Diese Aussage von Habeck zu Menschenleben kostenden Sanktionen wird aus dem Kontext gerissen
Hunderte User haben Ende Mai 2022 ein Video auf Facebook geteilt, das den deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos zeigt. In dem Video soll er angeblich erklären, dass für ihn trotz einer Hungerkrise die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland undenkbar sei – selbst wenn das 100.000 Menschenleben kosten würde. Das Video ist allerdings aus dem Kontext gerissen. Habeck nahm in dem Video rhetorisch die Perspektive Russlands ein.
Hunderte User haben Ende Mai 2022 das Video aus Davos auf Facebook geteilt (hier, hier, hier). Das Video kursiert auch auf Twitter und Telegram. Der vom russischen Staat betriebene Sender RT Deutschland titelte auf seiner Website zu der Szene: "Habeck: Trotz Hungerkrise undenkbar, Sanktionen gegen Russland aufzuheben." AFP hat RT Deutsch bereits mehrfach überprüft (hier, hier, hier).
Die Behauptung: User teilen das Davos-Video und schreiben in den Beitragstexten unter anderem: "Der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, erklärte am Montag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, dass eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ausgeschlossen sei, selbst wenn dies den Verlust von 100.000 Menschenleben bedeute."

Was sagt er im Video?
Das kursierende Video zeigt einen echten Ausschnitt eines Redebeitrags von Robert Habeck bei einer Podiumsdiskussion (Ausschnitt bei Minute 7:28) auf dem jährlichen Treffen des WEF in Davos am 23. Mai 2022. Die Diskussion trägt den Titel "Energieausblick: Überwindung der Krise".
Habeck erklärt bei der Diskussion, dass aktuell mehrere Krisen miteinander verbunden seien wie etwa die Inflation, die Energiekrise, ein zunehmender Lebensmittelmangel und die Klimakrise. "Stellen Sie sich vor, ein Teil der Welt würde im nächsten Jahr hungern. Es geht nicht um Hunger, welcher schon schlimm genug ist, es geht um globale Stabilität. Was passiert in Ländern, die nicht – ", sagt Habeck auf Englisch und kommt rhetorisch ins Straucheln.
Sowohl im Originalvideo des WEF, einem Youtube-Video von Business Today und dem auf Facebook kursierenden Ausschnitts, sagt Habeck dann auf Englisch: "Nennen wir es Dynamik, wenn ein Teil ihrer Bevölkerung wirklich verhungert. Und wir haben aus meiner Sicht die Brutalität des russischen Regimes gesehen. Also, aus – ich denke aus den meisten Ihrer Länder und meinem Land wäre es unvorstellbar, dass wir sagen [...]"
An dieser Stelle schiebt Habeck den erwähnten Perspektivwechsel ein. Aus der Perspektive Russlands sagt er: "Okay, dann sind vielleicht hunderttausend Menschenleben verloren und ich werde einzelne Sanktionen los."
Diese Haltung, eine Hungerkrise in in Kauf zu nehmen, um Sanktionen loszuwerden, bewertet er anschließend mit den Sätzen: "Das ist für uns unvorstellbar, aber für die Russen ist es möglich. Ich glaube, wir haben es gesehen." Russland traut er dieses Verhalten also zu, während er es für die "meisten Ihrer Länder und meinem Land" unvorstellbar sei, Menschenleben zu riskieren.
In dem Video von RT Deutsch heißt es allerdings in einer Einblendung am Anfang des Videos: "Habeck: Trotz Hungerkrise, undenkbar Sanktionen gegen Russland aufzuheben." Der Eindruck entsteht, dass Habeck über Deutschland spricht, wenn er es für undenkbar hält, Sanktionen gegen Russland aufzuheben.
Wirtschaftsministerium widerspricht
Auf Anfrage beim Wirtschaftsministerium erklärte eine Sprecherin am 22. Juni 2022: "Die von Ihnen zitierte Behauptung ist falsch und verdreht die Aussage, die Minister Habeck getroffen hat. Minister Habeck hat in dieser Aussage die Perspektive des russischen Regimes eingenommen, um dessen Brutalität aufzuzeigen."
Habeck habe gesagt: "Ich denke, für die meisten Ihrer Länder und für mein Land [also Deutschland] wäre es unvorstellbar, dass wir sagen: Okay, vielleicht sind 100.000 Leben verloren, aber ich komme dafür von den Sanktionen los. Das ist für uns unvorstellbar, aber für die Russen ist es möglich, denke ich."
Mit dieser Aussage nehme Habeck Bezug auf die Politik Russlands. Russland verhindere Getreideexporte aus der Ukraine, die allerdings für die Ernährung in ärmeren Ländern wie etwa in Afrika existenziell seien. Erst die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland würden das Wiederauslaufen von Schiffen ermöglichen. Die Sprecherin sagte weiter: "Putin setzt also unzählige Leben aufs Spiel beziehungsweise riskiert unzählige Hungertote, um von den Sanktionen erlöst zu werden." Das Wirtschaftsministerium versteht diese Politik als "Erpressungsversuch".
AFP fand das angebliche Zitat auch anderer Stelle nicht.
Getreide-Blockade der "Kornkammer der Welt"
Tatsächlich gehört die Ukraine zu den weltweit größten Getreideexporteuren der Welt (hier, hier). Auch sind ukrainische Häfen im Schwarzen Meer durch russische Truppen und Seeminen blockiert (hier, hier). Das führt zu Getreidemangel in afrikanischen Ländern und Europa.
Um eine Hungerkrise in Europa zu verhindern, hat die deutsche Bundesregierung mit Hilfe der Deutschen Bahn am 25. Mai 2022 eine "Getreidebrücke" auf den Weg gebracht, über die Getreide auch in anderen europäischen Ländern verteilt werden soll. Zuvor hat bereits die EU-Kommission am 12. Mai 2022 alternative Transportwege für Getreide aus der Ukraine vorgeschlagen.
Fazit: Die Behauptung, der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck habe beim Weltwirtschaftsforum in Davos am 23. Mai 2022 gesagt, dass für ihn trotz einer Hungerkrise die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland undenkbar sei – selbst wenn das hunderttausend Menschenleben kosten würde, ist irreführend. In seiner Ausführung nahm er die Sichtweise der russischen Regierung ein und traute dieser eine solche Politik zu.