Beitrag von Bundeskanzler Scholz über die Pandemie ist gefälscht
- Veröffentlicht am 8. Mai 2024 um 16:26
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Robert BARCA, AFP Slowakei
- Übersetzung: Johanna LEHN
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"Die deutsche Regierung gibt zu, dass es nie eine Pandemie gegeben hat", lautet der Beginn eines Posts vom 5. April 2024 auf Telegram. Stattdessen sei es "eine sorgfältig orchestrierte psychologische Operation auf militärischem Niveau" gewesen, "um die Öffentlichkeit dazu zu bringen, einen experimentellen Impfstoff zu akzeptieren, der verheerende Folgen hatte". In den Beiträgen ist ein Bild von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu sehen und ein Teil eines Social-Media-Posts mit einem Profilbild des Kanzlers.
Auch auf Facebook und X wurde diese Behauptung geteilt sowie auf anderen Sprachen wie Slowakisch, Tschechisch und Griechisch. Der französische Abgeordnete Nicolas Dupont-Aignan postete ebenfalls einen solchen Beitrag.
Die Behauptung ist jedoch falsch, wie auch andere Faktencheck-Organisationen auf verschiedenen Sprachen bereits erklärten.
Behauptung stammt von Fake-News-Website
Die Posts sind eine Übersetzung eines Absatzes aus einem Artikel der englischsprachigen Website The People's Voice. AFP widerlegte bereits mehrfach Falschinformationen, die von dieser Website veröffentlicht wurden.
Das Titelbild des Artikels zeigt das Foto aus den Beiträgen in Gänze. Der angebliche Post darin scheint von Bundeskanzler Scholz auf der Plattform X veröffentlicht worden zu sein. Darin ist auf Englisch zu lesen: "Covid war eine psychologische Operation, um die Einhaltung der Impfpflicht und der Lockdown-Vorschriften zu testen. Es gab keine Pandemie."
Andere Artikel der Website haben Titelbilder mit einer ähnlichen Optik.
Eine Stichwortsuche mit der Anfrage "site:twitter.com/Bundeskanzler psy-op compliance" nach einem solchen Post auf X führte zu keinem Ergebnis. Auch in archivierten Versionen des X-Accounts von Scholz konnte AFP keinen solchen Beitrag finden. In deutschen Medien fand AFP ebenfalls keine Erwähnung einer solchen Äußerung. All das weist darauf hin, dass das Foto von Scholz' Post gefälscht wurde.
Bezug zu RKI-Protokollen
Im Artikel bezieht sich The People's Voice auf einen Bericht von Journalist Paul Schreyer über die Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI), der am 20. März 2024 im Magazin "Multipolar" erschienen ist.
Schreyer zufolge waren die RKI-Protokolle zunächst unveröffentlicht und wurden erst durch einen Antrag gemäß dem Informationsfreiheitsgesetz und einer anschließenden Klage auf Freigabe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mehr als 1000 Seiten enthalten Passagen, die durch das RKI redigiert und geschwärzt wurden. Am Ende des Artikels stellte "Multipolar" einen Link zu den 456 PDF-Dateien zur Verfügung, die mehr als 2000 Seiten der Protokolle zwischen Januar 2020 und April 2021 umfassen.
Im März 2020 erhöhte das RKI die Risikobewertung der Coronapandemie von "moderat" auf "hoch". Das beruhte laut Schreyer nicht auf Einschätzungen des RKI selbst, sondern "auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs – dessen Name in den Protokollen geschwärzt ist". Damit behauptete der Autor, die Risikobewertung wurde nicht aufgrund wissenschaftlicher Daten verschärft, sondern es habe sich um eine politische Entscheidung gehandelt.
Andere Medien berichteten wenige Tage nach der Veröffentlichung ebenfalls ausführlich über die Protokolle. Sie fanden keine Hinweise auf ein Fehlverhalten oder politischen Einfluss von außen auf die Entscheidung des RKI, wie "Multipolar" schrieb. "Dass Teile von Dokumenten geschwärzt werden, ist nicht ungewöhnlich", schrieb die Deutsche Presse-Agentur über den Fall. "Doch die Praxis führt immer wieder zu Spekulationen über die fehlendenden Passagen und lässt viel Raum für unbelegte Behauptungen."
Diese Details wurden im Artikel von The People's Voice jedoch ausgelassen. Stattdessen zitierte Schreyer den pensionierten Wirtschaftsforscher Stefan Homburg, der die Falschbehauptung am 21. März 2024 auf seinem X-Account verbreitete. AFP widerlegte bereits andere Falschinformationen des Forschers über das Coronavirus.
Protokolle von frühen Treffen des Corona-Krisenstabs
Homburg postete drei aus dem Kontext gerissene Screenshots der Dokumente (hier und hier) als Grundlage für seine virale Behauptung und schrieb: "Über 2000 Seiten, die zeigen, dass die 'Pandemie' Betrug war."
Der erste Screenshot enthält den Teil, den auch Schreyer hervorhob. Darin heißt es, dass über das Wochenende eine neue Risikobewertung vorgenommen worden sei und sie "diese Woche hochskaliert werden" soll. "Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald [Name geschwärzt] ein Signal dafür gibt", heißt es im Protokoll weiter. Die Passage findet sich auf Seite 6 des Sitzungsprotokolls des Krisenstabs vom 16. März 2020 (80. PDF-Dokument unter dem oben angeführten Link).
Das RKI nahm am 25. März 2024 zu den Vorwürfen der politischen Einflussnahme von außen Stellung (hier archiviert): "Verschiedene Medien haben gemutmaßt, dass die Hochstufung der Risikoeinschätzung nicht unabhängig erfolgte. Das ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass hinter der Schwärzung in dem Satz 'Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Name geschwärzt) ein Signal dafür gibt' ein RKI-Mitarbeiter steht."
AFP konnte diese Aussage nicht verifizieren. Aus dem Originaldokument geht jedoch lediglich hervor, dass die Zustimmung einer speziellen Person noch fehlte, um die angepasste Risikobewertung zu veröffentlichen. Darüber hinaus deutet nichts im Protokoll vom 16. März 2020 darauf hin, dass die Pandemie "ein Betrug" war oder dass die Regierung dies zugegeben habe.
Die Sitzung am 16. März 2020 fand vor dem Hintergrund eines rasanten Anstiegs der Fallzahlen von Covid-19-Infektionen europa- und weltweit statt. So meldete das RKI beispielsweise am 4. März 2020 noch 262 Corona-Fälle in Deutschland, während es am 16. März 2020 bereits 6012 Fälle waren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte Covid-19 am 11. März 2020 zur Pandemie erklärt – also zu einer Krankheit, die sich über mehrere Länder und Kontinente hinweg verbreitet.
"Die Protokolle geben die Diskussionen und Entscheidungen im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt und Kenntnisstand wieder", erklärte das RKI in seiner Stellungnahme. "Kontext und Datengrundlagen werden allerdings nicht immer erwähnt, da diese in anderen Unterlagen zur Verfügung standen, wie zum Beispiel den Tages- und Wochenberichten (nach wie vor auf den RKI-Internetseiten zugänglich) oder anderen Veröffentlichungen." Die Protokolle müssten daher "immer in ihrem Kontext gesehen und interpretiert werden".
Kontext zu Passagen fehlt
Homburgs zweiter Screenshot zeigt einen Abschnitt von Seite 10 des Protokolls vom 8. Januar 2021 (PDF-Dokument Nummer 366). In seinem Post hebt Homburg das Wort "Narrativ" in folgender Frage hervor: "Verabschieden wir uns vom Narrativ der Herdenimmunität durch Impfung?" Daraus schlussfolgert er in seinem Beitrag, die Herdenimmunität sei "als bloße Erzählung betrachtet" worden.
Aus dem Dokument geht jedoch hervor, dass die fragliche Zeile aus dem dreieinhalb Seiten langen Kapitel "Update Impfung" mit dem Unterpunkt "Herdenimmunität" stammt und somit aus dem Zusammenhang gerissen wurde. Das Protokoll zeigt zudem, dass die Teilnehmenden während der Sitzung mehrere Themen zur Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe erörterten, die zum damaligen Zeitpunkt erst seit zwei Wochen zum Einsatz kamen.
Der dritte Screenshot in Homburgs Post auf X enthält folgenden Abschnitt: "Indirekte negative Effekte des Lockdowns durch Lücken bei der Behandlung von Tuberkulose, Aussetzung von Routineimpfprogrammen. Steigende Kindersterblichkeit zu erwarten. Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst."
Dieser Teil des Sitzungsprotokolls vom 16. Dezember 2020 (PDF-Dokument Nummer 350, Seite 5) beschäftigt sich ausdrücklich mit dem "Verlauf der Pandemie in Afrika", wie aus der Überschrift des Abschnitts hervorgeht. Die Teilnehmenden diskutierten offenbar die Auswirkungen des Lockdowns auf die allgemeine Gesundheitsversorgung in vielen afrikanischen Staaten und nicht in Europa, wo Tuberkulose und Kinderkrankheiten wie Polio oder Masern eine geringere Gefahr darstellen.
Weitere Faktenchecks zum Thema Covid-19 finden Sie hier.
Fazit: Die Bundesregierung hat nicht zugegeben, dass es die Coronapandemie nie gegeben habe. Ein entsprechender Post auf X ist gefälscht und wurde von einem Webblog verbreitet, der für Falschinformationen bekannt ist.