Altes Video: Nach Assad-Sturz keine Hinweise auf "gigantische Flüchtlingsströme" aus Syrien

  • Veröffentlicht am 17. Dezember 2024 um 17:14
  • Aktualisiert am 17. Dezember 2024 um 17:48
  • 7 Minuten Lesezeit
  • Von: Elena CRISAN, AFP Österreich
Anfang November 2024 brachten Rebellengruppen die syrische Regierung unter Baschar al-Assad zu Fall. In sozialen Medien kursiert daraufhin die falsche Behauptung, dass "neue gigantische Flüchtlingsströme" aus Syrien nach Europa flüchten. Dazu wird ein Video geteilt, in dem zahlreiche Personen mit Gepäck eine Straße entlanggehen. Doch das Video ist alt. Zudem gibt es laut Expertinnen und Experten keine Belege für einen aktuellen Anstieg an Geflüchteten aus Syrien.

Die Männer haben viel Gepäck; sie schleppen Koffer, Decken und Plastiksäcke. Viel mehr ist auf diesem unscharfen Video, das derzeit zahlreich auf Facebook verbreitet wird, nur schwer zu erkennen. Ersichtlich ist jedoch: Es handelt sich um unzählige Menschen, die in schnellem Tempo in eine Richtung gehen. Das Video wurde offenbar aus einem fahrenden Auto aufgezeichnet. 

"In Syrien machen sich aktuell neue gigantische Flüchtlingsströme auf den Weg nach Europa", schrieben Userinnen und User, die das Video teilten. "Deshalb wurde Assad gestützt", heißt es etwa in den Kommentaren.

Auch auf X und Telegram finden sich zahlreiche Posts. Das Video samt der Falschbehauptung kursiert ebenfalls in anderen Sprachen wie Englisch.

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Facebook-Screenshot der Behauptung: 16. Dezember 2024

Doch die Behauptung, dass das Video eine große Anzahl syrischer Flüchtlinge zeige, die auf dem Weg nach Europa seien, ist falsch. Bei dem Video handelt es sich um eine alte Aufnahme. Das verbreitete Video belegt keine aktuellen "Flüchtlingsströme" aus Syrien. 

Video stammt aus 2020

Mithilfe einer umgekehrten Bildsuche konnte AFP den Ursprung der Aufnahmen identifizieren. Laut AFP-Recherchen wurden diese erstmals von Federico Soda von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gepostet. Laut diesem UN-Bericht aus Februar 2024 ist er inzwischen Direktor der Abteilung für Humanitäre Hilfe und Wiederaufbau (hier archiviert). Das geht auch aus seinem Linkedin-Profil hervor.

Am 20. April 2020 veröffentlichte Soda diesen X-Beitrag (hier archiviert). Zu diesem Zeitpunkt leitete Soda die IOM-Mission in Libyen, wie etwa dieser IOM-Aussendung vom 11. April 2020 entnommen werden kann. In diesem Kontext schrieb Soda damals, dass "hunderte tunesische Arbeitsmigranten, die seit Wochen an der tunesisch-libyschen Grenze festsitzen, nun nach Tunesien eingedrungen" seien.

Sodas Beiträge wurden in Medienberichten, darunter auch von AFP, erwähnt, wonach mehr als 600 Tunesier an der libyschen Grenze gestrandet waren. Die Länder schlossen ihre Grenzen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Das teilte laut Medienberichten auch das tunesische Innenministerium mit. Hunderte von Tunesiern, die in Libyen gestrandet waren, nachdem die Grenzen wegen der Coronavirus-Krise geschlossen worden waren, hätten einen tunesischen Grenzposten erreicht. "Etwa 652 Personen werden vor der Einreise Sicherheitskontrollen unterzogen, bevor sie in Quarantäneeinrichtungen gebracht werden", wird das Ministerium zitiert.

In dem Video sind demnach keine syrischen Flüchtlinge zu sehen, die sich aktuell auf den Weg nach Europa machen. Viel eher zeigt es Personen aus Tunesien, die im Jahr 2020 versuchen, nach Hause zurückzukehren.

Soda postete bereits am Vortag andere Fotos auf X, etwa von Männern, die sich laut Beschreibung vor dem Team des Libyschen Roten Kreuzes anstellen, sowie von einem anderen Mann, der medizinisch versorgt wird. Manche tragen blaue Einwegmasken. Mit den Fotos machte er auf die Bedingungen der gestrandeten Männer aufmerksam. "Die meisten schlafen unter freiem Himmel und sind der Ungewissheit ausgesetzt", wie Soda schrieb.

Video kursierte in der Vergangenheit mit anderen Falschbehauptungen

Das Video, das tunesische Männer zeigt, wurde bereits in der Vergangenheit zur Instrumentalisierung gegen Flüchtlinge genutzt. AFP fand einen italienischen Artikel aus Juli 2020 zum Video – nur wenige Monate, nachdem Federico Soda das Video im Netz veröffentlichte. Das Faktencheck-Portal "facta.news" überprüfte darin einen Beitrag, welcher nach dessen Angaben von einem Politiker der rechtspopulistischen Partei Lega veröffentlicht worden war. Zu dem Video habe der Politiker behauptet, dass es sich um Migranten handle, die nach Italien reisen.

Auch in Spanien machte eine Falschbehauptung im Zusammenhang mit dem Video die Runde. Es hieß, dass die Personen im Video auf dem Weg nach Gran Canaria seien. Ein spanischer Faktencheck der Organisation "Maldita" aus November 2020 dazu erwähnte einen Artikel der Nachrichtenplattform "The National" mit weiteren Fotos im Zusammenhang mit Zitaten von Federico Soda. Darin wird beschrieben, dass es sich bei den Aufnahmen im Clip um den Grenzübergang Ras Jedir in Libyen handelt.

Die Landschaft rund um den wichtigsten tunesisch-libyschen Grenzübergang Ras Jedir ähnelt jener im geteilten Video (hier archiviert).

Fachleute sehen keine Belege für erhöhte Einwanderung

"Viele der jetzt kursierenden Videos sind schon älter, aus dem Zusammenhang gerissen und zeigen andere Fluchtbewegungen", erklärte Judith Kohlenberger. Sie ist Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien. "Was wir gesichert wissen, ist, dass sich viele syrische Flüchtlinge auf den Weg aus den Nachbarländern zurück nach Syrien machen. In den letzten Tagen kam es dadurch zu Rückstaus und Wartezeiten, etwa an der türkisch-syrischen Grenze", schrieb Kohlenberger in einer E-Mail an AFP am 13. Dezember 2024.

Auch Yuliya Kosyakova habe "nichts dazu aus seriösen Quellen gehört". Kosyakova ist Leiterin des Forschungsbereichs Migration und Integration bei einer Forschungseinrichtung der deutschen Bundesagentur für Arbeit sowie Professorin für Migrationsforschung an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Die Migrationsforscherin brachte in einer E-Mail an AFP vom 13. Dezember 2024 die Frage auf, was die Gründe für einen solchen "Strom" überhaupt sein sollten. "Das Bamf (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm. d. Red.) hat alle Verfahren gestoppt, somit könnten die Neuzugezogenen auch nicht wirklich Schutz beantragen."

"Man kann davon ausgehen, dass derzeit weder die große Masse an Menschen nach Syrien zurückgeht, noch dass eine große Anzahl nach Europa flieht", schrieb Lukas Gahleitner-Gertz in einer E-Mail an AFP vom 16. Dezember 2024. Der Jurist ist bei der Hilfsorganisation "Asylkoordination Österreich" tätig, welche die Asylgesetzgebung und -verfahren in Österreich überwacht. Laut Gahleitner-Gertz gebe es "überhaupt keine Anzeichen für etwas 'Gigantisches'". 

Viele EU-Staaten setzten die Asylverfahren von Syrerinnen und Syrern aus, so auch Deutschland und Österreich.

Lage in Syrien ist noch instabil

Kämpfer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) hatten am 8. Dezember 2024 Damaskus erobert und die langjährige Herrschaft Baschar al-Assads in Syrien beendet. Die HTS-Miliz hat ihre Wurzeln im syrischen Ableger von Al-Qaida.

Die wichtigsten Verbündeten Assads – Russland, der Iran und die im Libanon ansässige Hisbollah-Miliz – unternahmen nichts, um den Vormarsch der islamistischen Kämpfer auf die syrische Hauptstadt zu verhindern. Assad, dem Entführung, Folter und die Ermordung von Andersdenkenden vorgeworfen werden, floh nach Russland.

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Menschen plündern den militärischen Wohnkomplex Najha im Südosten von Damaskus in Syrien am 16. Dezember 2024 nach der Blitzoffensive der Rebellen (AFP / ARIS MESSINIS)

In den aktuell geteilten Posts mit dem Video werden unter anderem der Einfluss Israels und die Interessen Russlands in Syrien thematisiert.

Nur wenige Stunden nach der Einnahme von Damaskus durch die Rebellen rückte Israel in eine Pufferzone zu Syrien auf den besetzten Golanhöhen vor. Für Russland stellt die Machtübername der Rebellen unter der Führung der HTS-Miliz nach der elftägigen Blitzoffensive einen Rückschlag dar. Der russische Präsident Wladimir Putin galt als wichtigster Verbündeter Assads.

Auch eine angebliche Unterstützung der HTS durch die Ukraine wird in sozialen Medien thematisiert. Laut der Expertengruppe "EU vs Disinfo" des Europäischen Auswärtigen Dienstes ist das eine wiederkehrende Desinformation von kremlfreundlichen Medien, die darauf abziele, die Ukraine zu diskreditieren, indem ihre Regierung mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird.

AFP hat weitere Falschinformationen im Zusammenhang mit dem Fall Assads überprüft. Ähnliche Behauptungen zu einer angeblichen "Invasion" Europas durch Migrantinnen und Migranten kursierten in der Vergangenheit auch auf Polnisch.

Fazit: Ein im Internet verbreitetes Video nach der Entmachtung Assads belegt keinen aktuellen Anstieg von Geflüchteten, die sich von Syrien auf den Weg nach Europa machen. In dem Clip sind Tunesier zu sehen, die nach Grenzschließungen aufgrund der Coronapandemie im April 2020 in Libyen gestrandet waren und wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten.

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