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Nein, Scholz hat nicht den "Ausnahmezustand" in Deutschland vor der Bundestagswahl ausgerufen
- Veröffentlicht am 21. Februar 2025 um 17:05
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Elena CRISAN, AFP Österreich
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In den letzten Tagen und Wochen vor der Wahl musste sich Olaf Scholz nicht nur gegen Falschinformationen rund um die üblichen parteipolitischen Themen wehren, sondern auch gegen Desinformation um die Bestrebungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine auf der internationalen Sicherheitskonferenz in München, sowie um einen Anschlag mit islamistischem Hintergrund.
"Kanzler Scholz wollte den Ausnahmezustand in Deutschland verhängen: Was ist passiert", lautete am 14. Februar 2025 die Überschrift eines Artikels auf der russischen Website "Pravda", die AFP bereits mehrmals auf Falschmeldungen untersucht hat. Dieselbe Falschbehauptung verbreitete sich dann auf Facebook, Telegram, Tiktok und Instagram schlagartig, und wurde sogar vom AfD-Politiker Norbert Raatz geteilt.
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Der Ausschnitt von Scholz' Rede, der von "Pravda" und in den Falschbehauptungen zitiert wurde, stammt aus einer Pressekonferenz, die der Bundeskanzler am 13. Februar 2025 abgehalten hatte, nachdem ein Auto in eine Menschenmenge in München gefahren war und dabei mehr als 30 Menschen verletzte. Der Anschlag, dessen Motiv von den Behörden als mutmaßlich islamistisch eingestuft worden ist, ereignete sich ein paar Tage vor dem Start der Münchner Sicherheitskonferenz. Das Treffen, das vom 16. bis 18. Februar 2025 in der bayerischen Hauptstadt stattfand, brachte 60 Staats- und Regierungschefs, mehr als hundert Minister aus aller Welt und zahlreiche Spitzenvertreter der EU, der Nato und der UNO zusammen.
Scholz drängte auf Aussetzen der Schuldenbremse
In seiner Pressekonferenz am 13. Februar 2025 äußerte sich Scholz zu Deutschlands finanzieller Unterstützung der Ukraine.
"Der Bundestag sollte schnellstmöglich einen Beschluss fassen, wonach der Krieg in der Ukraine und seine schwerwiegenden Folgen für die Sicherheit Deutschlands und Europas als Notlage im Sinne des Artikels 115 Absatz 2 des Grundgesetzes eingestuft werden," sagte er laut Aufnahmen und Mitschrift auf der offiziellen Bundeskanzler-Website. "Das führt dazu, dass unsere Unterstützung für die Ukraine, die heute wichtiger ist denn je, nicht länger zulasten der anderen Aufgaben geht, die unser Staat gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern zu erfüllen hat."
Wie Deutschland seine finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine finanzieren soll, hatte zuvor heftige politische Debatten und Diskussionen im Bundestag ausgelöst und wurde auch zum wichtigen Wahlkampfthema.
Der Kanzler plädierte für eine "Reform der Schuldenbremse, um Investitionen in unsere Sicherheit und Verteidigung davon auszunehmen". Er argumentierte, dass solche Investitionen nicht aus dem laufenden Haushaltsbudget finanziert werden sollen. Die Schuldenbremse gibt der Bundesregierung einen maximalen Rahmen zur Neuverschuldung vor. Die Debatte über eine Lockerung war bereits Anfang dieses Jahres Grundlage anderer Falschinformationen, die AFP überprüfte.
Scholz forderte immer wieder, dass die Finanzierung der Ukraine-Hilfen über neue Kredite laufen solle. Im Gegensatz dazu wollen Union, FDP und auch die Grünen die Waffenlieferungen über eine außerplanmäßige Ausgabe im Haushalt finanzieren. Unter anderem an der Debatte, inwieweit der Haushalt über höhere Schulden ausgeglichen werden könne, zerbrach die Ampelkoalition im November 2024.
Anderer Grundgesetz-Artikel zitiert
AFP kontaktierte am 20. Februar 2025 das Büro des Bundeskanzlers und bat um einen Kommentar. Das Büro bestätigte: "Behauptungen über einen Ausnahmezustand oder eine Verschiebung der Bundestagswahl entbehren jeder Grundlage."
Wie aus der Mitschrift der Rede zu lesen ist, erwähnte Scholz den Begriff "Ausnahmezustand" nicht, sondern sprach von einer "Notlage". Denn das Gesetz sieht "im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen" vor, dass "Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten" werden können, wenn diese Notsituationen die "staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen". Das steht im Grundgesetz, Artikel 115 Absatz 2, worauf sich Scholz explizit in dem Ausschnitt bezog. Das Grundgesetz erwähnt den Begriff "Ausnahmezustand" nicht.
In den Falschbehauptungen ist jedoch von einem anderen Artikel die Rede, nämlich Artikel 115b, welcher dann zur Geltung kommt, wenn "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird". Dort heißt es, dass in dem Fall "die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler" übergeht. Erst weiter, in Artikel 115h, schreibt das Gesetz vor, wie im Verteidigungsfall mit Wahlen umzugehen ist. Aus Scholz' Rede geht jedoch entgegen der Behauptungen hervor, dass er nicht von einem Verteidigungsfall spricht, sondern über "unsere Unterstützung für die Ukraine".
Der Ukraine-Krieg dauert inzwischen knapp drei Jahre. Russland hatte im Februar 2022 einen groß angelegten Angriff auf seinen Nachbarn gestartet. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer noch unbekannt. Aber die weitere finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine wird seit dem Amtsanstritt von US-Präsident Donald Trump zunehmend infrage gestellt. Die Münchner Sicherheitskonferenz war geprägt von der Unsicherheit über die künftige Linie der US-Sicherheitspolitik und Appellen an eine stärkere europäische Eigenständigkeit bei der Verteidigung. Scholz sprach sich im Vorfeld für höhere deutsche Verteidigungsausgaben aus – und unterstrich gleichzeitig die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine.
Eine überraschende Wendung nahm der Diskurs ein, nachdem Donald Trump seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj für den russischen Angriffskrieg verantwortlich gemacht hatte. Selenskyj bezeichnete den US-Präsidenten daraufhin als Opfer russischer Desinformation. Dieser Schlagabtausch intensivierte sich, als gegen Ende der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich wurde, dass Trump mit dem russischen Präsidenten über ein Kriegsende verhandeln soll – allerdings ohne Selenskyj und mit der EU als reiner Beobachter.
Eine Übersicht aller Faktencheck-Artikel zur Bundestagswahl 2025 findet sich auf der AFP-Website.
Fazit: In einem Beitrag des russischen Mediums "Pravda" wurde fälschlich behauptet, Bundeskanzler Olaf Scholz hätte einen "Ausnahmezustand" in Deutschland verhängt, was zur Verschiebung der Wahlen führen würde. In der Rede, auf die Bezug genommen wird, sprach der Kanzler jedoch von der Unterstützung Deutschlands für die Ukraine und forderte eine Reform der Schuldenbremse.