Nein, dieser Screenshot eines Wikipedia-Artikels beweist keine antidemokratischen Pläne des WEF

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  • Veröffentlicht am 7. Dezember 2021 um 09:14
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  • Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
Tausende User haben seit Ende November den Screenshot eines Wikipedia-Artikels auf Facebook gesehen, wonach das Weltwirtschaftsforum (WEF) "klassische demokratische Strukturen" ersetzen wolle. Der Artikel selbst existiert in dieser Form allerdings gar nicht mehr. Auch erklärte der Autor der auf Wikipedia für kurze Zeit genannten Quelle auf AFP-Anfrage, dass dieser Satz nicht von ihm stamme.

Dutzende Nutzerinnen und Nutzer haben den Wikipedia-Screenshot auf Facebook geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram sahen Tausende das Bild und die dazu geteilten Behauptungen (hier, hier).

Die Falschbehauptung: "Seit heute kann man die wahren Ziele des WEF ganz offiziell auf Wikipedia unverhohlen nachlesen", heißt es unter mehreren Facebook-Beträgen. Dazu teilen User einen Screenshot des Wikipedia-Artikels zum Weltwirtschaftsforum. Darin wiederum heißt es: "Das WEF fordert, dass eine globalisierte Welt von einer Koalition aus multinationalen Unternehmen, Regierungen und ausgewählten zivilgesellschaftlichen Organisationen anstelle von klassischen demokratischen Strukturen regiert werden soll." Einige Nutzerinnen und Nutzer sehen darin die Bestätigung einer Verschwörungserzählung, wonach die WEF mit Hilfe der Corona-Pandemie eine neue politische Ordnung schaffen wolle. So heißt es etwa: "WEF fordert die weltweite Abschaffung der Demokratie" (hier, hier, hier).

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Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 02.12.2021

Was ist das Weltwirtschaftsforum?

Das Weltwirtschaftsforum (WEF) beschreibt sich auf seiner Webseite als internationale Organisation zur Förderung der Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Institutionen. Weiter heißt es dort: "Als internationale Organisation ohne kommerzielle Interessen bietet das Forum eine Plattform, auf der führende Vertreter aller Interessengruppen aus der ganzen Welt - Unternehmen, Regierungen und Zivilgesellschaft - zusammenkommen können."

Immer wieder wird das WEF mit Verschwörungserzählungen in Verbindung gebracht (siehe hier, hier, hier). Auch AFP widerlegte bereits Falschbehauptungen, wonach der Gründer und Vorsitzenden des WEF, Klaus Schwab, etwa von einer organisierten Pandemie gesprochen habe.

Besonders der sogenannte "Great Reset", also der große Umbruch, rückt häufig ins Zentrum solcher Erzählungen. Dabei handelt es sich um eine Initiative des WEF zur Umgestaltung wirtschaftlicher Gegebenheiten angesichts der aktuellen Corona-Krise.

Klaus Schwab erklärte dazu in einem Artikel des WEF im Juni 2020:

"Die Covid-19-Krise wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens der Menschen in allen Teilen der Welt aus. Aber diese Tragödie muss nicht die einzige Hinterlassenschaft sein. Im Gegenteil, die Pandemie stellt eine seltene, aber kurze Gelegenheit dar, über unsere Welt nachzudenken, sie neu zu denken und neu zu gestalten, um eine gesündere, gerechtere und wohlhabendere Zukunft zu schaffen."

Das WEF wirbt daher für den "Great Reset". Schwab veröffentlichte dazu ebenfalls ein Buch. In seinem Artikel erklärt Schwab weiter, die Welt stehe womöglich vor der größten Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren. Diese gelte es durch einen "Great Reset" des Kapitalismus zu verhindern. Auch die aktuelle Pandemie, Klimakrise und soziale Herausforderungen seien Anlass dazu, "völlig neue Grundlagen für unsere Wirtschafts- und Sozialsysteme zu schaffen".

Das WEF stellt den "Great Reset" zudem in diesem Video näher vor:

Der Wikipedia-Eintrag wurde manipuliert

Auf Wikipedia erstellt und editiert eine Community die Einträge und überprüft diese nach bestimmten Richtlinien auf Richtigkeit. Dazu gehört etwa eine korrekte Quellenangabe. Mehr Informationen liefert folgendes Erklärvideo von Wikimedia, der Organisation hinter der Enzyklopädie:

In der Versionsgeschichte WEF-Artikels findet sich der Textauszug am 29. November allerdings durchaus wieder. Der Eintrag wurde am 30. November entfernt. Zu der Entfernung der Passage wurde zudem in der Versionsgeschichte ein Kommentar hinterlassen:

"Hier haben Querdenken den Eintrag bewusst verändert mit Verschwörungstheorien, um Ihre Sichtweise als "belegt" darzustellen!"

Ähnliche Kommentare finden sich immer wieder in der Bearbeitungsgeschichte des Artikels. Mal heißt es mit Stand vom 28. November: "Lügen über den angeblich angestrebten Great Reset entfernt." Am 29. September heißt es zu einer Änderung: "‘Aus dogmatischer Perspektive’ ist unbelegt, zudem POV (Anm. d. Red.: persönliche Ansichten) entfernt".

Auf AFP-Anfrage erklärte am 3. Dezember eine Sprecherin der Wikimedia, ein User habe mehrere Änderungen am Artikel zum Weltwirtschaftsforum vorgenommen. "Der oder die User*in wurde von einem Admin verwarnt, die betreffende Änderung zu unterlassen", erklärte die Sprecherin.

Der betreffende User hat im WEF-Artikel unter dem Pseudonym "Polynesia2024" gearbeitet. Auf einer Diskussionsseite zum Artikel des Weltwirtschaftsforums ist die Kritik an dessen Änderungen nachzuvollziehen. Dort wird unter dem Reiter "Verschwörungsbehauptungen" auch begründet, warum die Passagen von "Polynesia2024" entfernt wurden. Hier heißt es:

"Im Moment werden hier abstruse, nicht belastbare Dinge über das WEF hineingeschrieben und dann gleich als Screenshot in Linkedin als "Beweis" gepostet. Auch wurde im versteckten Text als Tag Freimaurerei hineingeschrieben."

Eine von "Polynesia2024" angegebene Originalquelle sei außerdem fehlerhaft übersetzt worden. Zudem sei in dieser Quelle überhaupt nicht von demokratischen Strukturen die Rede gewesen.

"Für meine Begriffe hast du im umseitigen Artikel also verfälscht wiedergegeben, was du hier zitierst. Deshalb wurde das völlig zurecht wieder entfernt."

AFP befragte zur Überprüfung ebenfalls Jens Martens, den Autor besagter auf Wikipedia verlinkter Originalquelle. Martens ist Leiter des Global Policy Forum (GPF), einer "unabhängigen politischen Beobachtungsorganisation, welche die Arbeit der Vereinten Nationen überwacht und die globale Politikgestaltung unter die Lupe nimmt", wie es auf der Webseite des GPF heißt.

Martens erklärte am 2. Dezember: "Die Passage ‘anstelle von klassischen demokratischen Strukturen regiert werden soll’ stammt nicht aus meinem Text und ist dazu gedichtet worden."?

Er halte die verbreitete Verschwörungsideologie zudem für unerträglich und distanziere sich grundsätzlich von derartigen Texten.

Neben dem Artikel zum Weltwirtschaftsforum finden sich auch andere Wikipedia-Diskussionen, in welchen Änderungen des Users "Polynesia2024" kritisiert werden. So heißt es in einer französischsprachigen Diskussion zum Artikel über Klaus Schwab, Kritikpunkte im Artikel seien von "Polynesia2024" konstruiert worden, um eigene Ansichten widerzuspiegeln. Zudem handele es sich bei einer angegebenen Quelle um ein "alternatives Medium mit verschwörungstheoretischen Tendenzen".

Bearbeitung von Wikipedia-Artikeln

Die Wikimedia-Sprecherin erklärte zudem gegenüber AFP: "Es gibt zahlreiche aktive Wikipedianer*innen, die in ihrer Freizeit ehrenamtlich die Inhalte der Wikipedia kontrollieren und neben vielen anderen Aufgaben darauf achten, dass die Inhalte der Wikipedia korrekt sind. Das ist der demokratische Faktencheck, der Community-basiert auf der Wikipedia stattfindet."

In diesem Fall sei die Änderung vollzogen und der Screenshot erstellt worden, bevor ein anderes Mitglied der Wikipedia Community die Änderungen rückgängig machen konnte. Die Änderung mit dem Satz auf dem Screenshot sei allerdings nur für kurze Zeit zu sehen gewesen.

"Wir möchten darauf hinweisen, dass Leser*innen sich bei einem solchen Screenshot immer selbst mit einem Klick auf den tatsächlichen Artikel davon überzeugen sollten, ob der Inhalt so auch tatsächlich aktuell auf der Wikipedia zu finden ist."

Kritik am Weltwirtschaftsforum

Neben den verbreiteten Verschwörungserzählungen existiert aber auch in vielen Fällen sachlich begründete Kritik an den Plänen des Weltwirtschaftsforums. So erklärte Jens Martens auf AFP-Anfrage:

"Tatsächlich sehen wir die vom WEF propagierten Konzepte einer ‘Multistakeholder Governance’ durchaus kritisch, weil sie aus unserer Sicht demokratisch legitimierte Gremien wie die Vereinten Nationen schwächen. Eine ‘Weltverschwörung geheimer Mächte’ wittern wir dahinter allerdings keineswegs."

Zahlreiche Medien berichten zudem, es handele sich bei den Vorhaben des WEF um leere Absichtserklärungen (hier, hier). Das Transnational Institute, eine internationale nicht gewinnorientierte Denkfabrik, erklärt auf seiner Webseite, das WEF spiegele eine winzige globale Elite wieder. "Das Weltwirtschaftsforum hat sich stets für die Perspektiven sozialer Unruhen, Proteste und Widerstandsbewegungen interessiert, insbesondere für solche, die sich direkt gegen die Interessen der Unternehmens- und Finanzmacht richten."

Fazit: Der Wikipedia-Artikel zum Weltwirtschaftsforum wurde manipuliert. Das geht aus der online einsehbaren Versionsgeschichte hervor. Der Autor der vermerkten Originalquelle des auf Facebook geteilten Zitats distanzierte sich gegenüber AFP von den verbreiteten Behauptungen zum Abbau demokratischer Strukturen.

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