Nein, dieses Bild stammt nicht aus dem ehemals besetzten Wohnprojekt "Liebig 34"
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- Veröffentlicht am 13. Oktober 2020 um 11:50
- Aktualisiert am 14. Oktober 2020 um 12:57
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Max BIEDERBECK, Eva WACKENREUTHER, AFP Deutschland
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Unter anderem der rechte Youtuber Tim Kellner hat das Bild der Matratze als Teil eines Memes am 10. Oktober zwei Mal gepostet (hier und hier). Allein diese Posts haben rund 3.400 Shares. Der Meme-Text beschreibt: "Die in Deutschland am häufigsten getestete Matratze (...) findet man in 'Liebig 34'!" Das Meme samt Foto taucht auch auf anderen Accounts auf, etwa hier, hier oder hier. Abgelichtet wurde es angeblich bei der Räumung des bislang besetzten Hauses "Liebig 34" am 9. Oktober in Berlin.
Die Memes von Kellner und Co. folgten jedoch erst nach einem Facebook-Posting des Fraktionsvorsitzenden der AfD im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski. Er teilte vier Bilder, die angeblich aus der Liebig 34 stammen sollen (hier). Allein seinen Beitrag, gepostet am Morgen des 10. Oktobers, teilten rund 3.100 User.
Darin schreibt der AfD-Politiker: "Liebigstraße 34: Jetzt weiß ich auch endlich, was mit "linksversifft" gemeint ist. Wie kann man nur in einem solchen Dreck leben? Vegetieren ist wohl der richtigere Ausdruck! Das Berliner Dreckloch Liebigstraße 34 in Friedrichshain-Kreuzberg hätte schon vor Jahren von der Gesundheitsbehörde für unbewohnbar erklärt und geräumt werden müssen (...)"
Auch sammelten sich auf Twitter unter dem Trending-Hashtag #Drecksloch zahlreiche Posts, die die angeblichen Bilder aus der Liebig 34 verbreiteten (hier, hier, hier), sogar in den Niederlanden gingen die Aufnahmen auf Twitter herum (hier). Meinungsmacher von der politischen Mitte bis nach rechts außen veröffentlichten die Fotos. Viele von ihnen löschten ihre Beiträge dann später, nachdem eine wachsende Zahl an Usern auf die Falschheit der aufgestellten Behauptungen hingewiesen hatten (hier, hier).
Hinter der Frage nach den besetzten Häusern Berlins steckt eine lange Tradition des politischen Konflikts. Die Liebig 34 ist nur eins von mehreren Beispielen, in dem die Interessen von Besetzerinnen und Besetzern, Investoren, linken und rechten Aktivistinnen und Aktivisten sowie von Politikerinnen und Politikern aufeinanderprallen (mehr dazu hier).
Ein weiteres Beispiel wäre der Kampf um die Rigaer 94, die noch immer besetzt ist (mehr dazu hier). Aus Sicht der politischen Rechten sind Besetzerinnen wie das inzwischen geräumte "anarcha queer feministische Kollektiv" in der Liebig 34 für einen tief verwurzelten Linksextremismus in Deutschland verantwortlich (mehr dazu hier). Die Verbreitung von Behauptungen und Ausdrücken, die den politischen Gegner etwa als dreckig oder tierisch entmenschlichen, hat ebenfalls eine eigene Tradition bei der Rechten (mehr dazu hier). So auch im aktuellen Fall.
Dabei gab es tatsächlich echte Bilder, auch Pazderski hat sie auf Twitter gepostet, die bei einem Presserundgang der Berliner Polizei durch die Liebig 34 aufgenommen wurden. Sie entstanden kurz nach der Räumung. Massenhaft auf Twitter geteilte Screenshots beziehen sich vor allem auf Filmmaterial von BILD und auf Aufnahmen des staatlich-russischen Fernsehsenders ruptly.
AFP kann zeigen, dass die anderen viralen Bilder, also die Matratze, die Küche und das gelbe Zimmer, aus dem Kontext gerissen wurden und nicht aus der Liebig 34 stammen.
1. Die Matratze
In den Facebook-Kommentaren unter Pazderskis Beitrag haben User bereits den Ursprungsort des Matratzen-Bilds gefunden. Sie teilen einen Link zum deutschen Unternehmen "Rümpel Meister Express", das im ganzen Land tätig ist (hier). Das Bild erscheint in einem Blog-Artikel der Firma mit dem Titel "Wohnungsreinigung in Dresden" und zeigt tatsächlich die Matratze. Die Blogeinträge des Rümpel Meisters gibt es in verschiedenen Versionen für mehrere deutsche Städte.
Auf der Website des Unternehmens hat die Aufnahme der Matratze oben links ein Wasserzeichen mit dem Firmenlogo. Außerdem hat AFP den Quellcode der Website überprüft und festgestellt, dass das Bild dort bereits im Oktober 2019 hochgeladen wurde, lange vor der Räumung der Liebig 34.
AFP hat auch den Geschäftsführer von "Rümpel Meister Express" kontaktiert, dessen Geschäftsführer Stefan Schinkel sagte am 13. Oktober: "Wir können bestätigen, dass dieses Bild von einer lange zurückliegenden Räumung in Dresden stammt." Schinkel zeigte sich überrascht über "einen Grad an krimineller Energie mit dem hier unser Firmenlogo herausgeschnitten wurde und das Bild in falschem Kontext verbreitet wird."
2. Die Küche
Auch das zweite Bild von Pazderski und Co. stammt von einem anderen Ort und aus einer anderen Zeit. Wieder fanden Facebook-User die Aufnahme auf der Website einer Reinigungsfirma und wiesen Pazderski unter dessen Post darauf hin. Diesmal heißt das Unternehmen "Haushaltsauflösung Kiel". Die Firmenseite verweist auf einen Fotografen für alle gezeigten Fotos: Einen gewissen Rolf Henschel, der die Online-Agentur NordNett im schleswig-holsteinischen Preetz betreibt.
Am 12. Oktober 2020 bestätigt Henschel gegenüber AFP am Telefon und per E-Mail: "Ich habe das Bild 2006 in Bad Oldesloe als Teil einer Serie aufgenommen." Weiter sagt Henschel, er habe bisher nichts von der aktuellen Verwendung seines Bildes gewusst: "In den vergangenen Jahren haben Leute das Bild immer wieder ohne meine Erlaubnis verwendet, aber so etwas hatte ich noch nie", sagt er.
3. Das gelbe Zimmer
AFP führte eine umgekehrte Bildersuche nach dem Foto durch: Es taucht in zwei Nachrichtenartikeln auf. Einer stammt aus der Frankfurter Rundschau vom Januar 2019 (hier) und einer aus der Taz vom November 2011 (hier). Beide Texte verweisen als Bildquelle auf Nachrichtenagenturen. AFP fand das Bild anschließend im Archiv der deutschen Nachrichtenagentur dpa:
Die dpa-Beschreibung des Bildes gibt Aufschluss über dessen Ursprung: Es zeigt tatsächlich eine Wohnung in der Liebigstraße. Es handelt sich aber nicht um Hausnummer 34, sondern um die Nummer 14. Die gezeigte ebenfalls besetzte Wohnung wurde bereits 2011 mit Hilfe von 2000 Polizisten geräumt. Im Oktober 2020 waren bei der Räumung von Liebig 34 rund 5000 Polizisten vor Ort.
Fazit
Die tausendfach geteilten Bilder sind alle an einem anderen Ort und lange vor der Räumung der Liebig 34 entstanden.
Update 14.10.2020: Die Aussage eines Sprechers der Polizei Berlin wurde unter dem Bild des Innenhofs der Liebig 34 hinzugefügt. Update 13.10.2020: Ein weiterer Post wurde der Aufzählung hinzugefügt.