Nein, die WHO hat nicht zugegeben, dass die Grippe und Corona gleich gefährlich sind

Tausende Nutzerinnen und Nutzer teilen seit dem 10. Oktober auf Facebook eine Behauptung, wonach die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigt habe, das Coronavirus sei höchstens so gefährlich wie die saisonale Grippe. Das stimmt nicht, wie zahlreiche Studien zeigen. Auch die WHO selbst spricht von einer höheren Gefährlichkeit.

Seit dem 10. Oktober verbreiten Facebook-User neue "Breaking News": "Die WHO bestätigt (rein zufällig), dass Covid NICHT gefährlicher ist als die Grippe. Nach 'besten Schätzungen' des Programms für Gesundheitssnotfälle lag der IFR (Infizierten-Verstorbenen-Anteil) bei 0,14%." Mit dieser Behauptung erreichte allein eine Nutzerin über 5.200 Shares, ihr Beitrag wurde mittlerweile allerdings gelöscht. Ein weiterer Beitrag gleichen Inhalts teilten rund 2.800 User. Einen Tag später verbreitete sich dann ein Bild mit der Behauptung, etwa von diesem Profil aus, über 2.500 Mal. Weitere Postings zum Thema gehen hundertfach viral (hier, hier und hier).

Auch auf Telegram macht die Behauptung die Runde, beispielsweise in der Telegram-Gruppe "FREIHEITSCHAT - BLITZ" oder im 140.000 Subscriber starken Kanal des deutschen Verschwörungsmythikers Oliver Janich. Die Behauptungen beschränken sich nicht nur auf den deutschsprachigen Raum. User verbreiten sie auch auf Französisch, Englisch und Polnisch.

Der Vergleich zwischen Grippe und Coronavirus taucht bereits seit Beginn der Pandemie immer wieder auf, vor Kurzem schrieb etwa US-Präsident Donald Trump in einem mittlerweile von Twitter eingeschränkten Tweet: "Die Grippesaison steht vor der Tür! Jedes Jahr sterben viele Menschen, manchmal mehr als 100.000 trotz des Impfstoffs, an der Grippe. Werden wir unser Land schließen? Nein, wir haben gelernt, damit zu leben, so wie wir gelernt haben, mit Corona zu leben, in den meisten Bevölkerungsgruppen weit weniger tödlich!!!"

Aber so einfach, wie sie der US-Präsident und andere darstellen, ist die Situation nicht.

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Eines der Postings auf Facebook mit der Behauptung – Facebook-Screenshot: 14.10.2020

Die Postings auf Facebook berufen sich meist auf dieselbe Quelle, um ihre Behauptung zu stützen: einen Artikel der Website "Off Guardian" vom 8. Oktober. Dabei handelt es sich um einen Blog, der bereits in der Vergangenheit Falschinformationen zu Corona verbreitete, wie Informationen des Anti-Desinformations-Tool "NewsGuard" zeigen. Der "Off Guardian" bezieht sich dabei wiederum auf eine Aussage von Michael Ryan vom 5. Oktober. Der Verantwortliche für Gesundheitsnotfälle bei der WHO hatte in einer Sitzung gesagt: "Unseren derzeit besten Schätzungen zufolge könnten etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung mit diesem Virus infiziert worden sein. Das variiert je nach Land, es schwankt von Stadt zu Land und zwischen verschiedenen Gruppen." AFP hat diese Aussage im Livestream der Sitzung (Session 1, bei Minute 1:01:33) gefunden, Michael Ryan sagte diese Sätze tatsächlich. Über die Gefährlichkeit im Vergleich zur Grippe sagt er allerdings nichts. Im Gegenteil, Ryan gibt in der selben Sitzung an: "Das bedeutet, dass die Mehrheit der Welt weiterhin einem Risiko ausgesetzt bleibt."

Die jetzt verbreiteten Postings aber suggerieren, WHO-Mitarbeiter Ryan sei da unbeabsichtigt ein Geständnis herausgerutscht. Ausgehend von diesen zehn Prozent stellt etwa der "Off Guardian" folgende Rechnung auf:

Es leben weltweit 7,8 Milliarden Menschen. Wenn, wie von der WHO geschätzt, zehn Prozent der Weltbevölkerung infiziert worden sind, mache das im Ergebnis rund 780 Millionen Coronafälle. Die aktuelle weltweite Zahl der Covid-Toten wird vom Blog mit 1.061.539 angegeben. Nach AFP-Zahlen betrug der Stand der weltweit Verstorbenen am 8. Oktober 1.057.084 und am 9. Oktober 1.063.346 . Diese Zahlen stimmen also ungefähr.

Mit diesen beiden Werten berechnet der "Off Guardian" dann eine Infektionssterblichkeit von 0,14 Prozent, nach dem Englischen "infection fatality rate" (IFR). Das sei ein ähnlicher hoher Wert wie bei der Grippe, so die Postings. Dieser Grippe-Wert wiederum wird etwa von Universität Bielefeld mit ungefähr 0,1 bis 0,2 Prozent festgelegt (hier).

Das Problem dieser Rechnung: Die Grippezahlen kommen anders zustande als die Corona-Zahlen und lassen sich deshalb nicht sinnvoll mit ihnen vergleichen.

Der Vergleich mit den Grippezahlen

Die aktuellen Zahlen von Covid-Toten in Deutschland sind Meldezahlen. Das heißt, dass jeder einzelne Fall von einem Labor getestet und gemeldet wird. Bei der Grippe ist das anders. Deren Totenzahlen werden durch die sogenannte Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität ermittelt. Vereinfacht gesagt berechnen Statistiker, wie hoch sie die Todeszahlen für einen gewissen Zeitraum erwarten. Diese Berechnung beruht auf Werten aus der Vergangenheit. Danach gleichen Statistiker ihr Ergebnis mit den tatsächlichen Todesstatistiken ab – sind mehr Menschen gestorben als für einen bestimmten Zeitraum erwartet wurde, spricht man von einer Übersterblichkeit. Wie das Robert Koch-Institut diese genau berechnet, beschreibt das RKI in seinem Epidemiologischen Bulletin 3/2015.

Mit dieser Übersterblichkeit kann man dann zum Beispiel die Auswirkungen einer besonders starken Grippewelle oder auch die Zahl von Hitzetoten eines besonders heißen Sommers schätzen.

Wichtig ist hierbei das Wort "Schätzen": Es werden nicht alle Grippetoten direkt gemeldet, sondern viele eben nur geschätzt. Die statistische Schätzung ist deshalb oft höher als die tatsächlich gemeldeten Todesfälle. Warum wird das bei der Grippe so gemacht? "Die offizielle Todesursachenstatistik ist nicht aussagekräftig, sie beruht auf den Angaben auf dem Totenschein, auf dem die Influenza praktisch nie als Todesursache eingetragen wird", schreibt das Robert Koch-Institut.

In besonders starken Grippesaisons, wie etwa der von 2017/18, sind rund 25.100 Menschen an der Grippe gestorben. Das Robert Koch-Institut bezeichnet diese Grippewelle als "ungewöhnlich stark". Laut Lothar Wieler, Präsident des RKI, war das die höchste Zahl an Todesfällen der vergangenen 30 Jahre. Es gibt aber auch Saisons, in denen nur einige hundert Menschen an der Grippe versterben. Die Zahlen der Grippe mit jenen von Corona zu vergleichen ergibt also grundsätzlich nur sehr bedingt Sinn, weil es bei der Grippe um Schätzungen handelt und bei Corona um tatsächlich gemeldete Todeszahlen.

Die Zahlen aus dem Video und die zwei Berechnungswege

Wer die Schätzung der Postings nachrechnet, kommt tatsächlich auf eine Corona-Sterberate von 0,14 Prozent. Die Zahlen sind für so eine Berechnung aber zu ungenau. Manche Länder testen viel mehr als andere. Auch wie Corona als Todesursache bestimmt wird, unterscheidet sich von Land zu Land, eine einheitliche Richtlinie fehlt. Deutschland zählt etwa Tote nur, wenn ein positiver Corona-Test vorliegt, in Belgien reicht der Verdacht eines Arztes.

Die Epidemiologin Sibylle Stoecklin-Bernard, die für die französische Gesundheitsbehörde Santé Publique arbeitet, glaubt an eine Dunkelziffer bei der Anzahl der Corona-Toten: "Auch wenn wir nicht genau wissen in welchem Umfang, muss man beachten, dass die Gesamtzahl der gemeldeten Toten weltweit wahrscheinlich unterschätzt wird", so Stoecklin-Bernard gegenüber AFP.

Sie erklärt auch, dass es verschiedene Vorgehensweisen gibt, die Sterblichkeit einer Krankheit zu messen: "Wir haben zwei Möglichkeiten, Menschen zu erfassen, die von einer Krankheit betroffen sind: Einerseits anhand der Fälle, also Menschen, bei denen die Krankheit diagnostiziert wurde und andererseits anhand der Infektionen".

Die Postings beziehen sich wie beschrieben auf die Infektionssterblichkeit (IFR). Dieser Wert gibt an, wie viele der Infizierten an einer bestimmten Infektion versterben. Manchmal wird sie deshalb auch Infizierten-Verstorbenen-Anteil genannt. Wie viele Infizierte es im Fall von Corona tatsächlich gibt, lässt sich bisher schwer sagen.

Daneben gibt es aber noch einen zweiten Wert, den Fall-Verstorbenen-Anteil, auch Fallsterblichkeit genannt. Dieser Wert zeigt, wie viele registrierte Fälle einer Infektion daran versterben. Auf Englisch heißt dieser Wert "Case Fatality Rate" und wird oft mit CFR abgekürzt. Dieser Wert kann mit genaueren Zahlen berechnet werden, bezieht dafür aber die Dunkelziffer an nicht gemeldeten Infizierten nicht mit ein.

Ein Beispiel

Folgende Grafikt zeigt die Verhältnisse von Verstorbenen zu den Vergleichsgrößen der bestätigten infizierten Fälle und der insgesamt Infizierten.

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Die Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander - Grafik AFP Faktencheck

Die Hälfte aller Menschen, an denen die Beispiel-Krankheit diagnostiziert wird (in rot) verstirbt an dieser Krankheit. Das ergibt eine hohe Fallsterblichkeitsrate. Vergleicht man dieselbe Zahl an Verstorbenen mit der Anzahl der infizierten Menschen in orange, ist der Anteil von Verstorbenen in grau am orangenen Kreis viel geringer als am roten Kreis. Kurz: Die Hälfte des roten Kreises ist verstorben, im orangen Kreis aber vielleicht nur ein Drittel. 

Der rote Kreis kann zum Beispiel kleiner sein als der orange Kreis, weil nicht alle erkrankten Menschen zum Arzt gegangen sind, oder weil es nicht ausreichend viele Test-Kapazitäten gab. Die Infektionssterblichkeitsrate IFR ist also geringer als die genauere Fallsterblichkeitsrate CFR.

Die WHO erklärt hier, wie man beide berechnet. Wie stark sich der orange und der rote Kreis voneinander unterscheiden, ist je nach Land unterschiedlich. Manche Länder erfassen einen viel höheren Anteil ihrer Infizierten durch Tests, in anderen Ländern ist die Dunkelziffer höher.

Auf den ersten Blick scheint es logisch, die Sterblichkeit einer Krankheit festzustellen, indem man den IFR-Wert berechnet. Diese Zahl ist aber ungenau. Forscher wissen noch nicht genau, wie groß der orange Kreis wirklich ist. Für eine genauere Berechnung gehe man anders vor, so etwa Grégoire Rey, Direktor von Inserm's CepiDc, einem französischen Institut, das auf Statistiken über medizinische Todesursachen spezialisiert ist: "Wir bevorzugen, Kohorten von infizierten Patienten zu verfolgen." Mit dieser Methode komme man auf eine Sterblichkeitsrate bei SARS-CoV-2 von 0,5 bis 1 Prozent.

Auch Epidemiologin Stoecklin-Bernard hält die Vorgehensweise aus dem Posting für "keine gute Art" der Berechnung. Um aus diesen Zahlen Schlüsse zu ziehen, sei es zu früh, sagt auch Frédéric Altare, Forschungsdirektor bei Inserm am 9. Oktober gegenüber AFP.

Außerdem ist die Todesrate generell kein gleichbleibender weltweiter Wert einer Krankheit. Viele verschiedene Faktoren beeinflussen ihn ständig. Je nachdem wie beispielsweise Gesundheitssystem und Bevölkerung reagieren, kann er steigen oder sinken.

Was sagt die WHO?

AFP hat die Weltgesundheitsorganisation bei einer Pressekonferenz am 12. Oktober nochmals genauer zum Vergleich der Sterblichkeit zwischen Corona und der Grippe befragt. Maria Van Kerkhove, Leiterin des Corona-Managements der WHO antworte, dass sich verschiedenste Studien, die sich mit der von den Postings herangezogenen Infektionsssterblichkeitsrate IFR beschäftigen, rund um einen Wert von rund 0,6 Prozent bewegen. "Das mag nicht viel erscheinen, aber es ist viel höher als bei der Grippe", so Kerkhove.


Ab Minute 20 stellt AFP der WHO Fragen zur Sterblichkeit von Corona im Vergleich zur Grippe

Aber woher kommt die zehn Prozent-Schätzung, die den Postings zur Grundlage dient? Sie stamme aus Seroprävalenz-Erhebungen, erklärte Michael Ryan seine Äußerungen vom 5. Oktober später gegenüber AFP. Eine Seroprävalenz-Erhebung schätzt, wie hoch die Anzahl der Menschen ist, die Antikörper gegen SARS-CoV-2 entwickelt haben. Menschen mit Antikörpern im Blut haben sehr wahrscheinlich eine Infektion überstanden. "Wenn man den Durchschnitt betrachtet, sind das zehn Prozent, in manchen Studien viel mehr, in anderen Studien viel weniger", sagt Ryan. Die Aussagekraft dieser Schätzung sei limitiert, aber "in Zukunft  werden wir genauere Daten und Schätzungen haben".

Und dann gibt es noch die Studie des Stanford-Epidemiologen John Ioannidis, die auch die WHO in ihrem Bulletin veröffentlichte und die zuletzt für Schlagzeilen sorgte.

Ioannidis vergleicht in einer Metastudie, also einer Zusammenfassung anderer Untersuchungen, die Infektionssterblichkeitsrate. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sie bei rund 0,27 liege. Ioannidis schreibt aber selbst: "Eine Einschränkung dieser Analyse besteht darin, dass mehrere der eingeschlossenen Studien noch nicht vollständig von Fachkollegen begutachtet wurden und einige noch nicht abgeschlossen sind." Außerdem variiere die Infektionssterblichkeit je nach Ort sehr stark. Die Altersstruktur der Bevölkerung spiele dabei etwa eine eine wichtige Rolle. Das sehen auch andere Studien ähnlich.

Von AFP befragt, ob die Studie von Ioannidis die bestehenden Einschätzungen verändern würde, bestätigte die WHO am 20. Oktober noch einmal ihre bisherige Einschätzung einer Infektionssterblichkeitsrate: "Mehrere Studien befassen sich mit der Frage der COVID-19-Mortalität, und sie nähern sich einer Infektionstodesrate von etwa 0,6 Prozent an, was viel höher ist als bei der saisonalen Grippe."

Verlauf und Komplikationen von Corona

Abgesehen davon, dass die Zahlen nur schwer miteinander vergleichbar sind, sprechen auch andere Gründe dafür, dass Corona gefährlicher ist als die Grippe. "Für Risikopersonen ist die Grippe eine ernste Krankheit, aber der Vergleich mit einem Virus wie Covid-19 ergibt nicht viel Sinn", meint Epidemiologin Bernard-Stoecklin.

Ein Unterschied bestehe etwa darin, dass sich Risikopersonen gegen die Grippe impfen lassen können. Gegen Corona gibt es trotz intensiver Forschungsbemühungen aktuell noch keinen zugelassenen Impfstoff. RKI-Präsident Wieler sagte 2019 über die Grippeimpfung: "Es gibt keine andere Impfung in Deutschland, mit der sich mehr Leben retten lässt". Für Corona fehlt diese Möglichkeit noch. Das Coronavirus breite sich leichter aus, so das amerikanische Center for Disease Control CDC.

Außerdem sind die Symptome unterschiedlich schwer, hält das CDC fest: "Covid-19 scheint bei manchen Menschen schlimmere Erkrankungen auszulösen". Bernard-Stoecklin weist ebenfalls auf die schwerwiegenden Auswirkungen auf Menschen hin, die – mit Ausnahme von weniger betroffenen Kindern – im Durchschnitt oft jünger seien als bei der Grippe.

"Auch wenn es bei einigen Fällen ebenfalls zu akuten Atemwegsinfektionen kommt, liegen wir mit der Grippe auf einem weit niedrigeren Niveau an Komplikationen", sagt Frédéric Altare von Inserm. "Corona ist viel schwerwiegender als die Grippe, es ist nicht nur ein 'Grippchen'. Das ist nicht nur eine Annahme, das haben wir auf der Intensivstation gesehen." Danach dauere es oft Monate, um sich vom Aufenthalt auf der Intensivstation zu erholen, führt Dominique Costagliola an. Sie ist Epidemiologin am Inserm. Manche an Corona Erkrankte "haben noch Monate nach der Erkrankung Symptome oder Nachwirkungen".

Schließlich ist Corona auch eine Bedrohung für jene, die gar nicht daran erkranken. Kollabiert das Gesundheitssystem aufgrund überfüllter Krankenhäuser wegen wachsender Infektionszahlen, kann dies dramatische Folgen für die ganze Bevölkerung haben.

Fazit

Die Rechnung des Artikels scheint nur auf den ersten Blick schlüssig. Die Datenlage ist momentan allerdings zu dünn, zu volatil und zu fehlerhaft, um jedwede Schlüsse daraus zu ziehen. Der Vergleich mit der Grippe auf Grundlage von Totenzahlen ist generell kritisch zu sehen, weil diese Zahlen unterschiedlich erhoben werden.

Außerdem zeigen auch andere Kriterien, dass eine Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus gefährlicher ist als eine Infektion mit der Grippe. Die WHO hat solch eine Aussage auch zu keinem Zeitpunkt bestätigt, sie weist auf eine Sterblichkeitsrate von rund 0,6 Prozent hin.

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