Nein, eine Pädagogin hat keine "Masturbationszimmer" für Kitas gefordert

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Tausende User auf Facebook verbreiten seit Anfang Januar eine Behauptung, wonach eine Sexualpädagogin aus dem brandenburgischen Teltow ein "Masturbationszimmer" für Kitas gefordert habe. Die Bundestagsfraktion der AfD hat diese Behauptung aufgegriffen und verbreitet. Als Quelle dient unter anderem ein Artikel der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" (MAZ), der allerdings falsch wiedergegeben wird. Er wirft lediglich die Frage von angemessenen Schutzräumen für Kita-Kinder auf, also Räume frei von Diskriminierung.

Die vermeintliche Forderung eines "Masturbationszimmers" taucht in zahlreichen rechtspopulistischen Blogs auf (etwa hier, hier und hier). Diese wiederum verbreiteten die Behauptung hundertfach auf Facebook (hier, hier, hier, hier). Auch auf Telegram erreichte sie Hunderttausende Nutzerinnen und Nutzer (hier, hier, hier, hier).

Eine weitere Bühne gaben Bundestagsabgeordnete der AfD. Dazu gehörten etwa Nicole Höchst (hier) und Mariana Harder-Kühnel (hier). Höchst hat auch ein Statement auf der Seite der AfD-Bundestagsfraktion veröffentlicht (hier). 

In all diesen Postings ist von einem "Masturbationszimmer" die Rede. Kühnel etwa titelt ihren Facebook-Beitrag mit den Worten: "'Masturbationszimmer' in Kitas: Hände weg von unseren Kindern!" Höchst schreibt: "Sie (die Pädagogin) ist der Meinung, dass Kinder bis sechs Jahre an Masturbation herangeführt werden müssen und Kitas 'Masturbationszimmer' benötigen." Formulierungen wie diese fallen in allen von AFP gesichteten Blog-Einträgen. 

Auch die CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig hat die  Blog-Einträge kommentiert und darauf aufbauend Kritik geäußert.

Facebook-Screenshot: 12.1.2020

AFP hat sich zunächst die Quellen der Postings angesehen. Diese beziehen sich in den meisten Fällen auf zwei Online-Artikel. Einer stammt von der MAZ (Paywall), einer aus der Zeitung "Bäke Courier". Letzterer wird vom Kommunalpolitiker Christian Kümpel betrieben, der laut Medienberichten früher selbst Mitglied der AfD war. 

Anhand dieser beiden Artikel lässt sich rekonstruieren, wie es zur aktuellen Falschbehauptung gekommen ist. Die MAZ veröffentlichte ihren Artikel am 28. Dezember 2020. Darin beschreibt die Autorin tatsächlich die Arbeit der Sozialpädagogin Anke Sieber – sie schult und berät seit sechs Jahren für den Verein "DREIST e.V." Erzieherinnen und Erzieher aus Teltower Kindertageseinrichtungen zu sexualpädagogischen Konzepten. In diesem Zusammenhang klärt sie das Personal auch über das Thema "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder" auf.

Was steht konkret im originalen MAZ-Artikel?

Im MAZ-Artikel heißt es: "Für regelmäßige emotionale Diskussion während der Seminare sorgt auch das Thema 'Masturbation'. Kinder erkunden ihren Körper auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Situationen, weiß Sieber. Hier sollte die Kita den Kindern einen geschützten Raum geben, etwa durch das Anbieten einer Decke und Aufstellen bestimmter Regeln. Ein rüdes 'Hör auf damit!' sei wenig emphatisch und gehe am Grundbedürfnis von Kindern vorbei."

AFP hat am 12. Januar mit der Autorin des Artikels telefoniert. "Das Wort 'Masturbationszimmer' ist im Interview definitiv nie gefallen. Der 'Bäke Courier' hat Aussagen verwendet und als Zitate gekennzeichnet, die nicht in meinem Artikel stehen", sagte sie. Mit "geschütztem Raum" sei kein echtes Zimmer gemeint. Es sei dabei um einen empathischen Umgang mit Kindern gegangen, wenn diese ihre eigenen Körper erkunden. Es gehe auch darum, den Kindern die Möglichkeit zu geben, diesem natürlichen Bedürfnis kind- und altersgerecht nachzugehen. Zu keiner Zeit würden die Kinder hierzu angeleitet.

Woher kommt der Begriff "Masturbationszimmer"?

Gleichwohl schrieb Politiker Kümpel im "Bäke Courier" unter Berufung auf den MAZ-Artikel: "Die Kinder bis sechs Jahre sollten an das Thema Masturbation herangeführt werden, auch indem man geschützte Räume in der Kita schaffe. Allerdings gibt es in Teltow noch keine solchen 'Masturbationszimmer'."

AFP hat Kümpel am 12.Januar kontaktiert und um eine Klärung der Formulierung gebeten. Er antwortete in einer E-Mail: "In der Tat ist das Wort "Masturbationszimmer" drastisch. Allerdings entstand nach diesem Artikel gut begründete Eindruck, Kinder leben ihre frühkindliche Sexualität in geschützten Räumen aus, wo sie eben unter anderen masturbieren dürfen. Daher rührt also der Begriff. "

Der "Bäke Courier" hat außerdem bereits am 8. Januar eine Richtigstellung zum Artikel veröffentlicht. Darin heißt es: 

"Zum einen ist das Thema Masturbation im Kindergarten bei der Fortbildung durch die DREIST e.V.  zwar Inhalt und Thema, allerdings konnte der Eindruck entstehen, es handelt sich dabei um eine Aufforderung, in der Kita zu masturbieren. Das ist nicht der Fall. Vielmehr soll gelehrt werden, mit Kindern umzugehen, die in der Kita masturbieren. Sie sollen nicht durch Verbote verstört werden. Weiter könnte der Ausdruck 'Masturbationszimmer' einen falschen Eindruck vermitteln. Mit geschützten Räumen ist gemeint, dass die Kinder ihre sexuellen Erfahrungen abgeschieden von den Kameraden machen dürfen."

Was sagen Pädagogin und Kitabetreiber?

AFP hat am 12. Januar auch mit der Stadt Teltow telefoniert, dem Träger der im MAZ-Artikel beschriebenen Kita. Sprecher Jürgen Stich sagte: "Ich stehe im engen Kontakt mit der Kita-Leitung, die beschriebene Fortbildung war bis zu einem bestimmten Punkt völlig normal, der entscheidende Moment war die falsche Darstellung des 'Bäke Couriers'." Diese habe Kümpel dann in eine größere Facebook-Gruppe der Region gepostet, woraufhin die Welle an Blogeinträgen und Facebook-Postings losgetreten worden sei. "Es entstand eine ideologische Auseinandersetzung über einen erfundenen Zusammenhang", sagte Stiche.

Auch Eltern der Kita haben sich in der Zwischenzeit mit einem offenen Brief an die CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig zu Wort gemeldet. Er liegt AFP vor. Darin heißt es: "Sie (Ludwig) sprechen in Ihrer PM jedoch bereits in der Überschrift von 'sexualpädagogischer Früherziehung' ein Begriff, der weder im MAZ-Beitrag noch in den Fortbildungen von DREIST e.V. vorkommt." Weiter heißt es in Bezug auf die Schutzräume: "Wenn Kinder beim Mittagsschlaf oder beim Spiel ihren Körper erforschen, muss sensibel darauf reagiert werden. Indem man das Kind beispielsweise vor den Blicken anderer Kinder schützt (Stichwort: Decke anbieten). In keiner Weise thematisieren die Erzieherinnen und Erzieher das Thema Sexualität mit den Kindern proaktiv."

AFP hat am 12. Januar auch mit der von Facebook-Usern kritisierten Sozialpädagogin Anke Sieber telefoniert. "Ich habe nie irgendetwas von 'Masturbationszimmer' gesagt. Unsere Beratungsstelle setzt sich seit 23 Jahren gegen den Missbrauch von Kindern ein. Es ist unglaublich, dass uns das jetzt unterstellt wird." Ihre Seminare samt Erklärung korrekter Begriffe für Geschlechtsteile und des richtigen Umgangs mit Kindern richteten sich nie an die Kinder selbst, sondern immer an die Erzieherinnen, Erzieher und Eltern.

Die MAZ selbst stellt richtig

Nach der Kritik der Abgeordneten Ludwig hat auch die MAZ selbst am 8. Januar noch einmal einen weiteren Artikel veröffentlicht. Darin schreibt die Zeitung: "MAZ-Beitrag verfremdet: Nach MAZ-Recherchen basiert Ludwigs Kritik auf einer heftigen Auseinandersetzung in den sozialen Netzwerken nach einer Veröffentlichung in einer privat geführten regionalen Zeitung für Teltow (...). Dort war ein MAZ-Beitrag zu den Weiterbildungsveranstaltungen des Kita-Eigenbetriebs sinnentstellend und mit zusätzlichen Aussage des Autors wiedergegeben worden."

FAZIT: Die bundesweit verbreitete Behauptung, eine Sozialpädagogin habe "Masturbationszimmer" für Kinder gefordert, ist falsch. Sie beruht auf der Falschmeldung der lokalen Zeitung eines ehemaligen AfD-Politikers in Teltow. Der Begriff "Masturbationszimmer" ist im Originalartikel über die Arbeit der Sozialpädagogin nicht zu finden. 

Update 12.1.2020: Reaktion Christian Kümpel aktualisiert.