Menschen laufen am Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel vorbei (AFP / Nicolas TUCAT)

Nein, die EU will Kindern nicht erlauben, ihr Geschlecht selbst zu wählen

Mit ihrer LGBTIQ+-Gleichstellungsstrategie für die Jahre 2026 bis 2030 will die Europäische Kommission die Zusammenarbeit der EU-Staaten bei Gleichstellungsfragen stärken und Diskriminierung bekämpfen. Rechte Blogs behaupteten online, mit dieser Strategie würden die Mitgliedstaaten gezwungen, Kinder ihr Geschlecht selbst auswählen zu lassen – egal, wie alt diese sind. Das ist jedoch gleich doppelt falsch: Weder ist die Strategie rechtlich bindend, noch spricht sie von der freien Wahl des Geschlechts für Kinder. 

Rechtspopulistische Blogs witterten kürzlich "Gender-Irrsinn aus Brüssel", wie beispielsweise die österreichische Boulevardwebsite Exxpress am 14. Oktober 2025 schrieb. "Kinder sollen ihr Geschlecht frei wählen – ohne Eltern!", behauptete der Blog in der Überschrift eines Artikels über die LGBTIQ+-Gleichstellungsstrategie 2026 bis 2030 der Europäischen Union. EU-Staaten, die die Strategie nicht umsetzen würden, müssten mit Kürzungen von EU-Geldern rechnen.

In ähnlichem Wortlaut behaupteten auch das österreichische rechtspopulistische Medium Auf1 sowie die Blogs Weltwoche und Reitschuster, die EU wolle Kinder künftig ihr Geschlecht selbst bestimmen lassen. Die Behauptung kursierte zusätzlich auf Facebook, X, Telegram und Tiktok. Unter anderem teilte sie der sicherheitspolitische Sprecher der FPÖ im Nationalrat, Gernot Darmann. Auch auf Rumänisch wurde die Behauptung verbreitet. 

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Facebook-Screenshot der Behauptung, oranges Kreuz von AFP hinzugefügt: 20. Oktober 2025

In vielen Beiträgen wird ein Auszug aus der neuen Strategie als angeblicher Beweis zitiert. Darin heißt es: "Die Kommission wird den Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, um die Entwicklung von Verfahren zur rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität zu unterstützen, die auf Selbstbestimmung beruhen und keine Altersbeschränkungen vorsehen."

Die Behauptung scheint aus einem Artikel zu stammen, der am 8. Oktober 2025 im britischen Medium "The Telegraph" veröffentlicht wurde. Die Überschrift lautet: "Kinder könnten laut EU-Vorschlag ihr Geschlecht in der Schule wählen."

Die britische Zeitung beschreibt die Gleichstellungsstrategie als einen "EU-Vorschlag", der es "Kindern ermöglichen könnte, ihr Geschlecht selbst zu wählen" und zur "Aufhebung der Altersgrenzen für die Geschlechtsanerkennung" führen könnte. Der Artikel deutet auch an, dass Überprüfungen, "ob Kinder wirklich ihr Geschlecht ändern wollen", dem Plan zufolge "verboten" würden. "Mitgliedstaaten könnten bestraft werden, wenn sie die Gender-Ideologie der neuen Strategie der Europäischen Kommission infrage stellen", heißt es im "The Telegraph"-Artikel weiter.

Allerdings entspricht die Behauptung nicht dem, was tatsächlich in dem Dokument der EU-Kommission steht.

Abschnitt der LGBTIQ+-Strategie wurde fehlinterpretiert

Die Strategie ist Teil des Ziels einer "Union der Gleichheit", die die Europäischen Kommission am 8. Oktober 2025 vorgestellt hat und die Benachteiligungen verschiedener Gruppen in den Mitgliedstaaten abbauen soll. Die aktuelle Strategie baut auf der ähnlichen LGBTIQ+-Strategie für die Jahre 2020 bis 2025 auf und setzt neue Prioritäten, um die Diskriminierung der LGBTIQ+-Gemeinschaft in Bereichen wie Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und soziale Inklusion zu bekämpfen sowie die Geschlechtsidentität rechtlich anzuerkennen.

Die LGBTIQ+-Gleichstellungsstrategie 2026 bis 2030 wurde als politischer Rahmen, nicht als Gesetz, von der Europäischen Kommission im Oktober 2025 verabschiedet. Laut eigener Auskunft zielt die Strategie "darauf ab, LGBTIQ+-Personen vor schädlichen Praktiken und hassmotivierten Straftaten zu schützen, LGBTIQ+-Gemeinschaften und Gremien, die sich für Gleichstellung einsetzen, zu stärken und die Zivilgesellschaft sowie die Mitgliedstaaten und andere Akteure einzubeziehen".

Der online geteilte Ausdruck "Selbstbestimmung ohne Altersbeschränkung" taucht in einem Abschnitt der Strategie auf, der sich mit der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts befasst. Darin hält die EU-Kommission fest, dass die Vorschriften für die Änderung des Geschlechts in den EU-Ländern sehr unterschiedlich sind: "Während eine Reihe von Mitgliedstaaten Selbstbestimmungsmodelle eingeführt haben, schreiben andere Mitgliedstaaten medizinische Verfahren vor, die nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Anm. d. Red.) gegen die Menschenrechte verstoßen können" (Seite 15).

Deshalb werde die Kommission die Mitgliedstaaten beim Austausch über Verfahren unterstützen, mit denen die Geschlechtsidentität "auf der Grundlage der Selbstbestimmung und ohne Altersbeschränkungen" anerkannt wird. Dazu müsse jedoch der Dialog zwischen den Ländern erleichtert und keine EU-weiten Vorschriften erlassen werden, erklärte eine Vertreterin der Europäischen Kommission in einer Pressekonferenz am 10. Oktober 2025 (hier archiviert). In dem Dokument werden zudem weder "Kinder" noch "Minderjährige" ausdrücklich erwähnt.

Die Formulierung "ohne Altersbeschränkungen" war auch in der Strategie für den Zeitraum 2020 bis 2025 enthalten (Seite 20): "Die Kommission wird den Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten fördern, in denen es darum geht, wie zugängliche Rechtsvorschriften und Verfahren zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit auf der Basis des Grundsatzes der Selbstbestimmung und ohne Altersbeschränkungen eingeführt werden können." Auch in diesem Dokument wurden "Kinder" oder "Minderjährige" nicht ausdrücklich erwähnt.

EU-Kommission: Behauptung sei "schlichtweg falsch"

Auf AFP-Anfrage wies die Vertretung der Europäischen Kommission in Rumänien die online geteilte Behauptung am 10. Oktober 2025 zurück und wiederholte die Botschaft, die am selben Tag in Brüssel auf der Pressekonferenz der Europäischen Kommission mitgeteilt worden war. Während der Konferenz erklärte die Sprecherin der Kommission, Eva Hrnčířová, die Strategie ziele darauf ab, "dass alle Menschen in Europa gleich behandelt werden, ohne Diskriminierung".

Laut Hrnčířová baut das neue Dokument, das in der Woche des 10. Oktober 2025 vom Kollegium der Kommissarinnen und Kommissare verabschiedet wurde, "auf der bisherigen Strategie für 2020 auf" und "fördert die Gleichstellung durch Zusammenarbeit". Die EU-Staaten "entscheiden über ihre eigenen Gesetze, und wir helfen ihnen dabei, sich über bewährte Verfahren auszutauschen", fügte die Sprecherin hinzu.  

Sie betonte außerdem, dass "wir die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, zu denen auch die ausschließliche Zuständigkeit für das gesetzliche Mindestalter für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts gehört, uneingeschränkt respektieren". Sie fügte hinzu: "Jede Andeutung, dass die Kommission den Mitgliedstaaten solche Maßnahmen aufzwingen oder auferlegen würde, ist schlichtweg falsch."

In Bezug auf den Ausdruck "frei von Altersbeschränkungen" stellte die rumänische Vertretung der Europäischen Kommission klar, dass sich dieser nicht auf Kinder oder Minderjährige bezieht: "Altersbeschränkungen in diesem Rechtsbereich fallen ausschließlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten", hieß es.

"Um jedoch jegliche Missverständnisse zu vermeiden: Die Kommission hatte Minderjährige nicht im Sinn, als sie sich auf Altersbeschränkungen bezog", teilte die Kommissionsvertretung AFP am 10. Oktober 2025 auf Anfrage mit. "Tatsächlich betrafen alle in diesem Zusammenhang in der Strategie erwähnten Fälle vor dem EGMR Erwachsene, von denen einige zum Zeitpunkt der Klageerhebung über 60 Jahre alt waren", fügte sie hinzu.

Der Verweis der Kommission auf "EGMR-Fälle" betrifft Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts bei Erwachsenen, in denen der Gerichtshof feststellte, dass die Forderung nach einer Operation oder Sterilisation zur Änderung des gesetzlichen Geschlechts das Recht auf Privatsphäre verletzt. Diese Fälle hat die EU in früheren Dokumenten zur Gleichstellung von LGBTIQ+-Personen zitiert. Keiner davon betraf Kinder oder Minderjährige.

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Pride-Demonstration in Bukarest am 7. Juni 2025 (AFP / Daniel MIHAILESCU)

Eine der führenden Organisationen für die Rechte von LGBTIQ+-Personen in Rumänien, Asociația ACCEPT, warnte ebenfalls, dass die online geteilte Behauptung falsch sei und Anti-Transgender-Desinformation schüre. In einer Stellungnahme erklärte die Gruppe am 10. Oktober 2025 auf Facebook, dass "die Falschmeldung, dass Kinder 'ihr Geschlecht selbst wählen' können, eine Lüge ist, die nur dazu dient, die Bevölkerung zu beunruhigen und das Klima der Fehlinformationen zu verschärfen, das die Öffentlichkeit gegen eine bereits marginalisierte Minderheit in Rumänien vergiftet".

Die Organisation betonte, dass "in keinem europäischen Land, in dem Minderjährige ein Verfahren zur rechtlichen Anerkennung ihres Geschlechts durchlaufen können, dies ohne die Zustimmung ihrer Eltern möglich ist, nachdem ein langwieriges Verfahren unter Aufsicht der Gerichte oder der zuständigen Verwaltungsbehörden durchlaufen wurde". Sie fügte hinzu, dass "die Rolle der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters von wesentlicher Bedeutung ist und die Europäische Kommission nicht beabsichtigt, dies zu ändern".

EU hat keine Rechtskompetenzen in diesem Bereich

Hinzu kommt: Die Europäische Union hat keine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Familienrechts oder der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts, da diese Bereiche ausschließlich in die Zuständigkeit der nationalen Gesetzgebung fallen. Laut der offiziellen Website der Europäischen Kommission zum Familienrecht in der EU "bleibt das Familienrecht zwar in der Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten, doch kann die EU bei grenzüberschreitenden Auswirkungen Rechtsvorschriften zum Familienrecht erlassen".

In diesem Fall sei jedoch ein besonderes Gesetzgebungsverfahren erforderlich: "Alle EU-Mitgliedstaaten müssen einstimmig zustimmen, und das Europäische Parlament muss konsultiert werden." Daher kann die Kommission die Vorschriften zum Mindestalter, zu medizinischen Verfahren oder zur elterlichen Zustimmung nicht im Alleingang ändern.

Änderung des Geschlechtseintrags in Deutschland vereinfacht

In Deutschland trat im November 2024 das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz macht es einfacher für trans-, intergeschlechtliche und nichtbinäre Personen, "ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen ändern zu lassen", wie das zuständige Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend online erklärt. Es löst das Transsexuellengesetz ab und macht beispielsweise zuvor notwendige Gutachten von Sachverständigen und eine Gerichtsentscheidung für die Änderung des Geschlechtseintrags überflüssig.

Ihr Geschlecht können Kinder in Deutschland laut dem Selbstbestimmungsgesetz nicht eigenmächtig ändern: Ihre Sorgeberechtigten müssen die Änderung für sie veranlassen. Minderjährige, die über 14 Jahre alt sind, benötigen die Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten. Im Zweifelsfall kann diese Zustimmung auch ein Familiengericht geben, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung.

In der Vergangenheit widerlegte AFP bereits Falschbehauptungen über die Regenbogenflagge, das Symbol der LGBTIQ+-Gemeinschaft.

Fazit: Die Europäische Kommission plant nicht, Kinder ihr Geschlecht künftig selbst auswählen zu lassen. Auch eine Strafe für EU-Staaten, die diese Regelung nicht umsetzen, beabsichtigt die EU-Kommission nicht. Ein Abschnitt der LGBTIQ+-Gleichstellungsstrategie 2026 bis 2030 wurde online fehlinterpretiert, Kinder und Minderjährige kommen darin nicht vor. Zudem ist die Strategie rechtlich nicht bindend für die EU-Mitgliedstaaten. 

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