Nein, von der Leyen und Merz verließen das EU-Parlament nach angeblichen Enthüllungen Orbans nicht

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban ist für seine EU-kritische Haltung bekannt. Online hieß es Ende 2025, er hätte im EU-Parlament ein "politisches Erdbeben" ausgelöst, indem er angebliche Korruption von Ursula von der Leyen aufgedeckt hätte, woraufhin die Präsidentin der EU-Kommission sowie der deutsche Kanzler Friedrich Merz "unter laufenden Kameras" den Saal verlassen hätten. Die Behauptung ist jedoch falsch. Es existiert weder ein schriftlicher noch ein videodokumentierter Nachweis eines solchen Vorfalls. Sowohl eine Sprecherin des EU-Parlaments als auch offizielle Datenbanken bestätigten, dass eine derartige Szene nicht stattgefunden hat. 

"VOR 2 MIN!  Von der Leyen und Merz fliehen aus dem Parlament nach Orbáns politischem Paukenschlag! Ein politisches Erdbeben erschüttert die EU, als Ursula von der Leyen und Friedrich Merz während einer Sitzung im Parlament fliehen. Der Auslöser? Ungarns Premierminister Viktor Orban, der mit brisanten Enthüllungen über Korruption und Missbrauch von EU-Geldern die gesamte politische Landschaft in Brüssel ins Wanken bringt", heißt es in einem Facebook-Beitrag vom 21. Dezember 2025. Verlinkt wird auf eine Website mit demselben Text, auf der der Claim näher ausgeführt wird. Auch auf anderen Websites, die vielfach mit Werbung bespickt sind, kursiert die Aussage.

In einem anderen Facebook-Posting vom 2. November 2025, der inzwischen über 2000 Mal geteilt wurde, wurde bereits eine ähnliche Behauptung getätigt: "Von der Leyen und Merz fliehen unter laufenden Kameras aus dem EU-Parlament", heißt es darin etwa. "Das größte EU-Geheimnis ist explodiert! Mitten im EU-Parlament enthüllte Viktor Orbán ein schockierendes Dossier über die angebliche Veruntreuung von über fünf Milliarden Euro EU-Geldern, die in obskure Netzwerke im Umfeld von Ursula von der Leyen verschwunden sein sollen."

Die Beiträge enthalten Bilder von Viktor Orban, Ursula von der Leyen und dem deutschen Kanzler Friedrich Merz. In einem der Beiträge sind zudem Bilder der AfD-Bundesvorsitzenden Alice Weidel sowie des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu sehen. Die Behauptung wurde auch auf Slowakisch mehrfach geteilt

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Facebook-Screenshot der Behauptung, rotes Kreuz von AFP hinzugefügt: 29. Dezember 2025

Mit einer erweiterten Websuche fand AFP keine seriösen Medienberichte in Text oder Bild oder Pressemitteilungen über einen solchen Vorfall, obwohl in den Beiträgen von einer angeblichen Flucht "unter den Augen der Weltpresse" die Rede ist. Es heißt außerdem, dass die Bilder der "panischen Flucht" der beiden Politiker "viral gegangen" seien. Zudem fand AFP keine Hinweise auf derartige Korruptionsfälle im Zusammenhang mit von der Leyen in Höhe von fünf Milliarden Euro.

Zweifelhafter Youtube-Kanal lieferte Grundlage

Mithilfe einer umgekehrten Bildsuche fand AFP heraus, dass ein Teil des Bildes in den Beiträgen, auf dem Merz, Orban, von der Leyen sowie der Text "Politische Bombe in Brüssel" und "Eilmeldung" abgebildet sind, eine Vorschau aus einem rund achtminütigen Video zeigt. In der Mitte des Vorschaubilds ist ein illustratives Bild zu sehen, das offenbar Orban zeigt, wie er ein Blatt Papier mit der Aufschrift "DOSSIER 5 MILLIARDEN €" hält, sowie von der Leyens scheinbar schockiertes Gesicht. Der Clip wurde am 31. Oktober 2025 auf Youtube hochgeladen.

Die Texte der Beiträge in sozialen Medien sowie jene der dort verlinkten Websites geben inhaltlich und teilweise sogar mit denselben Worten wieder, was in dem Video ausgeführt wird. Darin ist eine robotisch klingende Frauenstimme zu hören. 

Eine Audioanalyse mit der neuesten Version des Hiya Deepfake-Stimmendetektors im InVID WeVerify Verifizierungstool der etwa anderthalbminütigen Einleitungssequenz des Videos, in der die meisten in den Beiträgen wiedergegebenen Aussagen gemacht wurden, ergab eine 99-prozentige Wahrscheinlichkeit für eine Erstellung mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI). Deepfake Total, ein weiteres Tool zur Erkennung von KI-generierten Tonspuren des Fraunhofer-Instituts für Angewandte und Integrierte Sicherheit, zeigte eine Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent, dass die Audiospur KI-generiert wurde.

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Eine Analyse der Audiospur zeigt eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie mithilfe von KI erstellt wurde: 18. Dezember 2025

Der Youtube-Kanal Politik Fokus 24, der das Video veröffentlicht hat, publiziert täglich mehrere Videos mit KI-generierten Audiotracks, schockierenden Schlagzeilen und angeblichen sensationellen Enthüllungen. Das erste Video wurde am 15. Februar 2025 veröffentlicht, etwa eine Woche vor der deutschen Bundestagswahl.

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Screenshot des Youtube-Kanals Politik Fokus 24, blaue Markierung des betreffenden Videos von AFP hinzugefügt: 18. Dezember 2025

Wie fast alle anderen Videos auf diesem Kanal, die seit dem 2. Oktober 2025 veröffentlicht wurden, beginnt auch der Titel dieses Videos mit den Worten "Vor 2 Minuten!", umgeben von blinkenden Alarmlicht-Emojis. Auch die Bildunterschrift "Eilmeldung" und das visuelle Design sind Standard, wobei die Gesichter von Merz und Weidel auf den meisten Vorschaubildern an den Seiten zu sehen sind. Viele Videos kritisieren den Ersteren und unterstützen die Letztere.

Am Ende des rund achtminütigen deutschen Videos wird erklärt, dass "alle dargestellten Ereignisse, Zitate und Bewertungen auf öffentlich zugänglichen Quellen basieren". Tatsächlich konnte AFP in öffentlich verfügbaren Quellen keine Hinweise finden, die bestätigen, dass die beschriebenen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben.

Das Video, das als Quelle für die Behauptung in den slowakischen Beiträgen diente, hatte Ende Dezember 2025 über 125.000 Aufrufe, was deutlich über dem Durchschnitt des Kanals liegt und es auf den vierten Platz von etwa 1000 Videos bringt. Weitere sensationelle, aber falsche Aussagen in den Videos sind unter anderem der angebliche Austritt Österreichs, Italiens und Ungarns aus der EU sowie die Abschaffung der G20.

Variation einer älteren Behauptung 

Eine ähnliche Behauptung widerlegte AFP im November 2025 auf Bulgarisch und Rumänisch. In diesem Fall hätte nur von der Leyen das EU-Parlament nach angeblichen Korruptionsenthüllungen Orbans verlassen. Merz wurde in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.

In diesem Zusammenhang erhielt AFP eine Stellungnahme von Emilie Tournier, stellvertretende Sprecherin des EU-Parlaments. "Wir können keinen aktuellen Vorfall im Plenum bestätigen, wie Sie ihn beschrieben haben", schrieb sie AFP am 20. November 2025. "Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich in den vergangenen Wochen oder Monaten weder an das Europäische Parlament gewandt noch an einer Plenarsitzung teilgenommen", fügte sie hinzu. "Sein letzter Auftritt datiert auf Oktober 2024, als er das Programm der Aktivitäten der ungarischen Präsidentschaft vorstellte", erklärte Tournier und schickte einen Link zum offiziellen Video-Stream.

Mittels einer Stichwortsuche fand AFP keine Informationen über einen solchen Besuch Orbans auf der offiziellen Website des ungarischen Ministerpräsidenten. Auch die Suche nach "Viktor Orban" auf der Website des EU-Parlaments für 2025 lieferte keine relevanten Ereignisse zu einer Beteiligung des ungarischen Ministerpräsidenten im EU-Parlament.

Auch im Zusammenhang mit den im Dezember 2025 vielfach geteilten Behauptungen bleiben diese Fakten unverändert gültig, da die meisten dieser Beiträge auf dem am 31. Oktober 2025 – also bereits vor der Publikation der AFP-Faktenchecks im November 2025 – veröffentlichten Video basieren.

Erwähnte Personen hatten andere Termine

In den Beiträgen und auf den Websites werden widersprüchliche Aussagen bezüglich des angeblichen Ortes der Konfrontation getätigt, ähnlich wie auch im Youtube-Video. Neben dem "EU-Parlament" und "Brüssel" wird auch "Straßburg" erwähnt, gleichzeitig aber auch auf die "Kommission" Bezug genommen.

Mitglieder des EU-Parlaments treffen sich regelmäßig im Hauptsitz in Straßburg zu Plenarsitzungen, bei denen sie über europäische Gesetzgebung debattieren und abstimmen, und halten auch in Brüssel Sitzungen ab. Verwaltungsbüros der Institution befinden sich zudem in Luxemburg.

Die Abteilungen und Exekutivagenturen der EU-Kommission haben ihren Sitz in Brüssel und Luxemburg. Regelmäßige wöchentliche Treffen der Kommissarinnen und Kommissare finden am Brüsseler Hauptsitz und in Straßburg statt.

Die Agenda des EU-Parlaments für 2025 ist auf der Website der Institution einsehbar. Die von AFP gefundenen Beiträge scheinen auf dem am 31. Oktober 2025 veröffentlichten Video mit der Falschbehauptung zu basieren, wobei das Parlament zu diesem Zeitpunkt nicht in Plenarsitzung war. Die zeitlich am nächsten gelegene Plenarsitzung fand von 20. bis 23. Oktober 2025 statt. Eine Suche in den Sitzungsprotokollen zeigte jedoch, dass Orban dort nicht als Redner aufgetreten war.

Da das Video am 31. Oktober 2025 veröffentlicht wurde und betont, die Ereignisse hätten "vor zwei Minuten" stattgefunden, überprüfte AFP, womit die erwähnten Personen an diesem Tag und während der letzten Sitzung vor diesem Datum beschäftigt waren.

Am 31. Oktober 2025 gab Viktor Orban sein reguläres Freitagsinterview beim öffentlich-rechtlichen Sender Kossuth Radio in dessen Studio in Budapest. In dem Interview erwähnte er von der Leyen einmal im Zusammenhang mit ihrer Aussage, Europa müsse sich innerhalb von fünf Jahren auf Krieg vorbereiten.

Online fand AFP keine Angaben zu von der Leyens Terminen für den 31. Oktober 2025. Am 28. Oktober 2025 nahm sie am Treffen der nordischen Staats- und Regierungschefinnen und -chefs in Stockholm teil. Am 30. Oktober 2025 unternahm Merz einen offiziellen Besuch und reiste nach Ankara, wo er den türkischen Präsidenten Erdogan traf.

Der deutsche Kanzler Merz hat seit seinem Amtsantritt am 6. Mai 2025 zudem an keinen Verhandlungen oder Sitzungen des EU-Parlaments teilgenommen. Zuletzt besuchte er eine Plenarsitzung als Mitglied des EU-Parlaments, sein Mandat endete jedoch im Juli 1994.

Merz, von der Leyen und Orban trafen sich in Brüssel während des EU-Westbalkan-Gipfels am 17. Dezember 2025. Am 18. und 19. Dezember 2025 kamen sie auch während des Gipfels des Europäischen Rates zusammen, bei dem die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der Mitgliedstaaten beschlossen, ein gemeinsames Darlehen für die Ukraine in Höhe von 90 Milliarden Euro zu finanzieren. Von der Pflicht, das Darlehen zu garantieren, sind unter anderem die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn ausgenommen, wobei Orban das Ukraine-Darlehen als "verlorenen Kriegskredit" bezeichnete.

Orban hat von der Leyen in der Vergangenheit wiederholt scharf kritisiert. Im Mai 2025 entschied das Gericht der Europäischen Union, dass die EU-Kommission zu Unrecht die Herausgabe von Textnachrichten verweigerte, die von der Leyen während Gesprächen über Covid-19-Impfstoffe an den Leiter von Pfizer gesendet hatte. Im Juli 2025, am Vorabend eines Misstrauensvotums im EU-Parlament, warf Orban von der Leyen Korruption vor und forderte offen ihren Rücktritt. Die in den Beiträgen beschriebene Szene hat so jedoch nicht im EU-Parlament stattgefunden – die Behauptung ist erfunden.

AFP hat bereits die Falschbehauptung widerlegt, dass Orban einen EU-Austritt Ungarns angekündigt hätte. Alle Faktenchecks zur Europäischen Union sammelt AFP auf der Website.

Fazit: Online hieß es Ende 2025 fälschlich, Viktor Orban hätte im EU-Parlament ein "politisches Erdbeben" ausgelöst, indem er angebliche Korruption von Ursula von der Leyen enthüllt hätte. Daraufhin hätten die Präsidentin der EU-Kommission und der deutsche Politiker Friedrich Merz den Saal verlassen. Die Behauptung ist jedoch falsch. Eine Sprecherin des EU-Parlaments sowie offizielle Datenbanken bestätigten, dass die Szene nicht stattgefunden hat.

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