Dieses Video verbreitet irreführende Informationen zu einer Impf-Umfrage der Berliner Charité
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- Veröffentlicht am 17. Juni 2022 um 14:42
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
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Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben das Video mit der Behauptung zur Charité-Umfrage auf Facebook gesehen. Der Clip zeigt einen Ausschnitt aus einem Videobeitrag des AfD-Bundestagsabgeordneten Enrico Komning, der bis Mitte Juni fast 3000 Mal auf Facebook geteilt wurde. Entsprechende Ausschnitte finden sich auch auf Twitter und Telegram.
Die Behauptung: In dem geteilten Videoausschnitt erläutert Komning, der Charité-Professor Harald Matthes habe in einer Studie herausgefunden, dass die Rate schwerer Nebenwirkungen bei den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna bei 0,8 Prozent liege. Dies sei 40 Mal höher als vom zuständigen Paul-Ehrlich-Institut angegeben. Komning kritisiert zudem den medialen Umgang mit der Studie.
Verschiedene Medien berichteten bereits seit Ende April über eine Beobachtungsstudie zu Impfnebenwirkungen der Berliner Charité (hier, hier). Die Website der Studie ist mittlerweile offline und nur noch in einer archivierten Version abrufbar. Dort heißt es, die Studie mit dem Kurztitel “ImpfSurv” sei im April 2021 gestartet.
In einem Flyer zur Studie heißt es, es handele sich um eine Online-Befragung zur Erfassung von Impfreaktionen nach einer Covid-19-Impfung sowie von Beschwerden und Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung. Die Teilnahme nehme etwa 15 bis 20 Minuten in Anspruch, in den folgenden Monaten bestehe die Möglichkeit einer erneuten Befragung.
Der Studienleiter Harald Matthes präsentierte Ende April 2022 erste Zwischenerkenntnisse der Umfrage. Die Rate schwerer Nebenwirkungen liege bei etwa 0,8 Prozent, erklärte Matthes in einem Interview mit dem MDR. In Folge erntete die Charité-Studie vielfach mediale Kritik. Die genannten Zahlen seien "nicht haltbar", die Studie "nicht repräsentativ".
Charité prüft Studie
Auch die Charité selbst distanzierte sich im Mai von der Studie. Auf AFP-Anfrage erklärte ein Sprecher der Charité am 16. Juni: "Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren."
Aktuell prüfe die Charité, ob Matthes "die Regelungen für Gute klinische Praxis, Gute wissenschaftliche Praxis sowie die Auflagen der Ethikkommission" für seine Untersuchungen eingehalten habe. Daher verweise die Charité momentan auch nicht online auf die Umfrage.
Auch der Sprecher der Berliner Linksfraktion für Wissenschaft und Forschung, Tobias Schulze, schrieb am 16. Mai auf Twitter, auf Nachfrage habe die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne) ebenfalls erklärt, Matthes Studie werde einer Qualitätsprüfung unterzogen. Diese könne nicht als "Studie aus der Charité" deklariert werden.
Daten lassen keine konkreten Schlussfolgerungen zu
Schulze verweist zudem auf einen Hintergrundbericht des ZDF zur Studie. Demnach fehle bei der Arbeit eine Kontrollgruppe von Menschen, die beispielsweise ungeimpft oder mit einem Placebo geimpft worden seien. Die Identität der Teilnehmenden werde ebenfalls nicht geprüft, wodurch es zu Verzerrungen kommen könne.
Tatsächlich genügt es, eine E-Mail-Adresse anzugeben, um an der Befragung teilzunehmen, wie AFP selbst über den Befragungs-Link feststellen konnte. Eine weitere Identitätsfeststellung oder Prüfung der Angaben wird nicht vorgenommen.
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) erklärte am 15. Juni gegenüber AFP, Hersteller stützten sich für Untersuchungen zur Sicherheit und Verträglichkeit ihrer Impfstoffe vor allem auf klinische Studien. In klinische Studien werden Therapien direkt an Patienten statistisch geplant, systematisch überprüft und sorgfältig ausgewertet, wie die Uni Leipzig erläutert. Der vfa schreibt dazu weiter: "In den klinischen Studien werden Fälle negativer Symptome nicht nur bei Menschen erfasst, die den echten Impfstoff erhalten haben, sondern auch bei solchen, die mit Placebo geimpft wurden. Das erlaubt eine besonders direkte Einschätzung, wie viele Fälle von negativen Symptomen gar nicht durch den Impfstoff verursacht wurden." Die Charité-Studie basiert hingegen auf den Umfragedaten, nicht auf Untersuchungen am Menschen.
Leif Erik Sander, Klinikdirektor der Infektiologie an der Charité und Experte für Impfstoffentwicklung, schrieb bereits am 29. April auf Twitter zu den präsentieren Daten: "0,8 Prozent 'schwere Impfkomplikationen' ist absolut unrealistisch und unseriös. Deckt sich mit keiner der sehr großen, internationalen Studien." Wer Impfreaktionen nicht von Komplikationen unterscheide, streue zudem Desinformation.
Laut Robert-Koch-Institut (RKI) handelt es sich bei Impfreaktionen um typische Beschwerden, die nach der Impfung auftreten und in der Regel nach wenigen Tagen abklingen, so beispielsweise Rötungen oder Schmerzen an der Einstichstelle. Bei Komplikationen handele es sich hingegen um schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen, welche sehr selten aufträten und über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgingen.
Sander erläuterte zudem bereits am 28. April auf Twitter: "Natürlich kann es in sehr seltenen Fällen zu Impfkomplikationen kommen, das streitet niemand ab. Aber Komplikationen sind insgesamt sehr, sehr selten. Die Risiken und Komplikationen einer Sars-CoV-2 Infektion überwiegen bei Weitem."
Das in Deutschland für die Impfstoffüberwachung zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sammelt Meldungen über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen in Sicherheitsberichten. Im letzten Bericht vom 4. Mai 2022 heißt es: "Die Melderate betrug für alle Impfstoffe zusammen 1,7 Meldungen pro 1.000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,2 Meldungen pro 1.000 Impfdosen." Dies entspräche also 0,02 Prozent.
PEI-Präsident Klaus Cichutek äußerte sich in einem ZDF-Beitrag vom 11. Juni zu der Charité-Studie. Das PEI sehe aufgrund der bisher bekannten Methodik der Studie Schwächen und Möglichkeiten der Verzerrung der erhobenen Daten.
Die Nahelegung, dass nicht bekannt sei, welche und in welchem Ausmaß Nebenwirkungen auftreten, sei falsch, erklärte Cichutek. "Wir wissen aufgrund der bei uns zehn millionenfachen, aber weltweit milliardenfachen Impfungen mit diesen Impfstoffen im Detail, welche schwerwiegenden und weniger schwerwiegenden Impfreaktionen passieren."
Auch Matthes kam in diesem ZDF-Beitrag zu Wort. Er gehe nach wie vor von einer Untererfassung schwerwiegender Reaktionen in Deutschland aus. Das PEI spricht derzeit von 0,02 Prozent, während Matthes gegenüber dem ZDF auf Daten aus Schweden verwies, die den Wert bei 0,05 Prozent angeben. Die schwedische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel bestätigte den Wert gegenüber "Zeit Online". Das ist zwar 2,5 Mal mehr als die deutschen PEI-Werte, aber weitaus geringer als die Angabe aus der Matthes-Studie von 0,8 Prozent.
Im Interview mit dem MDR betonte Matthes allerdings bereits, dass schwere Nebenwirkungen wie eine Herzmuskelentzündung nach einer Coronainfektion häufiger aufträten als nach der Impfung.
Fazit: Bei der von Harald Matthes durchgeführten Erhebung handelt es sich um eine offene Internetumfrage und nicht um eine wissenschaftliche Studie im engeren Sinne, wie ein Charité-Sprecher erläuterte. Die Datenbasis sei ungeeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über die Häufigkeit von Nebenwirkungen zu ziehen. Auch das PEI, Impfstoffforscher Leif Erik Sander und diverse Medien kritisierten die Methodik sowie die präsentieren Daten aus der Umfrage. Laut Verband Forschender Arzneimittelhersteller könnten klinische Studien mittels Placebo-Gruppen einschätzen, wie viele Symptome durch den Impfstoff verursacht wurden.