-Tipline erreichten AFP Anfragen zu diesem Thema.

Doch die Aufschreie beruhen auf falschen Annahmen. Das belegen offizielle Sitzungsprotokolle, welche der Bundestag gegenüber AFP bestätigte.
Bundestagspräsidentin versprach sich
Die Mitgliederzahl des Deutschen Bundestags beträgt in der aktuellen Legislaturperiode 630 Abgeordnete. Beschlossen wurde diese Anzahl im Rahmen einer Wahlrechtsreform. Der Bundestag schrumpfte im Vergleich zu 2021 um etwa 100 Sitze.
Im stenografischen Bericht der zweiten Plenarsitzung der 21. Wahlperiode wurde sowohl beim ersten als auch dem zweiten Wahldurchgang dieselbe Anzahl von 630 Mitgliedern vermerkt. Die Anzahl der Mitglieder bleibt unverändert, unabhängig davon, wie viele Abgeordnete tatsächlich anwesend sind und ihre Stimme abgeben. Die Anzahl der Abgeordneten, die ihre Stimme abgegeben haben, wurde anschließend unter "abgegebene Stimmzettel" angeführt. Diese betrug 618 Stimmen im zweiten Wahldurchgang. Doch warum las die Bundestagspräsidentin 613 als Mitgliederzahl vor?
"Die Bundestagspräsidentin hat sich am 6. Mai bei der Verkündung des Ergebnisses versprochen", schrieb eine Pressesprecherin des Bundestags in einer E-Mail an AFP am 9. Mai 2025. "Im Protokoll wurde der Versprecher korrigiert", erklärte die Sprecherin.
Dieses ist auf der Website des Bundestags abrufbar. Das Ergebnis des zweiten Wahldurchgangs ist auf Seite 46 zu finden.

Der Ablauf war zudem bei der Wahl von Merz' Vorgänger Olaf Scholz am 8. Dezember 2021 ähnlich. Damals war Bärbel Bas (SPD) Bundestagspräsidentin, im Kabinett Merz wurde sie am 6. Mai 2025 als Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt. Damals las sie laut Sitzungsprotokoll ebenfalls zuerst die Mitgliederzahl, die abgegebenen Stimmen insgesamt, dann die ungültigen Stimmzettel und schließlich die Ja-Stimmen vor.
Zweiter Wahldurchgang war gesetzeskonform
Merz scheiterte im ersten Wahldurchgang. Statt der nötigen Mehrheit von mindestens 316 Stimmen erhielt der 69-Jährige nur 310 Stimmen – also sechs weniger als erforderlich. In deutschen Medienberichten war von einem "historischen" Vorgang die Rede. Bisher waren alle neun Bundeskanzler vor Merz im ersten Durchgang gewählt worden.
Das Grundgesetz sieht als "gewählt", "wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt". Wenn die designierte Person nicht die nötigen Stimme erreicht, "kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen".
Dieser Vorgang fand am selben Nachmittag des 6. Mai 2025 statt. Die gesamte Plenarsitzung ist auch in der Mediathek des Bundestags nachzuschauen. Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs wurde zirka ab Stunde 7:33:00 mitgeteilt. Die Tagesordnungspunkte sind ebenfalls der öffentlich zugänglichen Tagesordnung zu entnehmen.
Wie die Wahl des Bundeskanzlers abläuft
Bei der Kanzlerwahl handelt es sich um eine geheime Wahl, wie der Bundestag AFP mitteilte. Deshalb könne "kein Wahlausweis einer Stimmkarte zugeordnet werden". Dennoch wurde dokumentiert, wer sich an der Wahl beteiligte. Das ist durch den Wahlausweis möglich. Die Liste der Abgeordneten, die abgestimmt haben, ist ebenfalls im Protokoll ab Seite 51 ersichtlich.
Wie die Bundestagspräsidentin die Abgeordneten unterrichtete und auch der Tagesordnung zu entnehmen ist, benötigten die Anwesenden bei der Wahl einen Wahlausweis sowie eine Stimmkarte. Der Wahlausweis trug den Namen der jeweiligen Abgeordneten, die Stimmkarte blieb jedoch geheim. Wer an der Wahl teilnahm, konnte nachvollzogen werden, nachdem die Abgeordneten ihren Wahlausweis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an der Wahlurne übergaben.
Nach 16.15 Uhr las Bundestagspräsidentin Klöckner das Ergebnis also vor, mit 325 Ja-Stimmen nahm Merz die Wahl formell an.
Das waren neun Stimmen mehr, als Merz mindestens gebraucht hätte. Er hätte die Wahl somit auch ohne die vermeintlich fünf erfundenen Stimmen gewonnen.
AFP überprüfte mehrere Behauptungen zur Bundestagswahl 2025.
Fazit: Friedrich Merz wurde am 6. Mai 2025 zum Bundeskanzler Deutschlands gewählt. Bei der Wahl wurden nicht mehr Stimmzettel als Bundestagsmitglieder gezählt. Ein Video, in dem die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner das Ergebnis des zweiten Wahldurchgangs verkündete, zeigt bloß einen Versprecher. Der Bundestag hat 630 Mitglieder. Diese Zahl ändert sich auch nicht, wenn weniger Mitglieder anwesend sind.