Viktor Orban verkündete keinen EU-Austritt Ungarns in einer offiziellen Rede

Ungarn trat 2004 der Europäischen Union bei – Ministerpräsident Viktor Orban kritisiert den Staatenbund jedoch häufig und vertritt bei Themen wie LGBTQ-Rechten, Pressefreiheit oder dem Ukrainekrieg fundamental andere Position. Vor diesem Hintergrund wurde online ein Video mit der Behauptung geteilt, Orban hätte in einer Rede kürzlich den Austritt Ungarns aus der EU verkündet. Es gibt jedoch keinen öffentlichen Nachweis einer solchen Äußerung. Zudem erklärte er im April 2025 auf X, er habe nicht die Absicht, aus der EU auszutreten und wolle sie stattdessen von innen heraus reformieren.

"EU Beben! Ungarn verkündet offiziell den Austritt – Brüssel reagiert fassungslos!", heißt es in einem Facebook-Post vom 17. Juni 2025. Darin wurde ein zehnminütiges Video geteilt. "Paukenschlag aus Budapest", sagt eine männliche Stimme zu Beginn des Videos. "Viktor Orban hat es tatsächlich getan: Der ungarische Ministerpräsident verkündet den schrittweisen Austritt aus EU-Institutionen." Die Behauptung wurde auch auf X, Tiktok, Telegram und Instagram verbreitet. Sie kursiert bereits seit April 2025 und wurde auch auf Bulgarisch geteilt. 

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Telegram-Screenshot der Behauptung, rotes Kreuz von AFP hinzugefügt: 10. Juli 2025

Orban wurde im April 2022 zum vierten Mal in Folge wiedergewählt, wobei seine nationalistische Partei Fidesz mit großer Mehrheit gewann. Aktuell bereitet sich der 62-jährige Politiker auf die Parlamentswahlen im April 2026 vor.

Orban ist zwar für seine Anti-Brüssel-Rhetorik bekannt, doch Behauptungen, er habe in einer offiziellen Rede angekündigt, dass Ungarn aus der EU austreten werde, sind falsch.

Kein Beleg in Orbans offiziellen Reden

Alle offiziellen Reden und Äußerungen von Orban werden auf der Website der ungarischen Regierung veröffentlicht. Eine Stichwortsuche führte zu keinen Belegen für die Verkündung eines EU-Austritts in diesen Äußerungen.

Eine umgekehrte Bildsuche nach Standbildern des Videos ergab, dass die Aufnahmen am 23. Oktober 2024 entstanden sind. Dieser Tag ist ein nationaler Gedenktag in Ungarn, an dem der Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 begangen wird. Orbans 20-minütige Rede zu diesem Anlass ist auch auf Youtube zu finden (hier archiviert).

Aus dem Transkript der Rede geht hervor, dass "Brüsseler Bürokraten" Orban zufolge versuchen würden, die demokratisch gewählte Regierung Ungarns zu stürzen und in Budapest ein "Marionettenregime" zu installieren, ähnlich wie die sowjetische Unterordnung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Orban forderte die Ungarinnen und Ungarn außerdem auf, "Brüssel Widerstand zu leisten", wie sie es 1956 getan hätten, und verwies dabei auf die ungarische Revolution.

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine infolge der russischen Invasion im Februar 2022 sagte Orban, der als Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin gilt, in derselben Rede zudem, dass "die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Brüsseler Bürokraten, den Westen in einen hoffnungslosen Krieg geführt haben". Laut Orban haben die ungarischen EU-Abgeordneten "die ungarischen Interessen und die ungarische Freiheit gegen die imperialistische Politik der Europäischen Union verteidigt". Allerdings erklärte Orban in seiner Rede an keiner Stelle, dass Ungarn aus der EU austreten werde.

Am 24. April 2025 geriet Orban mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk auf X aneinander, nachdem Tusk Orban vorgeworfen hatte, "offen über einen Austritt Ungarns aus der EU zu sprechen". Orban wies jegliche Absicht zum Austritt aus der EU zurück und erklärte, Ungarn werde die Union stattdessen durch die Allianz "Patrioten für Europa" "transformieren" und warf Brüssel Einmischung in die nationale Politik vor.

Orban oft im Streit mit der EU

Orbans Auseinandersetzungen mit der EU sind gut dokumentiert. Laut Gabor Halmai vom Robert-Schuman-Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Italien reichen die Spannungen bis zur Migrationskrise zurück. Im Jahr 2015 verzeichnete Ungarn 411.515 illegale Grenzübertritte und war damit nach Griechenland das EU-Land mit den meisten Festnahmen an den Außengrenzen der EU.

"Die Regierung Orban betreibt seit der Migrationskrise eine sehr feindselige Propaganda gegen die EU-Institutionen, vor allem weil diese die autokratische Politik der Regierung kritisieren, die die Grundwerte des Vertrags über die Europäische Union untergräbt", so Halmai. Dennoch glaube er nicht, dass Orban "die EU verlassen will", schon allein aus wirtschaftlichen Gründen.

"Obwohl bestimmte Mittel ausgesetzt wurden, ist Ungarn angesichts der desolaten Wirtschaftslage weiterhin auf EU-Gelder angewiesen", stellte er fest. Die Inflation ist in Ungarn wieder stark angestiegen und erreichte im Februar 2025 mit 5,7 Prozent den höchsten Stand aller 27 EU-Mitgliedstaaten. "Und ein Austritt wäre äußerst unpopulär – die Zustimmung zur EU liegt unter den Ungarinnen und Ungarn immer noch bei rund 70 Prozent", fügte Halmai hinzu. 

Ungarische Bevölkerung mehrheitlich für EU-Verbleib

Einer aktuellen Umfrage zufolge, die vom in Bratislava ansässigen Think Tank Globesec in neun mittel- und osteuropäischen Ländern, darunter Ungarn, durchgeführt wurde, unterstützen die Ungarinnen und Ungarn weiterhin die EU. Auf Seite 40 des Berichts zeigt eine Grafik, dass etwa 85 Prozent der Ungarinnen und Ungarn für einen Verbleib stimmen würden, wenn "am kommenden Wochenende in ihrem Land ein Referendum über die Mitgliedschaft in der EU stattfinden würde".

Ein 2024 im Corvinus Journal of Sociology and Social Policy veröffentlichter Artikel zum Thema "Huxit" – eine Wortneuschöpfung aus "Hungary" und "Exit", angelehnt an den Begriff "Brexit" für den EU-Austritt Großbritanniens – kam zu dem Schluss, dass "die Mehrheit der ungarischen politischen und medialen Elite die EU-Mitgliedschaft positiv bewertete und Huxit als marginale Alternative wahrgenommen wurde". Die Arbeit der Datenanalysten Erika Kurucz und György Lengyel basierte auf "60 Befragten, darunter 31 Mitglieder der ungarischen Medien und 29 Mitglieder der ungarischen politischen Elite".

Attila Horvath, außerordentlicher Professor an der Nationalen Universität für öffentlichen Dienst in Budapest und Autor einer aktuellen Studie zu Euroskeptizismus, erklärte am 3. Juli 2025 gegenüber AFP, dass der Austritt aus der EU nicht Teil der "offiziellen" politischen Agenda von Orbans Partei Fidesz sei. "Die Partei hat seit 2010 kein Wahlprogramm mehr veröffentlicht, sodass ihr Programm nicht als klarer Bezugspunkt dienen kann."

Er führte weiter aus: "Infolgedessen bleiben uns weitgehend nur öffentliche Äußerungen von Parteifunktionären, in denen gelegentlich die Idee eines 'Huxit' ins Spiel gebracht wird." Dennoch sei Horvath "der festen Überzeugung, dass solche Äußerungen nichts weiter als rhetorische Übertreibungen und symbolische Gesten sind, die sich an radikale Wählerinnen und Wähler richten".

"Kaum ein klarer Aufruf zum Huxit"

Horvath zitierte die folgende Äußerung von Orban vom 23. April 2025: "Wäre die Europäische Union 2004 so gewesen wie heute, hätten wir vielleicht keinen Beitritt beantragt. In dem Moment, in dem Ungarn mehr davon profitiert, draußen zu sein als drinnen, müssen wir austreten. Wann dieser Zeitpunkt kommt, kann ich nicht sagen. Wir sind noch nicht so weit." Laut Horvath sind solche Aussagen "kaum ein klarer Aufruf zum Huxit".

Dennoch merkte er an, dass "die Angelegenheit in zweierlei Hinsicht nuanciert ist". Erstens interpretierten einige die Maßnahmen der Regierung – wie die Missachtung des EU-Rechts oder die Verletzung internationaler Menschenrechtskonventionen – als eine Form des "heimlichen Huxit". Als Beispiele nannte er die Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot der jährlichen Pride-Paraden, die anstehende Gesetzgebung zur Zerschlagung unabhängiger Medien und die Weigerung, Urteile des EU-Gerichtshofs umzusetzen. Zweitens "haben einige der radikaleren Politikerinnen und Politiker der Partei und Persönlichkeiten aus ihrem weiteren Umfeld tatsächlich ausdrücklich auf die Idee eines Huxit Bezug genommen".

Wie könnte Ungarn aus der EU austreten?

Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union beschreibt das Verfahren, nach dem ein Mitgliedstaat aus der EU austreten kann. Es wurde erstmals mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2007 eingeführt. Großbritannien ist bislang das einzige Mitglied, das nach einem Referendum im Jahr 2016 aus der EU ausgetreten ist. Dieser langwierige Prozess hat dem Vereinigten Königreich nach allgemeiner Einschätzung erheblichen wirtschaftlichen Schaden zugefügt.

Obwohl "ein Austritt nicht auf der Tagesordnung steht", würde eine solche Entscheidung laut der ungarischen Verfassung, dem sogenannten Grundgesetz, eine Zweidrittelmehrheit erfordern, erklärte Halmai gegenüber AFP. Die Verfassung schreibe zwar kein Referendum vor, "aber es wäre kaum zu vermeiden, da auch vor dem Beitritt eine solche Entscheidung getroffen wurde".

Ob ein Referendum überhaupt rechtmäßig wäre, ist unklar. Artikel 8 Absatz 3 des ungarischen Grundgesetzes zu nationalen Referenden verbietet solche Abstimmungen über "Verpflichtungen aus internationalen Verträgen" und über "Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes", erklärte Horvath. Eine mögliche Huxit-Abstimmung würde seiner Meinung nach "wahrscheinlich unter beide Verbote fallen – letzteres, weil ein Austritt eine Änderung von Artikel E des Grundgesetzes erfordern würde, der die Beziehungen Ungarns zur EU regelt".

Austrittsverhandlungen wären theoretisch möglich

Horvath erklärte, dass Orbans Regierungskoalition "derzeit über eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament verfügt, wodurch die Regierung praktisch uneingeschränkte Macht hat". Diese Mehrheit würde es der Regierung theoretisch ermöglichen, "Austrittsverhandlungen einzuleiten".

"Allerdings kann die Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament innerhalb weniger Wochen geändert werden", führte Horvath aus. So könnte etwa ein Referendum ermöglicht werden. "Aber was würde in einem solchen Referendum passieren?", fügte er hinzu und verwies auf eine Umfrage des ungarischen Meinungsforschungsinstituts Median vom November 2024, wonach 76 Prozent der Befragten für einen Verbleib in der EU stimmen würden.

Das deutschsprachige Video enthält eine lange Liste weiterer Behauptungen, in denen sachliche Informationen mit falschen oder irreführenden Aussagen vermischt werden. So wird in dem Video fälschlich behauptet, Brüssel habe mit "blankem Entsetzen" auf Orbans Ankündigung des Austritts Ungarns aus der EU reagiert, von der Leyen sei "gelähmt" gewesen und Ungarn und die USA hätten einen bilateralen Wirtschaftspakt geschlossen. Solche Behauptungen sind unbegründet: Eine Stichwortsuche ergab keine Berichte in seriösen Medien über eine solche Reaktion oder die Unterzeichnung eines Wirtschaftspakts zwischen den beiden Ländern.

AFP hat bereits weitere Falschinformationen über den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban widerlegt.

Fazit: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat in öffentlichen Reden keinen EU-Austritt seines Staats verkündet. AFP-Recherchen führten zu keinen Belegen in öffentlichen Äußerungen Orbans. Ungarn-Experten erklärten zudem, dass ein solcher Schritt derzeit unwahrscheinlich sei. 

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