
Online verbreitete Grafik zu Bürgergeld und Migrationshintergrund ist fehlerhaft
- Veröffentlicht am 31. Juli 2025 um 16:18
- 8 Minuten Lesezeit
- Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
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Statistiken zum Bürgergeld sind komplex: Es gibt viele verschiedene Kennzahlen und unterschiedliche Personengruppen, die diese Sozialhilfe beziehen können. "Tja. Wer wirklich Bürgergeld bezieht...", schrieb Roland Tichy, Geschäftsführer und Gründer des Magazins "Tichys Einblick" und der gleichnamigen Website am 14. Juli 2025 auf X und teilte dazu eine Grafik.
Das Tortendiagramm schlüsselt die Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger nach ihrem Migrationshintergrund auf: Von 5,4 Millionen Menschen, die 2024 Bürgergeld erhalten hätten, seien 47,8 Prozent Ausländer, 34,8 Prozent Deutsche mit Migrationshintergrund und 17,4 Prozent Deutsche – mit letzteren scheinen Deutsche ohne Migrationshintergrund gemeint zu sein. Quelle dieser Zahlen seien die Bundesagentur für Arbeit und das Statistische Bundesamt Destatis. In der Vergangenheit widerlegte AFP bereits Falschinformationen von "Tichys Einblick".
Diese Grafik teilten zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer auch auf Facebook, Instagram und Telegram. Beiträge mit zum Teil großer Reichweite wurden zudem von der AfD-nahen Nachrichtenwebsite Deutschland Kurier und AfD-Politikerinnen und -Politikern wie dem Bundestagsabgeordneten Lars Haise geteilt. Oftmals wird das Bürgergeld in den Beiträgen als "Migrantengeld" bezeichnet.

Die Zahlen aus der Grafik gibt es so jedoch nicht von der Bundesagentur für Arbeit und von Destatis. Der Migrationshintergrund von Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern wird nur für eine andere Grundgesamtheit erfragt und basiert auf freiwilligen Angaben.
Offizielle Statistiken arbeiten mit anderen Bezugsgrößen
Die Zahlen in der Grafik von "Tichys Einblick" beziehen sich laut Beschreibung auf das Jahr 2024. Auf der Statistikwebsite der Bundesagentur für Arbeit (BA) sind Daten zum Migrationshintergrund von sogenannten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu finden. In der aktuellen Ausgabe von Juni 2025 sind die Daten für Dezember 2024 (Downloadlink) aufgeführt.
Hier ergibt sich die erste Unstimmigkeit. In der geteilten Grafik heißt es, 5,4 Millionen Menschen hätten 2024 Bürgergeld erhalten. Zusammengerechnet ergeben die drei Empfängergruppen in dieser Darstellung auch diese Gesamtsumme. Nur: Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit einer anderen Grundgesamtheit.
Zwar gab es im Dezember 2024 insgesamt 5.421.520 Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, die die BA als Regelleistungsberechtigte aufführt. Diese setzen sich jedoch aus sogenannten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB) und nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten (NEF) zusammen. Die BA-Statistik, die die Empfängerinnen und -empfänger nach Migrationshintergrund aufschlüsselt, bezieht sich nur auf die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Das waren im Jahr 2024 insgesamt 3.945.524 Personen. 1.476.000 Leistungsberechtigte waren nichterwerbsfähig.
Mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sind jene Menschen gemeint, die mindestens 15 Jahre alt sind, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind sowie in Deutschland wohnen, erklärt die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Glossar. Erwerbsfähig meint dem zweiten Sozialgesetzbuch zufolge die Fähigkeit, mehr als drei Stunden pro Tag arbeiten zu können. Nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte sind demnach Kinder unter 15 Jahren oder Personen, die aus gesundheitlichen oder eventuell rechtlichen Gründen nicht mehr als drei Stunden am Tag arbeiten können.
Anteil Deutscher ohne Migrationshintergrund ist größer als in der Grafik
Die BA-Statistik unterscheidet zwischen ELB ohne Migrationshintergrund, ELB mit eigener Migrationserfahrung, ELB ohne eigene Migrationserfahrung und ELB mit Migrationshintergrund ohne nähere Angabe. Die eigene Migrationserfahrung wird untergliedert in Ausländerinnen und Ausländer, Deutsche und Spätaussiedlerinnen und -aussiedler. Unter letzteren versteht die Bundesagentur für Arbeit laut ihrem Glossar "deutsche Volkszugehörige, die die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und sich innerhalb von sechs Monaten in Deutschland niedergelassen haben". Bei ELB ohne eigene Migrationserfahrung werden Ausländer und Deutsche mit mindestens einem zugewanderten Elternteil unterschieden.
Der Anteil der ELB ohne Migrationshintergrund – die in der Grafik von "Tichys Einblick" als "Deutsche" aufgeführt werden – beläuft sich auf 1.433.169 Personen beziehungsweise 36,3 Prozent. Das geht aus den Tabellenblättern 3.1 und 3.2 der BA-Statistik hervor. Für Deutsche mit Migrationshintergrund ergibt sich je nach Rechnung eine geringe Spannbreite des Anteils an Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern. Deutsche mit eigener Migrationserfahrung sowie mit mindestens einem zugewanderten Elternteil berücksichtigend ergibt sich ein Anteil von 590.007 Personen beziehungsweise 14,9 Prozent von rund 3,9 Millionen ELB. Spätaussiedlerinnen und -aussiedler miteinbezogen sind es 695.470 Personen beziehungsweise 17,6 Prozent.
Ausländerinnen und Ausländer, sowohl mit als auch ohne eigene Migrationserfahrung, machen 1.858.992 Personen beziehungsweise 47,1 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus.
Deutsche ohne Migrationshintergrund machen mit 36,3 Prozent einen geringeren Anteil der erwerbsfähigen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger aus als Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländerinnen und Ausländer zusammen. Diese Zahl bestätigte auch ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf AFP-Anfrage am 29. Juli 2025. Allerdings ist der Anteil Deutscher ohne Migrationshintergrund merklich größer als 17,4 Prozent wie von "Tichys Einblick" behauptet.
Angabe des Migrationshintergrunds ist freiwillig
Dass die Bundesagentur für Arbeit den Migrationshintergrund in ihren Statistiken zum Arbeitsmarkt darstellen muss, ist im dritten Sozialgesetzbuch festgeschrieben. Allerdings erklärt die BA in den methodischen Erklärungen zu ihrer Statistik: Leistungsberechtigte müssen ihren Migrationshintergrund nicht angeben, wenn sie Bürgergeld beantragen, sondern sie müssen gesondert dafür befragt werden. Zur Auskunft verpflichtet sind sie nicht, die Teilnahme ist freiwillig. Auch ein Nachweis, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprechen, wird nicht gefordert. Dadurch ist es möglich, dass die tatsächlichen Quoten von der Statistik abweichen. Aus diesem Grund gibt die Bundesagentur für Arbeit an, die Ergebnisse hochzurechnen, sofern genügend Daten vorhanden sind.
Für die NEF sei das nicht der Fall, erklärte eine Sprecherin der BA auf AFP-Anfrage am 25. Juli 2025. Für diese Gruppe, die der Sprecherin zufolge fast ausschließlich aus Kindern unter 15 Jahren bestehe, die mindestens ein Bürgergeld beziehendes Elternteil haben, sei die Datenqualität "nicht ausreichend, sodass wir den Migrationshintergrund der NEF nicht veröffentlichen können". Auch sie bezeichnete die Werte in der geteilten Grafik von "Tichys Einblick" als "nicht korrekt" und verwies auf die erwähnte BA-Statistik.
Destatis-Daten beruhen nur auf Stichprobe
Als weitere Quelle ist in der Grafik von "Tichys Einblick" das Statistische Bundesamt Destatis angegeben. Eine weitere Stichwortsuche führte zu zwei Statistiken von Destatis, die die Bevölkerung nach Migrationshintergrund beziehungsweise Einwanderungsgeschichte und überwiegendem Lebensunterhalt aufschlüsseln. 2024 hat es laut diesen Statistiken insgesamt rund 2,8 Millionen Menschen gegeben, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Bürgergeld deckten. Damit steht neben allen 5,4 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern in der Grafik von "Tichys Einblick" und den 3,9 Millionen ELB in der BA-Statistik eine weitere Grundgesamtheit für denselben Erhebungszeitraum im Raum.
Allerdings gibt es in dieser Statistik zwei Kategorien für Bürgergeld als überwiegenden Lebensunterhalt: "Bürgergeld" selbst und "Sozialhilfe, Grundsicherung oder ähnliches". Mit Grundsicherung ist dasselbe gemeint wie mit Bürgergeld.
Zusammengerechnet ergeben sich auch hier rund 3,9 Millionen Menschen, von denen mit rund 1,4 Millionen ähnlich viele Personen wie in der BA-Statistik keinen Migrationshintergrund haben (959.000 Menschen ohne Migrationshintergrund mit überwiegendem Lebensunterhalt Bürgergeld plus 498.000 Menschen ohne Migrationshintergrund mit überwiegendem Lebensunterhalt Sozialhilfe, Grundsicherung oder ähnliches). Auf 5,4 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger wie in der online geteilten Grafik kommen die Statistiken von Destatis allerdings ebenfalls nicht. Zudem erklärte eine Sprecherin von Destatis auf AFP-Anfrage am 28. Juli 2025, dass die Daten auf Basis des Mikrozensus nicht geeignet seien, "die absolute und vollständige Zahl" der Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger zu ermitteln.
Gründe dafür seien die Hochrechnung der Werte, da für den Mikrozensus ein Prozent der Bevölkerung gefragt werde. Zudem sei auf die Frage nach dem überwiegenden Mittel des Lebensunterhalts nur eine Antwort möglich gewesen, während der Lebensunterhalt aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt sein könne. Schließlich könnten die Angaben der Befragten "von den realen Werten abweichen". Besser geeignet sei die Erhebung der Bundesagentur für Arbeit, so die Sprecherin.
AFP hat die Redaktion von "Tichys Einblick" um die konkreten Daten gebeten, die der geteilten Grafik zugrunde liegen sollen. In seiner Antwort vom 25. Juli 2025 verwies Roland Tichy auf einen Artikel, der zu diesem Zeitpunkt zur Klärung dieser Frage in Arbeit gewesen sei. Er erschien am 27. Juli 2025 und verlinkte die oben erwähnte Statistik von Destatis zu Lebensunterhalt nach Einwanderungsgeschichte. Darin findet sich die Grundgesamtheit von 5,4 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern wie erläutert jedoch nicht. Wie die Werte in der geteilten Grafik zustande kommen, wird im Artikel nicht nachvollziehbar dargelegt.
Hoher Anteil mit Migrationshintergrund durch Geflüchtete begründet
Zur Verteilung der Anteile der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit und ohne Migrationshintergrund sowie der Ausländerinnen und Ausländer erklärte der Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: "Die aktuell hohe Zahl insbesondere ausländischer SGB II-Leistungsberechtigter (ausländischer Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, Anm. d. Red.) ist vor allem auf die verstärkte Zuwanderung von Geflüchteten infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sowie auf Staatsangehörige der acht wichtigsten Asylherkunftsländer ('Top 8') zurückzuführen."
In einigen Bundesländern ist der Anteil auch laut Medienberichten höher als im Bundesschnitt. Würden bundesweit die sogenannten Aufstockerinnen und Aufstocker – also Personen, die Bürgergeld beziehen, da ihr Lohn nicht zur Deckung des Lebensunterhalts reicht – herausgerechnet, wäre der Anteil der Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger mit Migrationshintergrund der BA zufolge mit 53,1 Prozent geringer.
Das Bürgergeld ist stetiger Gegenstand von Kontroversen in der Bundespolitik. In ihrem Koalitionsvertrag hielt die schwarz-rote Koalition etwa fest, das Bürgergeld "zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende" umgestalten zu wollen und Menschen schneller in Arbeit bringen sowie Sanktionen verschärfen zu wollen. Außerdem sollten Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach dem 1. April 2025 nach Deutschland gekommen sind, kein Bürgergeld mehr, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Diese sind geringer. Medienberichten zufolge ist die nötige Gesetzesänderung allerdings noch nicht erfolgt.
AFP hat bereits weitere Falschinformationen zum Bürgergeld überprüft.
Fazit: Der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund an erwerbsfähigen Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern ist mit etwa 36 Prozent laut offizieller Statistik höher als in der Grafik von "Tichys Einblick" dargestellt. Aussagen dazu lassen sich jedoch nicht auf Grundlage aller Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger treffen, sondern nur für die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Zudem beruhen die Zahlen auf freiwilligen Angaben.