Diese Berechnungen zu Flüssiggas aus den USA sind irreführend
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- Veröffentlicht am 6. Mai 2022 um 17:32
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
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Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben die Behauptungen zu US-Flüssiggas auf Facebook geteilt (hier, hier). Auf auf Telegram und Twitter werden ähnliche Beiträge verbreitet. Ein Tiktok-Video mit den Behauptungen erreichte Hunderttausende Zuschauerinnen und Zuschauer. Die AFP-Faktencheck-Redaktion wurde zuerst über WhatsApp auf die Behauptungen aufmerksam gemacht.
Die Behauptung: Durch die Pipeline Nord Stream 1 gelangen im Jahr 55 Milliarden Kubikmeter russisches Gas nach Deutschland, heißt es im Netz. Dieses Gas solle nun durch Flüssiggas, sogenanntes Liquified Natural Gas (LNG), aus den USA ersetzt werden. Bei einer Lieferung mit LNG-Tankern müssten allerdings täglich mehr als 1000 solcher Schiffe Gas liefern, um Nord Stream 1 zu ersetzen. Das Fassungsvermögen eines Tankers liege nämlich aktuell nur bei 147.000 Kubikmetern. 2018 habe es weltweit allerdings nur etwa 470 dieser Tanker gegeben, behaupten die Postings.
Die Beiträge verbreiteten sich einige Wochen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Als Reaktion auf den Einmarsch hatten zahlreiche europäische Staaten, darunter Deutschland, erklärt, künftig Gasimporte aus Russland reduzieren zu wollen. Das Bundeswirtschaftsministerium erklärte am 25. März, bis zum Sommer 2024 sei es möglich, den Anteil russischen Gases auf bis zu zehn Prozent des Gasverbrauchs zu reduzieren. Die Europäische Kommission legte außerdem Anfang März einen Plan vor, Europa bis spätestens 2030 unabhängig von russischen fossilen Rohstoffen zu machen.
Eine Alternative zum russischen Gas könnten Plänen der Europäischen Union zufolge unter anderem Flüssiggasimporte aus den USA sein. Flüssiggas oder LNG ist Erdgas, das mit Hilfe technischer Verfahren so stark heruntergekühlt wird, dass es in den flüssigen Aggregatzustand übergeht. Laut Umweltbundesamt hat LNG nur einen Bruchteil des Volumens – unter 0,2 Prozent – von Erdgas und lässt sich so in großen Mengen per Schiff und auf Fahrzeugen transportieren. Aus diesem Grund ist auch die Behauptung aus den nun verbreiteten Beiträgen zur Kapazität von LNG-Tankern fehlerhaft.
Wie viel Flüssiggas müssten die LNG-Tanker liefern?
Der online verbreitete Vergleich der Transportkapazitäten macht einen wesentlichen Fehler beim Fassungsvermögen der LNG-Tanker. Dieses kann nicht ohne Weiteres auf die Kapazität der Nord-Stream-1-Pipeline umgerechnet werden. Nord Stream selbst gibt die Transportkapazität der Pipeline für das Jahr 2021 mit etwa 59,2 Milliarden Kubikmetern Erdgas an. Allerdings ist das Volumen von Erdgas im flüssigen Zustand sehr viel geringer als im gasförmigen Zustand. Der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGV) erklärt zu LNG auf seiner Website: "Das Expansionsverhältnis von flüssig zu gasförmig beträgt 1:600." Dieser Faktor muss also bei der Umrechnung beachtet werden. Umgerechnet würde es daher jährlich lediglich 720 Schifffahrten brauchen, um die Pipeline in Gänze zu ersetzen.
AFP hat den Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW) um eine Berechnung der benötigten Tanker gebeten. Für eine Beispielrechnung wurde die online angegebene Transportmenge von 147.000 Kubikmetern pro Tanker übernommen.
Ein Sprecher des DVGW erklärte am 5. Mai, dass bei einer Tanker-Kapazität von 147.000 Kubikmetern von einer Liefermenge von 140.000 Kubikmetern auszugehen sei. Dazu werden eine Reisedauer von den USA nach Deutschland von 16,5 Tagen sowie zwei Tage zum Be- und Entladen berücksichtigt.
Ein einzelner Tanker könnte somit etwa neun Hin- und Rückfahrten pro Jahr vornehmen. Das deckt sich mit der Angabe des Instituts Seeverkehrswirtschaft und Logistik von etwa zehn Fahrten eines Schiffs pro Jahr. Dabei könne ein Tanker 1,26 Millionen Kubikmeter LNG transportieren, also umgerechnet 756 Millionen Kubikmeter Erdgas. Insgesamt wären daher 80 solcher Schiffe notwendig, die zusammen 720 Entladungen im Jahr vornehmen.
Auf der Website von German LNG Terminal, einem Projekt zur Errichtung eines LNG-Terminals im norddeutschen Brunsbüttel, wird zudem erklärt, der LNG-Tanker mit dem größten aktuell verfügbaren Fassungsvermögen besitze eine Kapazität von 267.000 Kubikmetern. Das Institut Seeverkehrswirtschaft und Logistik gibt die aktuelle Standardgröße eines Tankers mit 174.000 Kubikmetern an, also etwas höher als die in den Postings verwendete Menge
Auf AFP-Anfrage erklärte das Bundeswirtschaftsministerium am 3. Mai zudem, Deutschland habe im Jahr 2021 noch 46 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland bezogen. Zur Verteilung der durch Nord Stream 1 gelieferten Gasmengen hieß es: "Wie viel Gas, welches über die Nord Stream 1 gebracht wird, in Deutschland bleibt, kann ich Ihnen nicht sagen, da das Gas zum Teil auch in andere Länder weiter geleitet wird und Deutschland nur Transitland ist."
Pläne zur zukünftigen Gasversorgung
In dem online geteilten Beitrag heißt es außerdem, das russische Gas der Pipeline Nord Stream 1 solle "nun durch amerikanisches Gas ersetzt" werden. Dies ist allerdings aus den Mitteilungen Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) so nicht ableitbar.
Das BMWK veröffentlichte am 25. März einen Fortschrittsbericht zur Energiesicherheit in Deutschland. Darin heißt es, Deutschland reduziere die Energieabhängigkeit von Russland in hohem Tempo und wolle die Energieversorgung auf eine "breitere Basis" stellen.
Von zentraler Bedeutung sei es dabei, noch 2022 deutlich weniger Öl und Gas zu verbrauchen. "Der Anteil der russischen Gaslieferungen lag in der Vergangenheit im Mittel bei 55 Prozent. Zum Ende des 1. Quartals 2022 ist er auf 40 Prozent gesunken." LNG-Importe seien erhöht worden, ebenso wie Erdgasimporte aus Norwegen und den Niederlanden. In Deutschland sei für 2022 und 2023 die Fertigstellung mehrerer LNG-Terminals geplant.
Von einem kompletten Stopp russischer Gasimporte oder einem Ersatz für die Pipeline Nord Stream 1 ist in dem Bericht zum aktuellen Zeitpunkt nicht die Rede. Stattdessen heißt es: "So ist in der Summe die schrittweise Reduktion von russischem Gas auf nur noch 10 Prozent des Gasverbrauchs bis Sommer 2024 möglich."
Auch die Europäische Union veröffentlichte am 20. April 2022 eine Mitteilung, wonach eine Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland geplant sei. Eine gänzliche Unabhängigkeit von russischen Brennstoffen werde vor Ende des Jahrzehnts angestrebt. Die USA hätten sich dazu bereit erklärt, die LNG-Exporte in die EU bis 2030 um 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erhöhen. Beim Import von Flüssiggas arbeite die Europäische Union aber auch mit anderen Partnern wie Norwegen, Japan, Südkorea oder Katar zusammen.
Auf AFP-Anfrage erklärte eine BMWK-Sprecherin am 3. Mai, der Großteil des aus Russland bezogenen Gases komme über die Gaspipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Zur angeblichen Abkopplung von russischem Gas erklärte die Ministeriumssprecherin: "Es geht hier nicht um einen sofortigen Stopp – die Reduktion von Gasimporten aus Russland ist aufgrund der hohen Abhängigkeit und den Infrastruktur-Voraussetzungen anspruchsvoll."
Laut BMWK sind Versorgungsunternehmen dabei, LNG-Verträge abzuschließen. So könnten die 46 Milliarden Kubikmeter russisches Gas, die Deutschland 2021 noch bezog, nach und nach ersetzt werden. Von ausschließlich aus den USA bezogenem LNG ist dabei aber nicht die Rede: "Das LNG kommt aus unterschiedlichen Ländern, wir werden nicht einen Anbieter von Gas mit einem Anbieter allein austauschen, wichtig ist hier auch die Diversifizierung."
Die Nord Stream AG, Betreibergesellschaft der Nord Stream 1 Pipeline, teilte AFP am 3. Mai in einer E-Mail mit: "Aktuell ist die volle Transportkapazität der Nord Stream Pipeline uneingeschränkt verfügbar." Längerfristige Prognosen lägen dem Unternehmen nicht vor, die Nominierung der Gastransportmenge geschehe auf täglicher Basis.
Die Bundesnetzagentur informiert auf ihrer Website zur Lage der Gasversorgung in Deutschland: "Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist derzeit gewährleistet." Eine Grafik der Gasflüsse aus Russland über Nord Stream 1 zeigte bis Anfang Mai 2022 keine Einbrüche. Ein leichter Einbruch des Gasflusses Mitte März sei mit auffällig hohen Temperaturen zu diesem Zeitpunkt zu erklären. In Folge sei weniger geheizt worden.
Auf AFP-Anfrage erklärte zudem ein Sprecher des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches am 5. Mai, die Belieferung über die Pipeline Nord Stream 1 erfolge "vertragsgerecht und nominierungskonform". Den kompletten europäischen Gasbedarf mit LNG zu ersetzen sei zudem nicht vorgesehen. Ein solcher Ersatz über ausschließlich aus den USA bezogenes Flüssiggas sei ebenfalls nicht bekannt. "Pipelinegas aus der EU, Nordafrika und der Nordsee wird weiterhin eine große Rolle spielen. Die Erhöhung von LNG-Regasifizierungskapazitäten, die Erhöhung des Pipelinegasbezuges außerhalb von Russland und Einsparungspotenziale beim Gasverbrauch in der Stromerzeugung und Industrie werden dazu beitragen, die russischen Importmengen zu substituieren."
LNG-Infrastruktur in Europa
Laut Gas Infrastructure Europe (GIE), dem Vertreter der Betreiber von Gasinfrastruktur in Europa, sind mit Stand von April 2022 insgesamt 67 LNG-Terminals in Europa und Umgebung in Betrieb, im Bau oder geplant, darunter auch in Ägypten und Marokko. Aktuell in der Europäischen Union betriebene Terminals werden mit einer Anzahl von 21 angegeben, sowie drei in Großbritannien, vier in der Türkei und eines in Russland. Die Postings sprechen damit richtigerweise von 29 Terminals in ganz Europa.
Außerdem nennen die Postings eine Zahl von 470 LNG-Tankern im Jahr 2018. Der Jahresbericht 2019 der internationalen Gruppe der Importeure von verflüssigtem Erdgas (GIIGNL) spricht hingegen von 563 Schiffen zum Jahresende 2018.
Fazit: Nein, um die Gas-Pipeline Nord Stream 1 zu ersetzen, müssten nicht täglich mehr als 1000 LNG-Tanker Flüssiggas nach Europa liefern. Das Volumen des gelieferten Flüssiggases ist im Verhältnis von 1:600 geringer als bei Erdgas, der Bedarf an Tankschiffen ist dementsprechend deutlich kleiner. Ein sofortiger Stopp von russischen Gasimporten ist zudem laut Bundeswirtschaftsministerium aktuell auch nicht vorgesehen. Die Abhängigkeit von russischen Energieträgern soll aber nach und nach verringert werden. Die Bundesnetzagentur verzeichnet weiterhin Gasimporte über Nord Stream 1.