Nein, die britische Gesundheitsbehörde gab kein höheres Sterberisiko für Geimpfte durch die Delta-Variante zu

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  • Veröffentlicht am 8. Juli 2021 um 15:57
  • Aktualisiert am 8. Juli 2021 um 17:13
  • 6 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Hunderte Facebook-User haben seit Ende Juni eine Behauptung geteilt, wonach die britische Gesundheitsbehörde (PHE) eingeräumt habe, dass geimpfte Menschen ein drei- bis sechsfach höheres Risiko hätten, an einer Delta-Infektion zu sterben, als Ungeimpfte. Der in den Blogs als Beleg zitierte Bericht enthält aber kein Geständnis dieser Art, darin aufgeführte Zahlen belegen auch kein solches. Die Gesundheitsbehörde selbst widersprach gegenüber AFP, ein solches Risiko kommuniziert zu haben.

Zwei Blog-Artikel mit der Delta-Behauptung (hier, hier) haben seit Juni Hunderte User auf Facebook (hier, hier) und Hunderttausende auf Telegram (hier, hier) erreicht. Die Autoren behaupten darin, dass die britische Gesundheitsbehörde "Public Health England" (PHE) in einem Bericht ein erhöhtes Delta-Sterberisiko für Geimpfte bestätigt habe.

Konkret heißt es im ersten Artikel: "Diejenigen, die gegen das Wuhan-Coronavirus (Covid-19) geimpft wurden, haben eine mehr als sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit, an einer zirkulierenden 'Variante' wie 'Delta' zu sterben, als ungeimpfte Menschen, die einfach nur Nein zu den seltsamen experimentellen Medikamenten von (Anm.d. Red.: dem US-Corona-Experten) Tony Fauci und der Regierung sagen."

Im zweiten Artikel heißt es: "Die britische Regierung gibt zu, dass geimpfte Menschen ein 3,25-mal höheres Risiko haben, an dieser Variante zu sterben, als Menschen, die die experimentelle Impfung nicht erhalten haben."

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AFP-Screenshot: 02.07.2021 ( AFP-Screenshot: 02.07.2021 / )

Während die Impfkampagnen weltweit voranschreiten und Stand 5. Juli bereits 3,22 Milliarden Impfdosen verabreicht wurden, breiten sich in verschiedenen Regionen der Erde unterschiedliche Coronavirus-Varianten aus. Diese haben zum Teil andere Eigenschaften als das ursprüngliche Coronavirus. So steht etwa die sogenannte Delta-Variante von Sars-CoV-2 im Verdacht, schwerere Krankheitsverläufe auszulösen, ansteckender zu sein und auch die Wirksamkeit von Covid-Impfungen zu vermindern.

Gab die britische Gesundheitsbehörde ein erhöhtes Risiko für Geimpfte zu?

Die Blog-Artikel zitieren einen Bericht der britischen Gesundheitsbehörde, den AFP gesichtet hat. Er enthält Angaben zur Zahl der Todesfälle bei Geimpften und Ungeimpften, die sich mit der Delta-Variante infiziert hatten.

Laut diesem wöchentlich erscheinenden "Technical Briefing" der PHE vom 25. Juni 2021 machten Delta-Infektionen zu diesem Zeitpunkt rund 30 Prozent (Tabelle auf Seite 8) aller Covid-Infektionen in Großbritannien aus. Von allen an der Delta-Variante Infizierten sind demnach 117 Menschen (rund 0,1 Prozent) verstorben. 70 dieser Verstorbenen (rund 60 Prozent) haben mindestens die erste Dosis eines Impfstoffs erhalten.

Die Blog-Artikel vergleichen nun den Anteil der Delta-Toten mit Impfung und ohne Impfung mit der Gesamtzahl der Infektionen in den jeweiligen Kategorien. Sie kommen darauf aufbauend zu entweder einem sechsmal höheren (Blog eins) oder einem 3,25-fach höheren (Blog zwei) Sterberisiko für Geimpfte.

Der behauptete sechsfach höhere Wert geht aus der PHE-Statistik rechnerisch nicht hervor. Was sich allerdings tatsächlich errechnen lässt, ist die jeweilige Sterberate der Infizierten mit und ohne Impfung. Laut PHE-Bericht sind von den 53.822 ungeimpften Delta-Infizierten 44 Patienten verstorben. Das entspricht einer Sterberate von rund 0,08 Prozent. Von den 27.192 geimpften Delta-Infizierten sind 70 Patienten verstorben, also rund 0,26 Prozent.

Auch wenn es sich um einen kleinen Unterschied von 0,18 Prozentpunkten handelt, ist die Sterberate der Geimpften im Vergleich zu Ungeimpften demnach tatsächlich 3,25 Mal höher als die der Ungeimpften. Aber lässt sich daraus ein höheres Risiko für Geimpfte in Bezug auf die Delta-Variante ableiten?

Darum reichen die Daten für den behaupteten Zusammenhang nicht aus

Der Bericht selbst formuliert keine Risikobewertung dieser Zahlen. Auch eine im Bericht verlinkte PHE-"Risikobewertung" der Delta-Variante erklärt solch ein Risiko nicht. Dort heißt es lediglich, dass die bisherigen Analysen der Delta-Variante darauf hinweisen, dass sie in Großbritannien insgesamt vorherrschend und gleichzeitig ansteckender sei als frühere Varianten.

AFP hat die britische Gesundheitsbehörde gefragt, ob sie in dem Bericht oder an anderer Stelle jemals ein höheres Delta-Sterberisiko für Geimpfte formuliert hat. Am 30. Juni antwortete PHE-Sprecher Luke Weeks in einer E-Mail: "Nein, das ist Unsinn. Das PHE hat nie eine solche Aussage gemacht, und etwas anderes zu behaupten ist unverantwortlich und unehrlich."

Dass sich unter den Delta-Toten mehr Geimpfte als Ungeimpfte befinden, erklärt er wie folgt: "Im Zusammenhang mit einer sehr hohen Durchimpfungsrate in der Bevölkerung ist selbst bei einem hochwirksamen Impfstoff zu erwarten, dass ein großer Teil der Fälle (Anm. d. Red.: Todesfälle) bei geimpften Personen auftritt, einfach weil ein größerer Anteil der Bevölkerung geimpft ist als ungeimpft."

Auch das Alter spielt laut PHE eine wichtige Rolle: Die Sterberate für unter 50-Jährige liegt bei Geimpften bei 0,01016 Prozent. Bei Ungeimpften bei 0,01135 Prozent der Infizierten. Die Sterberaten bei jüngeren Menschen sind also etwa gleich niedrig, bei Geimpften minimal geringer.

Tödlicher sind die Infektionen insgesamt für Menschen über 50 Jahren: Bei den Ungeimpften liegt die Sterberate bei rund 3,89 Prozent, bei den Geimpften bei 0,91 Prozent und damit deutlich niedriger als bei den Ungeimpften.

Die Daten zeigen also, dass sowohl bei jüngeren als auch älteren Menschen das Sterbe-Risiko mit einer Impfung geringer war, bei den Älteren sogar deutlich. Die Sterberate von allen Delta-Infizierten unabhängig vom Alter zeigt allerdings, wie von den Postings betont, dass Geimpfte ein scheinbar höheres Risiko haben. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Statistische Verzerrung durch das "Simpson-Paradoxon"

Prof. Dr. Helmut Küchenhoff, Statistiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, erklärte in einem Telefonat mit AFP am 8. Juli: "Das ist ein ganz klassisches Beispiel für das Simpson-Paradoxon".

In einem solchen Paradoxon können Statistiken inhaltlich gegensätzliche Aussagen zulassen, je nachdem ob man eine Gruppe zusammengefasst betrachtet oder die einzelne Untergruppen anschaut. Das Ergebnis entsteht laut Küchenhoff, weil diese einzelnen Untergruppen in unterschiedlichen Gewichtungen in die Gesamtgruppe einfließen. Es kommt so zu einem Gesamtresultat, das zwar statistisch stimmt, inhaltlich aber keine Aussagekraft hat. Durch einzelne sehr große Zahlen in den Einzelgruppen wird es verzerrt. In diesem Fall: die Zahl der ungeimpften und geimpften Infizierten unter 50 und über 50 Jahren. Hier ist die Zahl der Geimpften in der Gruppe über 50 wesentlich größer als der Anteil der Ungeimpften über 50-Jährigen.

"Man muss die Daten stratifiziert, also in ihrer Altersstruktur betrachten. In beiden Altersgruppen schneiden die Geimpften besser ab. Durch das Übergewicht dreht sich das aber um. Das ist Paradox", erklärte Küchenhoff.

Auch Prof. i. R. Dr. Norbert Henze, distinguiertes Mitglied des Karlsruher Institut für Technologie (KIT), bestätigte AFP am gleichen Tag, dass bei den Daten des PHE ein Simpson-Paradoxon vorliege. Henze hat zu dem statistischen Phänomen ein ausführliches Erklärvideo veröffentlicht.

Henze erklärte in seiner E-Mail an AFP: "Das Gefährliche am Simpson-Paradoxon ist, dass man – je nachdem, was man in den Wald hinausposaunen möchte – nur die eine Seite der Medaille zeigt. Mündigen Bürgerinnen und Bürgern sollten aber die Komplexität in ihrer Gesamtheit durchdringen."

PHE-Sprecher Luke Weeks erklärte gegenüber AFP die aktuelle Verlagerung der Covid-Todesfälle auf die Seite der Geimpften ebenfalls mit dem Alter der Infizierten. Die Priorisierung in der britischen Impfkampagne sah vor, zuerst Menschen zu impfen, "die anfälliger sind oder ein höheres Risiko für eine schwere Erkrankung haben", erklärte Weeks. Diese Risikogruppe habe auch unabhängig von Covid-19 ein höheres Risiko für eine Krankenhauseinweisung oder einen Todesfall. "Sie können daher eher mit Covid-19 als wegen Covid-19 hospitalisiert werden oder sterben." Sie tauchen deshalb in der Covid-19-Statistik auf.

Anhand der Daten lässt sich also sagen, dass Geimpfte in den verschiedenen Altersgruppen ein niedrigeres Risiko haben, an der Delta-Variante zu sterben. Impfungen bieten dabei keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Infektion oder einem tödlichen Krankheitsverlauf. Mit wachsender Zahl Geimpfter wächst also auch die Zahl der unwahrscheinlichen Infektionen trotz Impfung. Zudem könnten einige der verstorbenen Erstgeimpften auch bereits bei der Impfung unbemerkt infiziert gewesen seien.

Impfung bietet Schutz vor Delta-Infektion

Die Impfung, die den Blog-Artikeln zufolge das Risiko vermeintlich erhöht, an Covid-19 zu sterben, schützt nachgewiesenermaßen genau vor diesem Erreger. Laut AFP-Anfrage beim Bundesgesundheitsministerium vom 9. Juli haben sich bis zum 13. Mai in Deutschland nur 0,19 Prozent von zu diesem Zeitpunkt 29,9 Millionen mindestens einmal Geimpften überhaupt infiziert.

Auch bei der Delta-Variante haben laut RKI Geimpfte einen höheren Schutz vor schweren Krankheitsverläufen mit einem Krankenhausaufenthalt als Ungeimpfte. Bei Astrazeneca liege dieser bei einer vollständigen Impfung bei 92 Prozent und beim Wirkstoff von Biontech/Pfizer bei 96 Prozent. Eine unvollständige Impfung reduziert den Schutz vor schwereren Krankheitsverläufen allerdings auf 33 Prozent bei Astrazeneca und Biontech.

Das PHE erklärt in seinem Bericht allerdings: "Es liegen nun Analysen aus England und Schottland vor, die eine verminderte Wirksamkeit des Impfstoffs gegen eine symptomatische Infektion bei Delta-Variante im Vergleich zu Alpha belegen." Jedoch "bedürfen der klinische Krankheitsverlauf und der Schweregrad der Krankheitsverläufe mit Hospitalisierung einer weiteren detaillierten Beurteilung". Es sei zu früh, "um das Verhältnis von Todesfällen im Vergleich zu anderen Varianten zu beurteilen", heißt es in der Risikobewertung.

Fazit: Die Behauptung, die britische Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) habe in einem Bericht zugegeben, dass Geimpfte ein höheres Risiko aufweisen, an einer Delta-Infektion zu sterben als Ungeimpfte, ist irreführend. Der Bericht formuliert an keiner Stelle so eine Bewertung. Die Behauptung begründet sich vielmehr auf dem statistischen Phänomen des "Simpson Paradoxon", das zu starken Verzerrungen und schließlich zu gegenteiligen Aussagen bei Datensätzen führt. Bezieht man die Impfverteilung nach Altersgruppen mit ein, zeigen die vorliegenden Daten im Gegenteil ein niedrigeres Risiko für Geimpfte, an Delta zu sterben.

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