Die Behauptung, dass Windparks zu mehr Wal- und Delfinstrandungen in Großbritannien führen, ist verkürzt
- Veröffentlicht am 4. Dezember 2024 um 15:02
- Aktualisiert am 5. Dezember 2024 um 15:33
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Elena CRISAN, AFP Österreich
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"UMWELTZERSTÖRUNG", schrieb ein User am 2. November 2024 auf Facebook und teilte dazu einen Screenshot eines Online-Beitrags mit der Überschrift "Schockierender Anstieg von Wal- und Delfinstrandungen durch Windparks vor britischer Küste". Darunter ist ein Bild von gestrandeten Walen zu sehen. Dieser Beitrag wurde tausendfach geteilt.
Auch auf Telegram machte die Behauptung die Runde: "Im letzten Jahrzehnt, als sich die Offshore-Windparks in Großbritannien ausbreiteten, gab es einen beunruhigenden Anstieg der Strandungen von Walen, Delfinen und Schweinswalen an der Küste", heißt es in einer knapp 15.000 Mal angesehenen Nachricht.
Der geteilte Blogeintrag wurde am 2. November 2024 vom rechtspopulistischen Portal "Unser Mitteleuropa" veröffentlicht, welches in der Vergangenheit bereits Gegenstand von AFP-Faktenchecks war (hier, hier oder hier). Einige Tage zuvor erschien ein Text mit demselben Inhalt auf dem englischsprachigen Portal "The Daily Sceptic". Der Text bezieht sich auf ein X-Posting von Andrew Montford, wie darin angeführt wird. Montford ist laut Eigenbeschreibung auf X Direktor von "Net Zero Watch", einer Organisation aus Großbritannien, die den menschengemachten Klimawandel leugnet und unter anderem gegen Windkraft kampagnisiert.
Die Organisation teilt sich ihre Londoner Adresse mit einem Thinktank namens "Global Warming Policy Foundation", welchem sie laut britischen Medien untergeordnet ist. In Berichten wird diese als eine der führenden Quellen Großbritanniens von Klimawandel-Skepsis bezeichnet. Montford ist Autor des Buchs "The Hockey Stick Illusion" über ein unter Klimawandelleugnerinnen und -leugnern verbreitetes Narrativ, nach welchem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Daten manipuliert hätten, um die globale Erwärmung zu übertreiben. Grafiken, die den globalen Temperaturanstieg zeigen, werden von Fachleuten mit einem Hockeyschläger verglichen. Wie ein AFP-Faktencheck zeigt, wird der starke Anstieg der Temperaturen seit 1850 – die Kelle des Hockeyschlägers – jedoch weltweit aufgezeichnet.
In seinem vielfach zitierten X-Posting vergleicht Montford aktuelle Daten über gestrandete Wale mit der Offshore-Windleistung im Vereinigten Königreich seit den 1990er-Jahren. Sein Kommentar dazu lautet: "Die Annahme, dass ein kausaler Zusammenhang besteht, ist nach wie vor sehr stark."
AFP hat ihn kontaktiert und die zugrundeliegenden Zahlen überprüft. Sowohl die Menge von Offshore-Windrädern, als auch jene der gestrandeten Tiere sind tatsächlich gestiegen. Laut Expertinnen und Experten sowie Studien gibt es jedoch keine Belege, die auf einen kausalen Zusammenhang hinweisen. Die Gründe für die Strandungen sind vielfältig und unter anderem auch auf die Klimaerwärmung zurückzuführen. Fachleute merkten an, dass mehr Forschung zu dem Thema notwendig sei.
Tendenziell nehmen Strandungen zu
"Wir wissen, dass es einen allmählichen Anstieg bei Walstrandungen gibt", schrieb Dan Jarvis, Direktor für Tier- und Artenschutz bei der "British Divers Marine Life Rescue", einer britischen Hilfsorganisation für Meeressäugetiere, die Daten zu dem Thema sammelt, in einer E-Mail an AFP vom 21. November 2024. "In den letzten fünf Jahren haben wir Jahr für Jahr einen Anstieg der Strandungen verzeichnet. Es werden uns immer mehr Tiere gemeldet", sagte auch Andrew Brownlow, Dozent für veterinärmedizinische Epidemiologie und Leiter des "Scottish Marine Animal Stranding Scheme" (SMASS), im Jahr 2023 gegenüber der britischen Zeitung "The Guardian".
Doch die Zahlen schwanken jährlich. So sind laut Daten des "UK Cetacean Strandings Investigation Programme" (CSIP, hier archiviert), des britischen Programms zur Untersuchung von Strandungen von Delfinen und Walen, im Jahr 2022 589 Strandungen verzeichnet worden. Im Jahr 2020 waren es hingegen 1102.
Andere plausible Gründe für Strandungen
Die Zuschreibung von Strandungen an "Offshore-Windparks" sei "spekulativ" und von der aktuellen Erkenntnislage "nicht gestützt". Gleichzeitig "wäre mehr Forschung zur Reduzierung der Auswirkungen von Windparks auf die Natur wichtig", schrieb Anna Moscrop, Leiterin des Bereichs Wissenschaft an der Tierschutzorganisation "Whale and Dolphin Conservation" (WDC) am 22. November 2024 an AFP. Laut Moscrop seien weitere bekannte und menschengemachte Ursachen für Walstrandungen Beifang, Verhungern und Unterwasserlärm, zum Beispiel durch militärische Sonare.
Zu den Ursachen einiger Massenstrandungen gehören laut Andrea Gomez auch ozeanografische Barrieren – wenn Wale etwa in Buchten eingeschlossen werden –, Infektionen, Biotoxine, menschliche Interaktionen und Unterernährung. Das erklärte die Beauftragte für öffentliche Angelegenheiten beim US-amerikanischen Greater Atlantic Regional Fisheries Office der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) am 3. Juli 2024 gegenüber AFP. Gomez sagte jedoch weiter, dass keine Forschungsergebnisse einen Zusammenhang zwischen dem Tod großer Meeressäuger und Offshore-Windaktivitäten herstellen.
Wie sich Lärm auf Meeressäuger auswirkt
Meeressäuger wie Wale und Delfine sind stark von ihrem Hörsinn abhängig, beschreibt ein Forscherteam in diesem Bericht, erschienen in der wissenschaftlichen Zeitschrift "Marine Ecology Progress Series". Sie benötigen ihn für die Nahrungssuche, zur Orientierung und zur Kommunikation. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Dänemark und den USA widmeten sich deshalb der Frage, wie sich der Bau großer Offshore-Windturbinen auf die Meeresumwelt auswirkt. Darin kamen sie zum Schluss, dass der "Lärmpegel von in Betrieb befindlichen Windkraftanlagen niedrig" sei und das "Gehör von Meeressäugern wahrscheinlich nicht" beeinträchtige. Das Paper stammt allerdings aus 2006, bis heute betonen Fachleute die Notwendigkeit eingehender Studien.
Auch aktuellere Beobachtungen zeigen das. Für einen anderen AFP-Faktencheck zu diesem Thema erklärte Douglas Gillespie, Forschungsbeauftragter an der Universität St. Andrews in Schottland, in einer E-Mail an AFP vom 5. März 2023, dass es "sicherlich richtig" sei, "dass die Rammarbeiten beim Bau von Windparks so laut sind, dass Meeressäuger in der Nähe zu Schaden kommen könnten". In extremen Fällen könnten derartige Geräusche zum Hörverlust führen, sagte Gillespie, aber es sei "sicher falsch, den Tod eines Wals mit einer Technologie in Verbindung zu bringen, nur weil sie neu ist". Gillespies Arbeit konzentriert sich auf die Überwachung der Auswirkungen von Offshore-Energie auf die Meeresfauna. Jedes Jahr würden viele Wale an der US-Küste stranden, sagte er: "Einige sind auf unbekannte Ursachen zurückzuführen, viele sind auf Ursachen zurückzuführen, die wir gut kennen, nämlich das Verheddern in Fischfanggeräten und Schiffsunfälle."
Was die Betriebsphase von Windturbinen angeht, wurden laut Yanis Souami, Experte für Unterwassergeräusche, jedenfalls "keine nennenswerten Auswirkungen festgestellt". Das schrieb er in einer E-Mail vom 9. März 2023.
Schutzmaßnahmen können Risiken vorbeugen
Clemens Jauch, Professor am Wind Energy Technology Institute der Hochschule Flensburg, erklärte in einer E-Mail vom 19. November 2024 an AFP, dass "der Aufwand, der betrieben wird, um beim Rammen von Monopiles (lange zylindrische Rohre, die beim Bau von Offshore-Windrädern in den Meeresboden gerammt werden, Anm. d. Red.) die Schallausbreitung zu verhindern, enorm" sei. Es werde etwa mit der Blasenschleier-Methode gearbeitet. Blasenschleier, oder "bubble curtain" auf Englisch, reduziert Lärm mittels eines perforierten Schlauchsystems, welches rund um die Rammstelle am Meeresboden ausgelegt wird. Die Luft, die durch die Röhren austritt, bildet einen Vorhang aus aufsteigenden Blasen im Wasser, welcher den Schall dämpft, wie beispielsweise das deutsche Bundesamt für Naturschutz auf seiner Website erklärt (hier archiviert). Außerdem würden "vor den Rammarbeiten Vergrämungsmaßnahmen ergriffen" werden, "um die Tiere temporär aus dem betroffenen Gebiet zu vertreiben", schrieb Jauch.
In dem eingangs erwähnten Blogeintrag wird auch ein Umweltverträglichkeitsbericht des US-amerikanischen Bureau of Ocean Energy Management (BOEM) erwähnt und behauptet, dass dieses "endlich die durch Offshore-Windparks verursachten Schäden" anerkenne. Das stimmt so nicht. Der erwähnte Bericht vom Oktober 2024 untersuchte mögliche Auswirkungen von Bauarbeiten – auch im atlantischen Ozean –, wie beispielsweise Unterwasserlärm durch Rammarbeiten, elektromagnetische Felder durch Kabel und die Gefahr von Kollisionen mit Schiffen. Auch Maßnahmen zu deren Vermeidung wurden evaluiert. Dabei ging es lediglich um potenzielle Gefahren.
Auf AFP-Anfrage wies BOEM am 20. November 2024 in einer E-Mail auf ein Datenblatt hin, welches im April 2024 aktualisiert wurde. Darin heißt es: "Alle aktuellen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es keine Zusammenhänge zwischen dem Massensterben von Walen und laufenden Offshore-Windaktivitäten gibt, einschließlich Standortuntersuchungen."
Windkraft in Großbritannien im Ausbau
Großbritannien kündigte im Juli 2024 Rekordinvestitionen von mehr als einer Milliarde Pfund in Offshore-Windkraft an. Um seine Emissionen zu reduzieren, hat sich die Labour-Regierung verpflichtet, die Onshore-Windkapazität bis 2030 zu verdoppeln und die Offshore-Windkapazität zu vervierfachen.
In Großbritannien lag laut Daten des britischen Energieministeriums (DESNZ, hier archiviert) die installierte Leistung im zweiten Quartal 2024 bei rund 14,7 Gigawatt durch Offshore-Windkraft. Diese Kapazität nahm seit 2010 fast jedes Jahr zu. Laut dem Windkraft-Industrieverband "RenewableUK" (hier archiviert) sind derzeit 43 Offshore-Windparks mit insgesamt 2765 Anlagen in Betrieb. Die erste Anlage wurde im Jahr 2004 gebaut. Erst im September wurden neue Windparks in Auftrag gegeben.
Weitere Faktenchecks zum Thema Windkraft und Klimawandel finden sich hier.
Fazit: Der Anstieg an Windkraftanlagen führt nicht automatisch zu mehr Strandungen von Walen und Delfinen an der britischen Küste. Laut Windkraftexpertinnen und -experten und Organisationen zum Schutz der Meeressäuger gibt es keine Belege für einen kausalen Zusammenhang. Mehr wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema werden einstimmig gefordert.
Rechtschreibfehler in achtem und 13. Absatz ausgebessert5. Dezember 2024 Rechtschreibfehler in achtem und 13. Absatz ausgebessert