Dieses Video klagt Anti-Corona-Maßnahmen als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" basierend auf Falschinformationen an
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- Veröffentlicht am 22. Oktober 2020 um 17:00
- Aktualisiert am 28. Oktober 2020 um 13:20
- 9 Minuten Lesezeit
- Von: AFP Frankreich, AFP Deutschland, Jan RUSSEZKI
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Fuellmich hat das Video in einem nach ihm benannten Youtube-Channel am 1. Oktober 2020 veröffentlicht. Nur zwei Tage später veröffentlichte er es im selben Channel auch auf Englisch. Seitdem wurde es fast 1,5 Millionen Mal abgespielt. Das Video erreichte auch Tausende Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer, etwa hier und hier.
Im 51-minütigen Video sagt der Anwalt, die Corona-Pandemie in Deutschland sei der "größte zu Schadensersatz verpflichtende Betrugsskandal aller Zeiten", ein "Skandal" und das "größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Fuellmich behauptet, das Coronavirus habe "nirgends auf der Welt für eine Übersterblichkeit gesorgt" und die PCR-Tests könnten "nicht ansatzweise irgendetwas über eine Infektion mit irgendeinem Virus aussagen". Später im Video behauptet er außerdem, dass Krankenhäusern hohe Geldbeträge gezahlt worden seien, damit sie "zum Beispiel einen vom Bus überfahrenen Verstorbenen als Opfer von Covid deklarieren". Außerdem würden Eltern in Deutschland "ihre Kinder entzogen", falls sie die Quarantäne-, Abstands- oder Masketrage-Bestimmungen nicht einhalten würden.
AFP kontaktierte Experten, die solche Behauptungen entkräfteten. Sie sagen, dass die PCR-Tests das Vorhandensein des Erregers SARS-CoV-2 durchaus nachweisen würden. Außerdem hat AFP Daten von demografischen Studien eingesehen, die die Übersterblichkeit in vielen europäischen Ländern während der ersten Welle der Pandemie belegen. Auch die Behauptung über kranke Kinder, die ihren Eltern weggenommen würden, lässt sich widerlegen. Weiterhin fehlt jeglicher Beweis dafür, dass Ärztinnen, Ärzten und Krankenhäusern Geld für falsche Sterbeurkunden gezahlt worden ist.
Wer ist Reiner Fuellmich?
Fuellmich ist seit 1992 in Deutschland als Anwalt zugelassen und hat eine Kanzlei in Göttingen. Immer wieder hat er größere Klagen geführt. So etwa eine Sammelklage wegen sogenannter Schrottimmobilien und Haustürkredite gegen die Hypo- und Vereinsbank im Jahr 2010, bei der er 4500 Bankkunden vertrat. Gemeinsam mit dem Hamburger Anwalt Michael Bondorf klagte Fuellmich auch gegen die Deutsche Bank in zweistelliger Milliardenhöhe.
Auch in seinem Video erzählt Fuellmich von diesen Referenzen und kündigt eine weitere Sammelklage an, die er zusammen mit einem Netzwerk an Anwälten auf den Weg bringen wolle. Auf der zugehörigen Homepage der "Corona-Schadensersatzklage" steht, dass es sich dabei um eine Sammelklage handele, die möglicherweise in den USA oder Kanada eingereicht würde. Auch eine Klage in Deutschland ist dort als Möglichkeit beschrieben. Die Klage würde sich gegen den deutschen Virologen der Berliner Charité Christian Drosten richten, heißt es weiter, der "wider besseren Wissens darüber getäuscht hat, dass die sogenannten PCR-Tests Infektionen nachweisen könnten". Wer sich der Klage anschließen will, von dem verlangen die Anwälte pauschal 800 Euro und später zehn Prozent der möglichen erstrittenen Summe als Erfolgshonorar.
Fuellmich engagiert sich dabei auch abseits der Klage gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Er ist Mitgründer des selbsternannten "Corona-Ausschusses". Mit drei weiteren Anwälten als Ausschussmitgliedern wolle er die juristische Fragen klären, ob die Corona-Maßnahmen des Bundes und der Landesregierungen verhältnismäßig seien, heißt es dort. Auch für eingetretene "Kollateralschäden" suche man nach Schuldigen, heißt es in einem Bericht der Gruppe.
1. Falsche Behauptung: Der PCR-Test gibt keinen Hinweis auf eine Virusinfektion oder eine SARS-CoV-2-Infektion.
Diese Behauptung ist das Hauptargument des Anwalts für den "Betrugsskandal". Seiner Meinung nach eigne sich der weltweit eingesetzte PCR-Test nicht, um eine Infektion eines Patienten mit dem Virus nachzuweisen. Fuellmich sagt: "Ein positiver Test bedeutet nicht, dass eine Infektion vorliegt." Laut ihm sage auch das Robert-Koch-Institut selbst, dass der Nachweis eines Sars-CoV-2-Genoms keine Ansteckungsfähigkeit eines Patienten belege.
Das ist ungenau. Wie AFP in früheren Faktenchecks zeigte (hier auf Deutsch, hier und hier auf Französisch sowie hier auf Englisch), sind PCR-Tests gut geeignet, um das Virus im Körper von Patientinnen und Patienten nachzuweisen. Lediglich, ob diese zum Zeitpunkt des Abstrichs ansteckend sind oder nicht, kann der PCR-Test tatsächlich nicht nachweisen.
Der PCR-Test, der über einen Nasen-Rachen-Abstrich durchgeführt wird, "weist das Vorhandensein des Virus-Genoms nach und daran besteht kein Zweifel", sagte Juan Carballeda, Forscher bei Conicet (Nationaler Forschungsrat für Wissenschaft und Technik in Argentinien) und Mitglied der argentinischen Vereinigung der Virologen, gegenüber AFP im Juli.
AFP hat auch den Mikrobiologen am Conicet, Dr. Juan Sabatté, kontaktiert. Er versichert ebenfalls, dass der PCR-Test "Spezifische RNA-Sequenzen nachweist, die in der RNA des Sars-CoV-2-Virus vorhanden sind".
Auch hat AFP schon früher das Robert-Koch-Institut zum Thema kontaktiert, das Fuellmich als Quelle für sein Argument gegen den PCR-Test einbringt. Sprecherin Ronja Wenchel sagte bereits in einem Faktencheck zu ähnlichen Behauptungen über mangelhafte PCR-Tests in der Schweiz: "Aufgrund des Funktionsprinzips von (RT-)PCR-Tests und hohen Qualitätsanforderungen liegt die analytische Spezifität bei korrekter Durchführung und Bewertung bei nahezu 100 Prozent."
Dr. Cédric Carbonneil, Leiter der Abteilung für die Bewertung der beruflichen Tätigkeiten von Ärzten bei der französischen Gesundheitsbehörde (HAS), schätzt PCR-Tests als sicheres Werkzeug für die korrekte Bestimmung einer Infektion mit Corona ein. "Die Spezifität der (RT-)PCR wird auf etwa 99 Prozent geschätzt", sagt Carbonneil. Das mache "falsch positive" Ergebnisse extrem selten.
Zur Erläuterung der Begriffe: Was im Volksmund schlicht als Corona-Test bezeichnet wird, heißt fachlich korrekt Polymerase-Kettenreaktion, oder kurz: PCR-Test. Ronja Wenchel erklärt, dass zum Teil auch "RT" vor der Abkürzung "PCR" steht, was aber das Gleiche meine: "Da es inzwischen sehr geläufig ist, lassen manche Autoren das "RT-" weg, weil klar ist, dass es sich um einen molekularen Test handelt, der auf PCR, das heißt, auf einer Nukleinsäure-Amplifikation basiert." Es wird also Synonym verwendet.
2. Falsche Behauptung: "Das Coronavirus hat nirgends auf der Welt für eine Übersterblichkeit gesorgt"
Fuellmich behauptet im Video: "Das Coronavirus hat nirgends auf der Welt – schon gar nicht hier in Deutschland – für eine Übersterblichkeit gesorgt."
Es stimmt zwar, dass die Zahlen keinen nennenswerten Anstieg von Todesfällen in Deutschland in diesem Jahr zeigen, aber es stimmt nicht, dass das während der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 auch in anderen europäischen Ländern so war. Mehrere demografische Studien sagen für andere Länder das Gegenteil aus.
So etwa in Italien. Eine im Juli im Journal "JAMA Internal Medicine" veröffentlichte Studie nutzte die Methoden, die üblicherweise zur Messung der Sterblichkeit bei saisonaler Grippe verwendet werden. Dabei berücksichtigten die Forscher nicht nur Fälle mit bestätigtem Corona-Test, sondern auch offizielle Statistiken zu Sterbeurkunden und verglichen die Fälle mit früheren Jahren. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass sich im schlimmsten Monat der Covid-19-Pandemie die Zahl der Todesfälle im Vergleich zu den Vorjahren verdoppelt hat.
Auch in Belgien zeigt eine ähnliche Studie der Vrije Universiteit Brussel, dass im April 2020 die Zahl der Todesfälle in Belgien näher denn je an den Werten lag, die im Land während des Zweiten Weltkriegs verzeichnet wurden. Dabei verglichen die Forscher alle registrierten Todesfälle unabhängig von der Todesursache mit den Zahlen aus den Vorjahren. Dabei stellten sie fest, dass es im April 2020 außergewöhnlich viele Todesfälle gab. "Höchstwahrscheinlich kann diese übermäßige Mortalität vollständig auf Covid-19 zurückgeführt werden", heißt es in einer Mitteilung der Universität zur Studie.
In Frankreich erklärt das INSEE (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) in einer Veröffentlichung vom 18. September 2020, dass "in den vergangenen 20 Jahren im französischen Mutterland zwei Ereignisse zu einem starken Anstieg der Todesfälle geführt haben: die Hitzewelle im Sommer 2003 und Covid-19 im Frühjahr 2020".
Klarheit über die Zahlen gibt auch der europäischen Euromomo-Indikator, der die offiziellen Zahlen der Todesfälle für 24 europäische Länder zusammenstellt. Im Vergleich zeigt er, dass die am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Länder, 1,5 bis 4 Mal mehr Todesfälle verzeichneten als zuvor während der üblichen winterlichen Grippe-Perioden.
Die folgende Grafik zeigt, dass sich die Todesfälle in europäischen Ländern im Vergleich der Vorjahre zum Jahr 2020 unterschiedlich stark häufen. Spanien, Belgien und Frankreich haben während der ersten Welle von Corona-Infektionen eine starke Anhäufung von Todesfällen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz blieb ein Anstieg aus. Der niedrige Wert in Deutschland hat auch etwas mit der Erhebungsmethode der Übersterblichkeit hierzulande zu tun (mehr dazu hier).
3. Falsche Behauptung: "Eltern werden ihre Kinder entzogen", wenn sie die Quarantäne-, Abstands- oder Masketrage-Bestimmungen nicht einhalten.
Wie AFP in diesem Ende August veröffentlichten Artikel erklärt, müssen in Deutschland alle Maßnahmen, die ein möglicherweise infiziertes Kind betreffen, in Anwesenheit eines Elternteils oder Erziehungsberechtigten durchgeführt werden. Auch die Quarantäne soll, wenn möglich, zu Hause stattfinden.
Anderslautende Gerüchte entstanden schon Ende Juli, nachdem online angebliche Briefe der Landkreise Karlsruhe und Offenbach an Eltern in der Region aufgetaucht waren. In diesen Briefen wurde empfohlen, dass ein infiziertes Kind "Kontakte zu anderen Haushaltsmitgliedern vermeiden (muss), indem Sie (die Eltern) für eine zeitliche und räumliche Trennung sorgen". Es solle keine gemeinsame Mahlzeit geben und das Kind solle sich, wenn möglich, in einem separaten Raum aufhalten.
Diese Formulierungen führten zu Kritik von Kinderschutzvereinen. So schrieb der Verein "Familien in der Krise" in einer Mitteilung: "Wir sind nach wie vor, ebenso wie der Deutsche Kinderschutzbund, der Ansicht, dass diese Anweisungen eine Form psychischer Gewalt darstellen".
Der Kinderschutzbund behauptet in einer Mitteilung sogar, dass ihm "in mindestens einem Fall, der uns vorliegt, der Familie bei Zuwiderhandlung mit der Herausnahme aus der Familie des 8-jährigen Kindes gedroht wird". Kurz darauf tauchten dann in sozialen Netzwerken Gerüchte über "missbräuchliche Quarantäne-Unterbringungen" auf, die von der Verwaltung beschlossen worden seien, heißt es in der Mitteilung.
Die Stadt Karlsruhe reagierte auf das Gerücht, dass ein Kind allein in Quarantäne ins Krankenhaus geschickt werden könne, in einer Mitteilung: "Es geht hier um die Unterbringung in einem Krankenhaus oder einer anderen geeigneten Einrichtung. Eine solche Zwangsmaßnahme ist Extremfällen vorbehalten und müsste von einem Richter angeordnet werden." Das allerdings würde so oder so nicht ohne die Eltern passieren: "Wenn es notwendig werden sollte, ein Kind zum Schutz anderer zwangsweise zu isolieren, würde es zusammen mit einem oder beiden Elternteilen untergebracht werden", heißt es in der Mitteilung in Karlsruhe.
4. Fehlender Beweis: Krankenhäusern seien hohe Geldbeträge gezahlt worden, damit sie "zum Beispiel einen vom Bus überfahrenen Verstorbenen als Opfer von Covid deklarieren"
Der Anwalt Fuellmich stellt eine sehr brisante Behauptung im Video auf, ohne eine Quelle zu nennen. Er sagt: "Ärzten und Krankenhäusern weltweit waren zum Teil sehr hohe finanzielle Incentives (Engl.: Anreize) dafür bezahlt worden, dass sie zum Beispiel einen an einem Herzinfarkt oder von einem Bus überfahrenen Verstorbenen als Opfer von Covid deklarierten."
Ähnliche Gerüchte gibt es schon länger. Sie sind in auch in anderen europäischen Ländern in Umlauf. Jedes Mal dementierten Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie die Gesundheitsbehörden der betroffenen Länder die Gerüchte (siehe folgende Faktenchecks).
Im Mai wurde etwa in einem gefälschten Bild behauptet, dass britische Ärzte 120 Pfund bezahlt worden seien, um einen Tod von Covid-19 zu melden, statt nur 75 Pfund für eine Bescheinigung einer anderen Todesursache. Es gibt aber keine Prämie oder Gebühr für die Ausstellung einer Sterbeurkunde, auch unabhängig von der Todesursache, erklärte damals die British Medical Association gegenüber Reuters.
Auch in Belgien wurde Ende August auf Facebook ein Beitrag verbreitet, welcher einen "Zuschuss von 5.000 Euro, der für jeden mit dem Virus begründeten Todesfall gezahlt wird" erwähnt. Mehrere belgische Krankenhäuser und die Bundesbehörden hatten dies in einem AFP-Faktencheck entschieden bestritten.
In Frankreich streute ein weit verbreiteter Beitrag im September außerdem das Gerücht, dass bis zu 5.000 Euro als "finanzieller Anreiz" geboten worden seien, um "das Covid-Kästchen anzukreuzen", wenn ein neue Sterbeurkunde erstellt wurde.
Eine "Fantasie", so Dr. François Simon, Vertreter der französischen Ärztekammer. "Man muss keine Ahnung von öffentlicher Rechnungslegung haben, wenn man sich so einen Mechanismus vorstellt", sagte er am 5. Oktober gegenüber der AFP.
Fazit
Die Behauptungen des Anwaltes Reiner Fuellmich halten einer Überprüfung nicht stand. Entgegen seiner Aussagen, zeigen PCR-Tests zuverlässig Infektionen mit Corona an.
Obwohl während der ersten Pandemiewelle die Infektionszahlen in Deutschland gestiegen sind, blieb ein starker Anstieg von Todesfällen in Deutschland aus – die Behauptung, das sei auch in anderen Ländern so gewesen, ist aber falsch.
Auch Fuellmichs Behauptung, dass Eltern möglicherweise infizierte Kinder entzogen werden, ist falsch. Eltern können ihre Kinder im Falle einer Quarantäne begleiten.
Für die letzte geprüfte Behauptung, dass Krankenhäuser und Ärzte für falsch Covid-19-Sterbeurkunden Geld bekommen hätten, fehlt jeder Beweis.
AFP hat das Video bereits einem Faktencheck auf Französisch, Polnisch und Serbisch unterzogen.
Update, 23. Oktober 2020: Tippfehler korrigiert.