Video eines reichen ukrainischen Dorfes macht irreführend Stimmung gegen das Land
- Veröffentlicht am 20. Juli 2024 um 10:46
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Eva WACKENREUTHER, AFP Österreich
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Aus einem fahrenden Auto heraus gefilmt sieht man eine Villa neben der nächsten am Straßenrand. Die prunkvollen Gebäude sind mit Säulengängen und Erkern geschmückt, die Einfahrten in bunten Mustern gepflastert oder von mit Ornamenten verzierten Zäunen umgeben.
Auf Instagram und X beschreiben Nutzerinnen und Nutzer die wohlhabende Gegend Ende Juni 2024 so: "Provinz Zakarpatsk in der Westukraine gestern. Bitte nicht vergessen zu spenden." In den Kommentaren fassen Nutzerinnen und Nutzer das Video oft als Beleg für veruntreute Unterstützungsgelder oder gar für einen in Wahrheit fingierten Krieg in der Ukraine auf. "Alles von unserem Geld", heißt es da oder: "Die Europäer werden verarscht". Wiederum andere User halten das Video fälschlich für mittels künstlicher Intelligenz erstellt.
Die Häuser haben jedoch nichts mit europäischen Hilfsgeldern an die Ukraine zu tun, sie stehen bereits weit länger als 2022. Nicht alle Regionen der Ukraine sind komplett verwüstet, der Krieg an der Front wird vor allem in den östlichen Regionen des Landes ausgetragen.
Ungewöhnliches Dorf
Die prunkvollen Häuser stehen tatsächlich in der Ukraine. Die Aufnahmen stammen aus Nyschnja Apscha, einem kleinen Ort im Südwesten der Ukraine im Oblast Transkarpatien, direkt an der rumänischen Grenze und weit entfernt von der Frontlinie mit Russland.
Das Dorf ist kein typisch ukrainisches Städtchen: Es ist überwiegend rumänisch geprägt, rund ein Viertel der Bewohner sind Zeugen Jehovas. Nyschnja Apscha wird gerne als der reichste Ort der Ukraine beschrieben.
Medienberichten zufolge startete die heutige Besiedelung des Ortes in den 1980er-Jahren, als viele Rumäninnen und Rumänen im Ausland arbeiteten. Der Reichtum des Ortes geht den Berichten zufolge auf Schmuggelgeschäfte und den Verkauf von Alkohol in den 1990er-Jahren zurück. Gleichzeitig hält sich die Legende, der Ort sei durch den Handel mit Sonnenblumenkernen reich geworden.
Die ukrainische Nachrichtenagentur RBC beschrieb 2022 aber auch, dass die luxuriösen Gebäude oft mehr Schein als Sein seien: Weil der Erhalt teuer sei, müssten viele Dorfbewohner in Europa arbeiten und die Häuser in der Zwischenzeit untervermieten. Im Winter sei die Heizung zudem kostspielig: "Deshalb bewohnen die Besitzer nur ein oder zwei Zimmer und halten den Rest geschlossen. Es kommt oft vor, dass die Familie in einem alten Haus im Hof wohnt und in der neuen Luxusvilla nur Gäste empfängt."
Häuser älter als Krieg
Geht man die Stadt in der Streetview-Ansicht von Google ab, sieht man zahllose von akkurat geschnittenen Pflanzen umgebene Villen, viele scheinen aber auch verlassen. Die meisten Streetview-Aufnahmen des Ortes stammen von 2015. Die Häuser standen dort also schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022. Dass sie mit seither an die Ukraine geschickten Hilfsgeldern erbaut wurden, ist also nicht möglich.
Ein Vergleich von Szenen aus dem geteilten Video (links) und von Google aus dem Juni 2015 (rechts) belegt, dass es sich dabei um denselben Ort handelt. Details wie die Säulen am Haus, ein Strommast und eine von Büschen gesäumte, mehrfarbig gepflasterte Einfahrt stimmen überein.
Dieselbe Straße ist auch in anderen Medien zu sehen. Der ukrainische Mediensender ICTV berichtete etwa 2019 über die ungewöhnlichen Häuser, die Nachrichtenseite TSN.UA im Jahr 2018. Auch zahlreiche rumänische Medien schrieben 2017 über das Dorf (hier, hier).
Andere Bilder von Villen, die AFP auf Google fand, sind auf weit frühere Zeitpunkte datiert und zeigen damit, dass die Häuser schon länger stehen als Krieg im Land herrscht. In einer Aufnahme, die 2012 auf Youtube hochgeladen wurden, sieht man die Villen, manche der Häuser darin sind auch im aktuell geteilten Video zu sehen. Das ist lange vor dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 und auch bevor Russland im Jahr 2014 die Krim annektierte.
Nicht die ganze Ukraine ist aktives Kriegsgebiet
Die Frontlinie mit Russland verläuft durch die ganze Ukraine, am stärksten ist aber der Osten des Landes betroffen. Eine Karte von AFP zeigt, welche Gebiete im Juli 2024 von Russland kontrolliert werden. Nyschnja Apscha liegt noch weiter westlich, jenseits der Republik Moldau, sodass es auf der Karte gar nicht mehr abgebildet ist.
Die Region Transkarpatien im Südwesten, wo sich auch Nyschnja Apscha befindet, ist weit davon entfernt. Im Sommer 2022 bezeichnete die "NZZ" Transkarpatien deshalb als "Zufluchtsort" und "sichersten Ort der Ukraine". Die "Deutsche Welle" schrieb im April 2024 über ein rund 100 Kilometer entfernt liegendes Städtchen: "Vom russischen Krieg gegen die Ukraine ist hier nur wenig zu spüren."
Auch wenn die Kriegsfolgen hier weniger direkt sind, ganz ignorieren lässt sich der Krieg nicht. Gekämpft wird zwar an der Front, neue Soldatengräber zeugen aber auch in Transkarpatien von der russischen Invasion. Die Gegend gilt zudem seit Jahren als Unruheherd. Ungarische Politiker stellen immer wieder Gebietsansprüche an die Region.
Dass der Ukrainekrieg real ist, ist hingegen unbestritten, anders als einige Kommentare anspielen. Seit dem Einmarsch russischer Truppen verloren unzählige Menschen ihr Leben, Millionen mussten fliehen. AFP-Reporter und -Reporterinnen berichteten immer wieder von den blutigen Kämpfen um besetzte Gebiete, genauso wie von Angriffen auf große Städte. Erst Anfang Juli 2024 hatte Russland in einer massiven Angriffswelle dutzende Raketen auf ukrainische Städte abgefeuert und dabei auch ein Kinderkrankenhaus in der Hauptstadt Kiew getroffen.
Deutschland unterstützt die Ukraine mit Hilfszahlungen und militärischem Material. Bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen im Februar 2022 unterstützte Deutschland die Ukraine mit Hilfen in Milliardenhöhe.
Der Krieg in der Ukraine ist immer wieder Thema von Falschbehauptungen. User hatten etwa behauptet, Kriegshandlungen in der Ukraine seien lediglich von Schauspielern inszeniert.
Fazit: In der südwestukrainischen Stadt Nyschnja Apscha stehen zahlreiche prunkvolle Häuser. Sie sorgen seit Jahren für mediale Aufmerksamkeit. Mit europäischen Unterstützungsleistungen an die Ukraine haben sie nichts zu tun, die Häuser wurden lange vor dem Einmarsch Russlands erbaut. Die Region Transkarpatien ist weniger direkt vom Krieg betroffen als östlicher liegende Gebiete.