Bau von Windrädern in Frankreich bleibt erlaubt
- Veröffentlicht am 26. April 2024 um 10:23
- Aktualisiert am 30. April 2024 um 11:31
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
Copyright © AFP 2017-2024. Für die kommerzielle Nutzung dieses Inhalts ist ein Abonnement erforderlich. Klicken Sie hier für weitere Informationen.
"Krank durch Infraschall: Frankreich stoppt den Windrad-Irrsinn!", schreibt die AfD-nahe Publikation "Deutschland-Kurier" in einem Beitrag auf Facebook von Ende März 2024. Er wird über 900 Mal geteilt. Auch das Magazin "Tichys Einblick" postet einen Artikel auf Facebook und schreibt dazu: "In einer sensationellen Entscheidung wurden in Frankreich sämtliche Genehmigungen für Windräder aufgehoben." Ein privater Nutzer der Plattform schreibt: "In Frankreich dürfen keine neuen Windräder mehr gebaut werden",
Auch in anderen sozialen Medien wird die Behauptung geteilt: Auf X bekam ein Post beispielsweise 200 Retweets, auf Telegram sahen mitunter 47.000 Nutzerinnen und Nutzer einen Beitrag dazu. Auch auf Tiktok und Youtube wurden Videos mit der Behauptung bis zu 69.000 und über 300.000 Mal angesehen.
Besonders eine Partei sticht mit der Verbreitung des angeblichen Windräder-Verbots hervor: zahlreiche Accounts von AfD-Politikerinnen und -Politikern und Fraktionen teilen Beiträge mit der Behauptung. Darunter: Ein Post der AfD-Landtagsfraktion in Sachsen wurde über 600 Mal geteilt, der Beitrag des energiepolitischen Sprechers des nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Christian Loose wird fast 100 Mal weiterverbreitet. Rainer Balzer, Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, bewirbt seinen Post auf Facebook sogar und erreicht damit laut Metas Werbebibliothek mindestens 10.000 Nutzerinnen und Nutzer:
Der Tenor der Artikel und Beiträge: Nehmen wir uns ein Beispiel an Frankreich, wo Windkraft ein Riegel vorgeschoben wird. Die Behauptung, Frankreich habe Windräder für illegal erklärt, ist jedoch irreführend.
Die Artikel der Webblogs und Online-Publikationen "Tichys Einblick", "Deutschland-Kurier", "Weltwoche", "Nius" und "Wallstreet online", von denen einige bereits durch die Verbreitung von Falschinformationen aufgefallen sind, beziehen sich auf ein Urteil des Conseil d'État, des obersten Verwaltungsgerichts in Frankreich, vom 8. März 2024.
Klage gegen Entscheidungen von 2021
Zuvor hatte die Vereinigung Fédération Environnement Durable gemeinsam mit 15 weiteren Anti-Windkraft-Zusammenschlüssen gegen zwei Entscheidungen von Dezember 2021 über Windkraftanlagen geklagt. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die neuen Regelungen zur Lärmmessung in einem Protokoll, auf das die Entscheidungen verweisen und das vom zuständigen Ministerium genehmigt wurde. Die Vereinigungen beantragten, dass die Entscheidungen zurückgenommen werden.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts veröffentlichte die Fédération Environnement Durable eine Mitteilung auf ihrer Website, in der es heißt, das Verwaltungsgericht habe "eine historische Entscheidung" gefällt, "indem es die Genehmigungen für Onshore-Windkraftanlagen und die Regeln für die Erneuerung von Windparks für rechtswidrig erklärte".
Gerichtsurteil zu Windrädern betrifft Formfehler
Jules Nyssen, Präsident der Gewerkschaft für erneuerbare Energien in Frankreich, erklärte gegenüber AFP, das Urteil hebe die Genehmigungen "aufgrund eines Formfehlers bei der Annahme des Protokolls zur Messung der akustischen Auswirkungen eines Onshore-Windparks auf, das Gegenstand einer vorherigen Anhörung der Öffentlichkeit hätte sein müssen".
"Es handelt sich daher nicht um eine Entscheidung in der Sache selbst, und sie sanktioniert keineswegs die Angemessenheit der in diesem Protokoll angewandten Methode", führte er in einer E-Mail vom 4. April 2024 weiter aus. Mit dem Urteil ficht das Verfassungsgericht also weder die Methode der Lärmmessung an, wie sie im Protokoll festgeschrieben ist, noch werden Genehmigungen für Windkraftanlagen entzogen.
Das bestätigt Arnaud Gossement, auf Umweltrecht spezialisierter Anwalt aus Paris. "Das Protokoll zur Bewertung der Lärmbelästigung wird nicht kritisiert – das oberste Verwaltungsgericht sagt nur, dass es einen Verfahrensfehler gibt", erklärte er in einer E-Mail vom 4. April 2024 gegenüber AFP. Dieser werde durch eine Anhörung der Öffentlichkeit bereinigt werden.
Windparks können weiter betrieben werden
Bestehende Windparks seien durch das Urteil vom 8. März 2024 nicht berührt. "Dass die Bestimmungen für nichtig erklärt wurden, bedeutet nicht automatisch, dass die Genehmigungen für die einzelnen Parks in Frage gestellt werden", erklärte Gossement. Im Falle künftiger Umweltgenehmigungen für Windräder werde der Präfekt, also der Vertreter des französischen Staates auf lokaler Ebene, die Neufassung des Erlasses abwarten.
Auch den aktuellen Betrieb von Anlagen betreffe das Urteil nicht: "Es gibt keine Windparks, die aufgrund dieser Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts ihre Geschwindigkeit drosseln werden, es handelt sich lediglich um eine Bereinigung des nationalen Erlasses", so der Anwalt.
Bis das zuständige Ministerium den Formfehler korrigiert hat, entsteht jedoch kein Vakuum, was die Regelungen zur Lärmmessung betrifft. "Nachdem das letzte Protokoll aufgehoben wurde, gilt der alte Erlass vom 26. August 2011", erklärte der französische Sender "TF1" in seiner Berichterstattung über die Falschinformation. "Im Gegensatz zu dem, was die Verbände sagen, gibt es keine Gesetzeslücke", zitiert der Sender Matthias Vandenbulcke, Direktor für Strategie des Sprecherverbands für erneuerbare Energien France Renouvelables. "Wir haben sehr wohl einen Text, der angewendet wird und der es ermöglicht, dass die Projekte fortgesetzt werden können."
Der alte Erlass setzt dem Sender zufolge die gleichen Grenzen wie jener von 2021: Am Tag darf die Differenz zwischen dem Umgebungslärm mit Windkraftanlagen und dem Umgebungslärm ohne Windräder fünf Dezibel betragen, in der Nacht drei Dezibel. Laut Gewerkschaftspräsident Nyssen seien so maximal 35 Dezibel erlaubt. "Diese Schallpegel sind repräsentativ für ruhige, schlafzimmerähnliche Umgebungen", erklärte er und hob außerdem hervor, "dass die französischen Vorschriften zu den striktesten gehören, was die Lärmregulierung von Windkraftanlagen betrifft". Von der Weltgesundheitsorganisation und französischen Behörden werde ein Höchstwert von 40 Dezibel empfohlen – die Grenzwerte in Bezug auf Windräder liegen also noch darunter.
Nach Kernenergie mit 67 Prozent im Jahr 2023 ist laut Statista mit weitem Abstand die Onshore-Windkraft der zweitwichtigste Energieträger in der Stromerzeugung Frankreichs: 9,9 Prozent der Energie wurden 2023 durch Windkraftanlagen an Land hergestellt. Die Tendenz ist steigend: 2022 waren es noch 8,6 Prozent, im Jahr zuvor 6,9 Prozent. Laut RTE, Betreiber von Frankreichs Stromnetzinfrastruktur, war Windkraft der drittwichtigste Energieträger in 2023 und Wasserkraft der zweitwichtigste.
Fazit: Frankreich hat Windräder nicht für illegal erklärt. Auch der Betrieb bestehender Anlagen bleibt erlaubt. Deutsche Webblogs haben ein Urteil des obersten Verwaltungsgerichts zu Lärmschutz irreführend ausgelegt. Experten erklärten, dass sich die Gerichtsentscheidung lediglich auf einen Formfehler bezieht. Bis dieser korrigiert ist, gilt die vorige Regelung von 2011.
Zahlen zur Stromerzeugung in Frankreich ergänzt30. April 2024 Zahlen zur Stromerzeugung in Frankreich ergänzt