
Nein, die britische Gesundheitsbehörde gab kein höheres Sterberisiko für Geimpfte durch die Delta-Variante zu
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- Veröffentlicht am 27. Juli 2021 um 16:25
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
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Hunderte Facebook-User haben die Behauptung zum erhöhten Risiko als Texttafel geteilt (hier, hier, hier). Zusätzlich verlinken sie einen englischsprachigen Artikel der Plattform "Daily Expose" als Quelle.
Sowohl die Facebook-Postings als auch der Artikel selbst behaupten: "Vollständig geimpfte Menschen haben nach offiziellen Angaben ein 885 % höheres Risiko, an Covid-19 zu sterben als Ungeimpfte."

Während die Impfkampagnen weltweit voranschreiten und Stand 27. Juli bereits 3,93 Milliarden Impfdosen verabreicht wurden, breiten sich in verschiedenen Regionen der Erde unterschiedliche Coronavirus-Varianten aus. Diese haben zum Teil andere Eigenschaften als das ursprüngliche Coronavirus. So steht etwa die sogenannte Delta-Variante von Sars-CoV-2 im Verdacht, ansteckender als frühere Varianten zu sein.
Gab die britische Gesundheitsbehörde ein erhöhtes Delta-Risiko für Geimpfte zu?
Der "Daily Expose"-Artikel zitiert einen Bericht der britischen Gesundheitsbehörde, den AFP bereits Anfang Juli im Zuge einer ähnlichen Falschbehauptung gesichtet hat. Er enthält Angaben zur Zahl der Todesfälle bei Geimpften und Ungeimpften, die sich mit der Delta-Variante infiziert hatten.
Laut diesem wöchentlich erscheinenden "Technical Briefing" der PHE vom 25. Juni 2021 machten Delta-Infektionen zu diesem Zeitpunkt rund 30 Prozent (Tabelle auf Seite 8) aller Covid-Infektionen in Großbritannien aus. Von allen an der Delta-Variante Infizierten sind diesen Informationen zufolge 117 Menschen (rund 0,1 Prozent) verstorben. 70 dieser Verstorbenen (rund 60 Prozent) haben mindestens die erste Dosis eines Impfstoffs erhalten.
Der "Daily Expose"-Artikel vergleicht nun den Anteil der verstorbenen Delta-Infizierten mit und ohne Impfung. Die Autoren berechnen darauf aufbauend ein erhöhtes Sterberisiko bei Geimpften.
Das sieht im Detail so aus: Von allen 7235 Geimpften Infizierten sind laut PHE 50 Menschen gestorben. Das entspricht 0,69 Prozent. Von allen 53.822 ungeimpften Infizierten sind laut PHE 44 Menschen gestorben. Das entspreche laut "Daily Expose"-Artikel 0,07 Prozent. AFP kam bei der Berechnung auf rund 0,08 Prozent. Auf Grundlage des Vergleichs der beiden fettgedruckten Zahlen kommt "Daily Expose" auf ein 885 Prozent höheres Risiko für Geimpfte. AFP kam bei dieser Berechnung auf 846 Prozent. Abgesehen davon ist diese scheinbar große Zahl allerdings noch immer irreführend.
Darum reichen die Daten für den behaupteten Zusammenhang nicht aus
Der Bericht selbst formuliert keine Risikobewertung dieser Zahlen. Auch eine im Bericht verlinkte PHE-"Risikobewertung" der Delta-Variante erklärt solch ein Risiko nicht. Dort heißt es lediglich, dass die bisherigen Analysen der Delta-Variante darauf hinweisen, dass sie in Großbritannien insgesamt vorherrschend und gleichzeitig ansteckender sei als frühere Varianten.
Behauptungen zu einer angeblich höheren Sterberate für Geimpfte kursierten mit unterschiedlichen Zahlen bereits Anfang Juli. AFP hat bereits damals die britische Gesundheitsbehörde gefragt, ob sie in dem Bericht oder an anderer Stelle jemals ein höheres Delta-Sterberisiko für Geimpfte formuliert hat. Am 30. Juni antwortete PHE-Sprecher Luke Weeks in einer E-Mail: "Nein, das ist Unsinn. Das PHE hat nie eine solche Aussage gemacht, und etwas anderes zu behaupten ist unverantwortlich und unehrlich."
Dass sich unter den Delta-Toten mehr Geimpfte als Ungeimpfte befinden, erklärt er wie folgt: "Im Zusammenhang mit einer sehr hohen Durchimpfungsrate in der Bevölkerung ist selbst bei einem hochwirksamen Impfstoff zu erwarten, dass ein großer Teil der Fälle (Anm. d. Red.: Todesfälle) bei geimpften Personen auftritt, einfach weil ein größerer Anteil der Bevölkerung geimpft ist als ungeimpft."
Auch das Alter spielt laut PHE eine wichtige Rolle: Die Sterberate für unter 50-Jährige liegt bei vollständig Geimpften bei 0, es gab also keine Todesfälle. Bei Ungeimpften liegt sie bei 0,01135 Prozent der Infizierten. Die Sterberaten bei jüngeren Menschen sind also etwa gleich niedrig, bei Geimpften minimal geringer.
Tödlicher sind die Infektionen insgesamt für Menschen über 50 Jahren: Bei den Ungeimpften liegt die Sterberate bei rund 3,89 Prozent, bei den vollständig Geimpften bei 1,41 Prozent. Geimpfte Ü50-Jährige sterben also deutlich seltener an Covid-19 als Ungeimpfte.
Die Daten zeigen also, dass sowohl bei jüngeren als auch älteren Menschen das Sterbe-Risiko mit einer Impfung geringer war, bei den Älteren sogar deutlich. Die zusammengenommene Sterberate von allen Delta-Infizierten unabhängig vom Alter scheint allerdings zu zeigen, wie von den Postings betont, dass Geimpfte ein höheres Risiko haben.
Ähnliches gilt im Übrigen auch für Rechnungen von "Daily Expose" in Bezug auf Krankenhauseinlieferungen. AFP hat die Zahlen geprüft, rechnerisch ist alles richtig. Doch auch hier: Geht man tiefer in die Daten und schaut auf die Altersverteilung, hatten nicht mehr die Geimpften, sondern die Ungeimpften und vor allem die im höheren Alter ein höheres Risiko für eine Krankenhauseinlieferung. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?
Statistische Verzerrung durch das "Simpson-Paradoxon"
Prof. Dr. Helmut Küchenhoff, Statistiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, erklärte in einem Telefonat mit AFP am 8. Juli: "Das ist ein ganz klassisches Beispiel für das Simpson-Paradoxon".
In einem solchen Paradoxon können Statistiken inhaltlich gegensätzliche Aussagen zulassen, je nachdem, ob man eine Gruppe zusammengefasst betrachtet oder die einzelne Untergruppen anschaut. Das Ergebnis entsteht laut Küchenhoff, weil diese einzelnen Untergruppen in unterschiedlichen Gewichtungen in die Gesamtgruppe einfließen. Es kommt so zu einem Gesamtresultat, das zwar statistisch stimmt, inhaltlich aber keine Aussagekraft hat. Durch einzelne sehr große Zahlen in den Einzelgruppen wird es verzerrt. In diesem Fall: die Zahl der ungeimpften und geimpften Infizierten unter 50 und über 50 Jahren. Hier ist die Zahl der Geimpften in der Gruppe über 50 wesentlich größer als der Anteil der Ungeimpften über 50-Jährigen.
"Man muss die Daten stratifiziert, also in ihrer Altersstruktur betrachten. In beiden Altersgruppen schneiden die Geimpften besser ab. Durch das Übergewicht dreht sich das aber um. Das ist Paradox", erklärte Küchenhoff.
Auch Prof. Dr. Norbert Henze (im Ruhestand), Mitglied des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), bestätigte AFP am 8. Juli, dass bei den Daten des PHE ein Simpson-Paradoxon vorliege. Henze hat zu dem statistischen Phänomen ein ausführliches Erklärvideo veröffentlicht.
Henze erklärte in seiner E-Mail an AFP: "Das Gefährliche am Simpson-Paradoxon ist, dass man – je nachdem, was man in den Wald hinausposaunen möchte – nur die eine Seite der Medaille zeigt. Mündigen Bürgerinnen und Bürgern sollten aber die Komplexität in ihrer Gesamtheit durchdringen."
PHE-Sprecher Luke Weeks erklärte gegenüber AFP die aktuelle Verlagerung der Covid-Todesfälle auf die Seite der Geimpften ebenfalls mit dem Alter der Infizierten. Die Priorisierung in der britischen Impfkampagne sah vor, zuerst Menschen zu impfen, "die anfälliger sind oder ein höheres Risiko für eine schwere Erkrankung haben", erklärte Weeks. Diese Risikogruppe habe auch unabhängig von Covid-19 ein höheres Risiko für eine Krankenhauseinweisung oder einen Todesfall. "Sie können daher eher mit Covid-19 als wegen Covid-19 hospitalisiert werden oder sterben." Sie tauchen deshalb in der Covid-19-Statistik auf.
Anhand der Daten lässt sich also sagen, dass Geimpfte in den verschiedenen Altersgruppen ein niedrigeres Risiko haben, an der Delta-Variante zu sterben und auch ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Impfungen bieten dabei keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Infektion oder einem tödlichen Krankheitsverlauf. Mit wachsender Zahl Geimpfter wächst also auch die Zahl der unwahrscheinlichen Infektionen trotz Impfung.
Impfung bietet Schutz vor Delta-Infektion
Die Impfung, die den Blog-Artikeln zufolge das Risiko vermeintlich erhöht, an Covid-19 zu sterben, schützt nachgewiesenermaßen genau vor diesem Erreger. Laut AFP-Anfrage beim Bundesgesundheitsministerium vom 9. Juli haben sich bis zum 13. Mai in Deutschland nur 0,19 Prozent von zu diesem Zeitpunkt 29,9 Millionen mindestens einmal Geimpften überhaupt infiziert.
Auch bei der Delta-Variante haben laut RKI Geimpfte einen höheren Schutz vor schweren Krankheitsverläufen mit einem Krankenhausaufenthalt als Ungeimpfte. Bei Astrazeneca liege dieser bei einer vollständigen Impfung bei 92 Prozent und beim Wirkstoff von Biontech/Pfizer bei 96 Prozent. Eine unvollständige Impfung reduziert den Schutz vor schwereren Krankheitsverläufen allerdings auf 33 Prozent bei Astrazeneca und Biontech.
Das PHE erklärt in seinem Bericht allerdings: "Es liegen nun Analysen aus England und Schottland vor, die eine verminderte Wirksamkeit des Impfstoffs gegen eine symptomatische Infektion bei Delta-Variante im Vergleich zu Alpha belegen." Jedoch "bedürfen der klinische Krankheitsverlauf und der Schweregrad der Krankheitsverläufe mit Hospitalisierung einer weiteren detaillierten Beurteilung". Es sei zu früh, "um das Verhältnis von Todesfällen im Vergleich zu anderen Varianten zu beurteilen", heißt es in der Risikobewertung.
Fazit: Die Behauptung, die britische Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) habe in einem Bericht zugegeben, dass Geimpfte ein höheres Delta-Sterberisiko aufweisen als Ungeimpfte, ist irreführend. Der Bericht formuliert an keiner Stelle so eine Bewertung. Die Behauptung begründet sich vielmehr auf dem statistischen Phänomen des "Simpson Paradoxon", das zu starken Verzerrungen und schließlich zu gegenteiligen Aussagen bei Datensätzen führt. Bezieht man die Impfverteilung nach Altersgruppen mit ein, zeigen die vorliegenden Daten im Gegenteil ein niedrigeres Risiko für Geimpfte, an Delta zu sterben und auch hospitalisiert zu werden.