
Nein, Merz hat den polnischen Regierungschef Tusk bei einem Treffen in Kiew nicht gedemütigt
- Veröffentlicht am 23. Mai 2025 um 13:15
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Maja CZARNECKA, AFP Polen
- Übersetzung: Lisa-Marie ROZSA
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Donald Tusk, der die regierende liberal-konservative Bürgerplattform anführt, wird von seinen politischen Gegnern aus der nationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit Langem vorgeworfen, deutsche Interessen zu vertreten und in der internationalen Politik nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Beiträge, die von einigen PiS-Abgeordneten verbreitet wurden, kursierten kurz vor der ersten Runde der polnischen Präsidentschaftswahl 2025.
"Der deutsche Kanzler Merz zu Tusk: 'Geh zum Zug, ich bleibe hier', und Tusk geht gehorsam weg. Auf Stramers Gesicht: Schock und Ungläubigkeit – der polnische Ministerpräsident folgt so gehorsam den Anweisungen des deutschen Kanzlers. Schockierend", ist in einem Facebook-Beitrag am 11. Mai 2025 zu lesen. Anbei ist ein Video zu sehen, das in der Hauptstadt der Ukraine, Kiew, aufgenommen wurde.
In dem Video sind der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, der britische Premierminister Keir Starmer, der französische Premierminister Emmanuel Macron und der polnische Regierungschef Donald Tusk bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu sehen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs wollten ihre verstärkte Unterstützung für die Ukraine bekunden.

Einige PiS-Abgeordnete, darunter Maria Kurowska und Michał Woś, teilten das Video zusammen mit einer ähnlichen Behauptung, die Tusk als "Verlierer" darstellte.
Das Video wurde auch auf X und Tiktok mit dem Kommentar "Wenn der deutsche Bundeskanzler dem polnischen Ministerpräsidenten befiehlt: 'Geh zum Zug'" geteilt. Die Beiträge erhielten hunderte Reaktionen und wurden vielfach geteilt.
Das Treffen in Kiew löste eine weitere Falschbehauptung in sozialen Medien aus, wonach die europäischen Staats- und Regierungschefs auf der Zugfahrt in die ukrainische Hauptstadt Drogen konsumiert hätten – eine haltlose Behauptung, die Frankreich als "Fake News" verurteilte.
Auch die jüngste Behauptung über Merz und Tusk ist falsch – der deutsche Bundeskanzler wurde nicht dabei gefilmt, wie er den polnischen Ministerpräsidenten herabwürdigt.
AFP konnte die Originalaufnahme ausfindig machen. Darin sagte der Bundeskanzler: er werde "zwei Erklärungen gegenüber den Medien abgeben", bevor er ankündigt, mit Tusk in den Zug nach Polen zu steigen.
Die Behauptung kursierte kurz vor der Präsidentschaftswahl in Polen am 18. Mai 2025. In der ersten Runde der Wahl erreichte kein Kandidat die 50-Prozent-Hürde. Der proeuropäische Kandidat der regierenden Partei Bürgerplattform, Rafał Trzaskowski (31,36 Prozent), und Karol Nawrocki (29,54 Prozent), unterstützt von der PiS, zogen in die zweite Runde ein.
"Wir sehen uns im Zug"
Der fünfsekündige Clip ist ein Ausschnitt aus einem 22-sekündigen Video. Auch dieses Originalvideo wurde mit einer ähnlichen Behauptung gepostet – nämlich, dass sich Tusk wie ein "Diener" verhalten habe. AFP konnte das Originalvideo auf dem X-Account des deutschen Bundeskanzlers ausfindig machen, wo es mit Hintergrundmusik versehen gepostet wurde (hier archiviert).
Zunächst ist Merz zu hören, wie er sich an Selenskyj wendet: "Passen Sie auf sich auf, wir bleiben in Kontakt. Wann immer Sie möchten. Rufen Sie mich an, und wir ... alles klar." Dann wendet er sich an den britischen Premierminister Keir Starmer und sagt: "Wir sehen uns in London. Sehr bald." Schließlich wendet er sich an Tusk und sagt: "Und wir sehen uns im Zug", während er auf ihn zeigt. Seine abschließenden Worte sind nicht vollständig zu verstehen. Zu hören sind aber die Worte "geben", "Erklärungen" und "Medien".
Take care and we keep in touch.
— Bundeskanzler Friedrich Merz (@bundeskanzler) May 10, 2025
Always if you want. You can call. pic.twitter.com/ZfHz8IwxMY
Die Pressestelle des deutschen Bundeskanzlers hat AFP eine längere, klarere Version des Videos ohne Hintergrundmusik zukommen lassen. In dieser Aufnahme ist deutlich zu hören, wie Merz zu Tusk sagt: "Und wir sehen uns im Zug. Ich werde die beiden Erklärungen gegenüber den Medien abgeben, und dann fahren wir."
Ein AFP-Videoreporter war ebenfalls bei dem Treffen anwesend und filmte die Szene aus einem anderen Blickwinkel. Zunächst geben sich Merz und Tusk freundlich die Hand, bevor sich der deutsche Bundeskanzler verabschiedet. Die Aufnahme zeigt nicht, wie Merz den polnischen Regierungschef herumkommandiert, sondern wie er in einem freundlichen und höflichen Ton zu Tusk sagt: "Und wir sehen uns im Zug. Ok. Ich werde die beiden Erklärungen an die Medien geben, und dann fahren wir."
In polnischen Medien wurde berichtet, dass Tusk allein mit dem Zug in Kiew angekommen sei. Merz, Macron und Starmer sollen gemeinsam aus einem anderen Zug ausgestiegen sein (hier archiviert).
Ein AFP-Journalist bestätigte, dass Tusk mit einem anderen Zug als Merz, Macron und Starmer nach Kiew gereist war. Nach dem Treffen reisten Tusk und Merz mit demselben Zug nach Polen.
Tusks politische Gegner von der PiS verspotteten ihn anschließend in einer Live-Debatte vor der Präsidentschaftswahl. Sie deuteten an, dass er nicht von den anderen Staats- und Regierungschefs auf Augenhöhe behandelt worden sei. "Ich habe den gedemütigten Ministerpräsidenten der Republik in einem Güterwagen fahren sehen, während die anderen in einer Lounge gefeiert haben", sagte der PiS-Kandidat Marek Jakubiak.
Pawel Wronski, Sprecher des polnischen Außenministeriums, erklärte jedoch, die Koordination sei "vollständig von der ukrainischen Seite organisiert" worden.
Wasyl Bodnar, der ukrainische Botschafter in Polen, sagte gegenüber der polnischen Zeitung "Rzeczpospolita" vom 13. Mai 2025: "Alles wurde so vereinbart, dass die sichere Ankunft, aber auch die Abreise der hochrangigen Delegation gewährleistet war. Es ging ausschließlich um die Sicherheit."
"Deutsche Interessen vertreten"
Die PiS und andere rechtskonservative Parteien wie die Konfederacja haben Tusk immer wieder vorgeworfen, deutsche Interessen zu vertreten – zum Teil deshalb, weil er kaschubische Wurzeln hat, eine slawische Minderheit aus Nordpolen.
Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski hat Tusk sogar grundlos als "deutschen Agenten" bezeichnet.
Bei der vergangenen Parlamentswahl im Oktober 2023 zeigte das von der PiS-Regierung kontrollierte polnische Staatsfernsehen systematisch Aufnahmen von Tusk, in denen er Deutsch sprach.
Fazit: Anders als behauptet wird in einem Video, das in sozialen Medien in Polen kursiert, demütigte der deutsche Bundeskanzler Merz den polnischen Ministerpräsidenten Tusk nicht bei einem Treffen in Kiew. Eine längere Originalversion des Videos zeigt, dass sich die beiden Politiker freundlich die Hand geben und Merz danach zu Tusk sagt, dass sie sich dann im Zug sehen werden.