Nein, existierende Daten beweisen keine 20.000 Insolvenzanträge Anfang Mai
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- Veröffentlicht am 12. Mai 2021 um 16:09
- Aktualisiert am 12. Mai 2021 um 16:25
- 4 Minuten Lesezeit
- Von: Max BIEDERBECK, AFP Deutschland
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Sie nennen es einen Tsunami. Tausende User haben im Mai die Insolvenz-Behauptung geteilt. Auf Facebook (hier, hier, hier) und auf Telegram (hier). In den Postings heißt es etwa: "Der Tsunami rollt! Vom 1.05 bis zum 07.05 wurden in D bereits 20'453 Insolvenzanträge gestellt… Kein Wort in den Medien." Andere Postings nennen eine kleinere Zahl und verweisen auf die Website "Insolvenzbekanntmachungen.de", um diese zu belegen. Auch in diesen Postings bricht der Tsunami los und "hier hatten die Verschwörungstheoretiker, Spinner und Schwurbler mit ihren Prognosen recht behalten (...) Vom 01.05 bis einschließlich heute 07.05 satte 20.279 Insolvenzen! Und das ist erst der Anfang!"
Tatsächlich äußerten Marktbeobachter im April öffentlich die Sorge, dass ab Mai zahlreiche Unternehmen in Deutschland Insolvenz anmelden könnten (hier, hier). Grund dafür ist das Auslaufen der sogenannten "Aussetzung der Insolvenzantragspflicht" – mit dieser Regelung hatte es die Bundesregierung Firmen seit März vergangenen Jahres unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, auf einen Insolvenzantrag in der Corona-Zeit zu verzichten (mehr dazu hier). Die angeblich hohe Anzahl an eingegangenen Einträgen in nur wenigen Tagen würde die Sorgen bestätigen, dass das wahre Ausmaß an zahlungsunfähigen Unternehmen in der Corona-Zeit jetzt erst sichtbar würde. Dem ist aber nicht so.
AFP hat zunächst nach statistischen Erhebungen über die Anzahl an Anträgen gesucht. Weder beim Statistischen Bundesamt noch beim Anbieter Statista waren Zahlen für den Mai verfügbar. Anschließend hat AFP die in vielen Postings angegebene Quelle näher angeschaut: die Datenbank "Insolvenzbekanntmachungen.de", die vom Justizministerium in Nordrhein-Westfalen verantwortet wird. Als AFP dort ohne Suchfilter (genau wie die Postings) in der Zeit vom 1. Mai bis zum 7. Mai suchte, zeigte die Tabelle tatsächlich die Zahl 20.434. Die in den Postings leicht abweichenden Ergebnisse lassen sich durch die Anwendung unterschiedlicher Suchfilter in der Datenbank erklären.
Zeigt diese hohe Zahl die tatsächlichen Insolvenzanträge?
Nein. AFP hat zunächst am 11. Mai beim zuständigen Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz nach der Zahl gefragt. Sprecher Stefan Zimmermann bestätigte, dass die offiziellen Statistiken der gestellten Insolvenzanträge der Bundesregierung noch nicht vorlägen. Ebenso verwies Zimmermann auf die oben beschriebene Datenbank als "möglicher Quelle" der für ihn "unsachgemäßen Recherche".
Zimmermann erläuterte: "Veröffentlicht werden hier nicht nur Verfahrenseröffnungen, sondern beispielsweise auch Sicherungsmaßnahmen, Vergütungsbeschlüsse, Verteilungsverzeichnisse und Entscheidungen in Restschuldbefreiungsverfahren. Eröffnungsanträge selbst werden nicht veröffentlicht und sind daher in dem Portal auch gar nicht erfasst."
AFP hat auch beim für die Datenbank zuständigen Justizministerium in Nordrhein-Westfalen nachgefragt. Sprecherin Hilal Tanrisever antwortete in einer E-Mail am 12. Mai: "Das gemeinsame Insolvenzportal ist gerade keine Datenbank aller Insolvenzverfahren."
Die Datenbank sammle alle "öffentlichen Beschlüsse und Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren" von 191 deutschen Insolvenzgerichten. "Hierbei werden in einem Verfahren regelmäßig auch mehrere Veröffentlichungen vorgenommen", schrieb Tanrisever. Zahlreiche Einträge beschreiben demnach also mehrfach dasselbe Verfahren. Die Datenbank zeige "alle Veröffentlichungen in allen Verfahren über ganz Deutschland."
Um eine unabhängige Sicht auf das Thema zu erhalten hat AFP auch den deutschen Mittelstands-Bund nach der Behauptung gefragt, der nach eigenen Angaben die Interessen von 24.000 Mitgliedsunternehmen vertritt. Ein Sprecher bestätigte in einer E-Mail am 12. Mai Zweifel an der korrekten Nutzung der Datenbank, er schrieb weiter: "In den sozialen Medien kursieren derzeit widersprüchliche Zahlen, zum Teil mit reißerischen Aussagen über Pleite-Tsunamis unter deutschen Unternehmen, die durch Corona-Beschränkungen entstanden sein sollen." Diese seien mit Vorsicht zu betrachten. "Viele davon sind sicherlich viel zu hoch angesetzt, was vermutlich auf verfehlte oder ungenaue Recherchen zurückgeführt werden kann." Ein gewisser Anstieg der Insolvenzen im Mai sei außerdem zu erwarten gewesen und deshalb "kein Hinweis auf eine gesamtwirtschaftliche Schieflage oder einen 'Pleite-Tsunami'", schrieb der Sprecher.
Wie hoch ist die Zahl der Insolvenzanträge tatsächlich?
Ministeriumssprecher Zimmermann verwies auf eine Eingrenzung der Datenbanksuche mit dem Filter "Sicherungsmaßnahmen", weil solche Maßnahmen meist unmittelbar nach einem Insolvenz-Antragseingang angeordnet und dann veröffentlicht würden. Unter solche Maßnahmen fällt etwa die Einstellung von Zwangsvollstreckungen. AFP kam mit dieser Suche auf 142 Treffer. "Die tatsächliche Anzahl der Eröffnungsanträge in diesem Zeitraum dürfte jedoch etwas höher liegen, da nicht in jedem Insolvenzverfahren auch Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden", erläutert Zimmermann. Auch Sprecherin Tanrisever aus NRW schrieb, dass die aktuellen Zahlen der Neueröffnungen sich auf "einem eher niedrigen Niveau" bewegten.
Eine Annäherung an die echte Zahl an Insolvenzanträgen bietet die Website "Unternehmensinsolvenzen IN", bereitgestellt von der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie bezieht ihre Daten direkt von den Gerichten. Die Aufbereitung auf dieser Seite ergibt für den Zeitraum 1. bis 7. Mai 2021 eine Gesamtzahl von rund 246 gestellten Insolvenzanträgen in Deutschland.
Fazit: Die in den Postings angegebene Zahl zeigt keine Insolvenzanträge, sondern alle Einzelveröffentlichungen über Verfahren in Deutschland zum Thema. Dabei kommt es auch zur Mehrfachzählung einzelner Verfahren. Die tatsächliche Anzahl an Insolvenzanträgen in Deutschland in diesem Zeitraum war wesentlich geringer und bewegt sich im dreistelligen Bereich.