Dieses Video aus Italien beweist keine Manipulation von Aufnahmen einer Anti-Corona-Demo
- Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
- Veröffentlicht am 9. November 2021 um 15:22
- 8 Minuten Lesezeit
- Von: Marie GENRIES, AFP Belgien
- Übersetzung: Jan RUSSEZKI
Copyright © AFP 2017-2024. Für die kommerzielle Nutzung dieses Inhalts ist ein Abonnement erforderlich. Klicken Sie hier für weitere Informationen.
Dutzende Facebook-User haben seit dem 19. Oktober 2021 das Video aus Triest geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram erreichte die Aufnahme fast 300.000 User.
Sie alle zeigen ein Video, in dem ein Mann in der Menge einer Demonstration steht und sein Smartphone abfilmt. Auf diesem hat er um 20:30 Uhr die Liveübertragung einer Livecam geöffnet, die den Platz zeigen soll, auf dem er steht. Auf seinem Handy ist der Platz in Triest fast menschleer zu sehen. Ein anschließender Kameraschwenk des Mannes zeigt dann allerdings, dass sich auf dem Platz eine Menschenmenge versammelt hat.
Die irreführende Behauptung: "Dies ist die 'Trieste live webcam', die gerade den Platz der Einheit zeigt, 20:30 Uhr. Das ist die wahre Situation, das ist das, was sie uns glauben machen wollen", sagt der Mann im Video auf Italienisch.
User sehen dies als Beweis für einen Betrug. Sie schreiben wortgleich in den Videobeschreibungen: "Demonstranten auf dem zentralen Platz, dem Platz der Einheit Italiens, in der norditalienischen Hafenstadt Triest. Die Webcam zeigt zeitgleich einen fast menschenleeren Platz. Jeder billige Trick wird genutzt, um die Gegner der Impf-Agenda vorzuführen."
Seit dem 15. Oktober gilt an allen Arbeitsplätzen in Italien eine Pflicht für einen Gesundheitspass (hier, hier). Dieser ist in Italien als "Grüner Pass" bekannte und entspricht dem 3G-Nachweis in Deutschland. Diese neue Regelung hat seitdem in mehreren Städten des Landes, darunter auch in Triest, Demonstrationen ausgelöst (hier, hier).
Wann wurde das Video gedreht?
Nach Angaben mehrerer italienischer Websites und Medien (hier, hier) wurde das Video am 18. Oktober 2021 aufgenommen. AFP hat keine weiteren Versionen der Aufnahme vor diesem Tag finden können. Die ersten erscheinen erst nach 20:30 Uhr in sozialen Netzwerken, also nach der im Video genannten Uhrzeit. Darüber hinaus wurde das Video um 21 Uhr von Gegnerinnen und Gegnern des Grünen Passes in einer italienischen Telegram-Gruppe geteilt. Dort wurden Informationen über die Demonstration zum Teil nur Sekunden nachdem sie passiert sind, verbreitet.
Wo genau versammelten sich die Demonstrierenden?
Die Proteste gegen den Gesundheitspass am Arbeitsplatz begannen am Freitag, den 15. Oktober 2021 in Triest. Ein Teil der Demonstrierenden hatten den Hafen der Stadt blockiert. Die Proteste dauerten mehrere Tage und führten zu Zusammenstößen mit der Polizei. Am 18. Oktober berichteten italienische Medien von rund 2.000 Demonstrierenden.
Italienische Medien berichteten weiter, dass sich die Demonstration am 18. Oktober 2021 vom Hafen auf den nahe gelegenen Hauptplatz, die Piazza Unità d'Italia (Platz der Einheit Italiens), verlagerte. Auch ein Youtube-Video zeigt, wie sich eine große Menschenmenge tagsüber auf dem Platz versammelt.
Dank mehrerer Hinweise konnte AFP den Ort ausfindig machen, an dem der filmende Mann im aktuell geteilten angeblichen Beweisvideo steht: Es ist das rote Kreuz auf der Karte.
Im Video sind bei Sekunde 12 das Rathaus und der Palazzo Pitteri (blaue Kreise mit den Nummern 1 und 2) in weiter Entfernung im Hintergrund zu sehen. Bei Sekunde 14 ist hinter dem Banner ein Gebäude mit Fahnen zu sehen. Dabei handelt es sich um den Sitz der Region Friaul-Julisch Venetien (blauer Kreis mit der Nummer 3). Der filmende Demonstrant steht mit dem Rücken zum Verwaltungsgebäude, das am Ende des Videos zu sehen ist (blauer Kreis, Nummer 7). Die Position lässt sich auch an den beiden Denkmälern erkennen (orange eingekreist und mit 4 und 5 nummeriert) sowie an einem Laternenpfahl in unmittelbarer Nähe (gelb eingekreist, mit 6 nummeriert).
Auf der anderen Seite in Richtung des Platzes ist bei Sekunde 27 zu sehen, dass die Menschenmenge mindestens bis zu dem auf dem Bild gelb eingekreisten Laternenpfahl mit der Nummer 8 zu reichen scheint. Diese Denkmäler und die Laternenmasten 6 und 8 sind gar nicht im Blickfeld der Livecam zu sehen. (Dazu gleich mehr.)
Wo befindet sich die Livecam?
Die Kamera, die der Demonstrant im Video auf seinem Handy abfilmt, befindet sich laut Betreiber "Skyline Webcams" an der Ecke Via Capo di Piazza G. Bartoli. Die Website von "Skyline Webcams" überträgt sie fast live mit einer Verzögerung von 20 Sekunden. Das Unternehmen schreibt im FAQ auf der Homepage, dass es kein Archiv für die aufgenommenen Videos pflegt. Neben der Live-Kamera können Interessierte auf der Website einen "Zeitraffer" ansehen, der eine beschleunigte Version der Aufnahmen des vergangenen Tages zeigt.
Die italienische Faktencheckplattform "Open Online", die auch Mitglied im International-Fact-Checking-Network ist, hat den Zeitraffer der Kamera vom 17. und 18. Oktober 2021 archiviert, bevor neue Aufnahmen des Folgetages das Video-Material ersetzten. Am 19. Oktober veröffentlichten "Open Online" den Zeitraffer in einem Artikel. "Skyline Webcams" bestätigte am 26. Oktober gegenüber AFP, dass das Video vom 18. Oktober 2021 stammt.
Am Nachmittag dieses Tages (ab Sekunde 23) ist eine Menschenmenge in den Aufnahmen der Livecam zu sehen, die sich auf der rechten Seite des Platzes bewegt und Demonstranten, die sich hinsetzen (ca. Sekunde 28) – das stimmt mit anderen veröffentlichten Fotos und Videos dieses Tages überein, auch wenn die Webcam nur einen Teil der Demonstration zeigt.
Ungefähr bei Sekunde 35 bewegt sich eine neue Gruppe von der Stadt aus nach rechts auf den Platz, wo sich der Hafen befindet. Nach Einbruch der Dunkelheit zeigen die Livecam-Bilder tatsächlich keine Menschenmenge wie die, die der Demonstrant im Facebook-Video zeigt.
Das allerdings hat auch einen Grund: Am 19. Oktober 2021 gab die Website von "Skyline Webcams" auf Twitter und Facebook bereits bekannt, dass die Ausrichtung der Kamera es nicht erlaube, die Demonstration zu sehen, die in einem Bereich des Platzes stattfand, der von der Kamera nicht erfasst wurde. Das Unternehmen schrieb:
Am 27. Oktober 2021 versicherte "Skyline Webcams" außerdem gegenüber AFP, dass die Kamera auf dem Platz am Abend des 18. Oktober 2021 "keine Fehler oder Probleme" aufwies. "Der Vollständigkeit halber berichten wir, dass die Webcam vor dem Morgen des 18. kurzzeitig offline war (sichtbar in den ersten Sekunden des Zeitraffers), was bei allen Webcams von Zeit zu Zeit vorkommen kann und von der Internetverbindung abhängt", hieß es weiter.
AFP hat sich die von der Livecam übertragenen Bilder genau angesehen, tatsächlich decken sie nur einen Teil der Piazza Unità d'Italia ab, vom Palazzo Pitteri bis etwas mehr als der Hälfte des Rathauses – ein Winkel, der etwas breiter ist als der, den "Skyline Webcams" es in ihrer Mitteilung beschreibt. So sind dennoch die oben erwähnten Denkmäler am Ende des Platzes nicht im Sichtfeld der Livecam sichtbar.
Auch die an diesem Abend von Medien ausgestrahlten Bilder bestätigen die Erklärungen von "Skyline Webcams". Die Demonstranten hatten sich gegen 20.20 Uhr und 21.30 Uhr nur in einem Teil des Platzes versammelt, der für die Kamera nicht sichtbar war.
So wurde beispielsweise die 20 Uhr-Nachrichtensendung des italienischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders "Rai 1" 18 Minuten nach Beginn der Sendung, um 20.18 Uhr, live vom Platz ausgestrahlt, also wenige Minuten vor dem aktuell verbreiteten Facebook-Video.
Der "Rai 1"-Reporter befindet sich in dieser Liveschalte am anderen Ende des Platzes, nicht weit von der Fontana dei Quattro Continenti (Brunnen der vier Kontinente), gegenüber des Hafens und des Verwaltungsgebäudes. Auch aus dieser Perspektive ist am Fuße des Hauptsitzes der Region keine Versammlung zu erkennen.
Der regionale Fernsehsender "Telequattro" übertrug gegen 21.30 Uhr ebenfalls Live-Aufnahmen von der Demonstration: Darin ist zu sehen, dass sich die Menschen vor allem vor dem Verwaltungsgebäude versammelten, wieder im toten Winkel der Livecam .
Fazit: Dieses Video beweist keine Manipulation von Live-Aufnahmen. Es ist zwar nicht möglich, mit Sicherheit zu überprüfen, ob die Webcam an diesem Abend ordnungsgemäß funktionierte oder nicht. Das Betreiber-Unternehmen erklärte allerdings, dass sie am Abend fehlerfrei filmte. Die filmende Person befand sich an einem Ende des Platzes, der nicht im Blickwinkel der Livecam liegt. Einen Beleg für eine Manipulation kann das Facebook-Video somit nicht liefern.