
Atombomben haben eine geringere Reichweite als hier dargestellt
- Veröffentlicht am 11. April 2025 um 16:03
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Elena CRISAN, AFP Österreich
Copyright © AFP 2017-2025. Für die kommerzielle Nutzung dieses Inhalts ist ein Abonnement erforderlich. Klicken Sie hier für weitere Informationen.
Atomwaffen wurden seit 1945 in keinem militärischen Konflikt mehr eingesetzt. In sozialen Medien kursierte im März 2025 eine Grafik, welche die Auswirkungen eines möglichen Atombombenabwurfs über Berlin darstellen soll. Doch diese Darstellung ist unrealistisch. Eine solche Zerstörung wäre nicht einmal mit der stärksten je gezündeten Atombombe möglich, wie Experten gegenüber AFP erklärten.
Was würde passieren, wenn eine Atombombe Berlin treffen würde? Diese Frage beschäftigte mehrere Userinnen und User sozialer Plattformen Ende März 2025. Der älteste Beitrag, den AFP fand, war ein Tiktok-Video, das am 16. März 2025 veröffentlicht wurde und seitdem über 14.000 Mal geteilt wurde. Die Beschreibung lautete: "Nuklearer Angriff auf Berlin und dessen mögliche Auswirkungen (hypothetische Annahme)".
Im Video ist zu sehen, wie eine Person eine Deutschland-Karte händisch mit Filzstiften anmalt: zuerst – in Rot – einen Punkt dort, wo sich Berlin befindet und dann eine Fläche, die größer als Brandenburg ist. Dabei steht die Farbe Rot für Totalzerstörung, wie der Legende zu entnehmen ist. Die Karte kursierte ebenfalls auf X, Threads sowie Facebook.

Doch die sogenannte "hypothetische Annahme" hinkt, wie Experten gegenüber AFP erklärten.
Zerstörte Fläche ist inkorrekt abgebildet
Atomwaffen können einen viel größeren Schaden als andere Kriegswaffen anrichten, indem sie Druck, Hitze und Strahlung freisetzen. Allerdings: "Eine derartige Totalzerstörung ist ausgeschlossen", sagte Georg Steinhauser, der am TRIGA Center Atominstitut der Technischen Universität Wien forscht, am 3. April 2025 gegenüber AFP über die gezeichnete Grafik.
Wenn eine Atombombe explodiert, entsteht eine Druckwelle, die mehrere Kilometer weit reichen kann. "Etwa 50 Prozent der Zerstörungskraft einer nuklearen Explosion geht auf die Druckwelle zurück", erklärte der Nuklearexperte. Weiters führte Steinhauser aus, dass der nächstgrößere Anteil Infrarotstrahlung ausmache und ein kleiner Anteil von fünf Prozent die Neutronen- und Gammastrahlung.
Ausschlaggebend für die Größe des Kraters auf der Oberfläche ist, ob die Bombe in der Luft explodiert, oder auf dem Boden gezündet wird. Bei einem sogenannten Airburst in der Luft, reicht die Wucht der Bombe zwar weiter, weil sich die Druckwelle über eine größere Fläche verbreite, doch der Krater auf der Oberfläche werde dafür kleiner, erklärte Steinhauser. So oder so: "Die betroffene Fläche im Video ist überzeichnet." Eine Totalzerstörung Brandenburgs sei "unrealistisch".
Auch was den Fallout betrifft, also den radioaktiven Niederschlag, ist die Karte laut Steinhauser ungenau. Der Fallout entsteht, wenn Staub und Trümmer, die durch die Explosion entstehen, mit radioaktiven Spaltprodukten vermischt und nach oben in die durch die Detonation erzeugte Wolke gezogen werden. Grundsätzlich verursache "eine kleine nukleare Explosion mehr Fallout als eine große". Das liege daran, dass sich 90 Prozent der Radioaktivität im Kopf des Atompilzes (die Wolke, die nach der Explosion entsteht, Anm.) befinde und dieser bei einer kleineren Explosion nicht so weit aufsteige.
"Nicht einmal die Zar-Bombe hätte eine solche Zerstörungskraft", so Steinhauser. Die Sowjetunion testete die Zar-Bombe mit einer Sprengkraft von 57 Megatonnen im Jahr 1961 über einer abgelegenen Inselgruppe, was die größte jemals vom Menschen verursachte Explosion verursachte. Schon damals war sie jedoch zu groß, um in ihrer vollen Kapazität von 100 Megatonnen getestet werden zu können – geschweige denn, jemals gegen ein anderes Land eingesetzt zu werden.
"Russland ist vorsichtig"
"Russland hat 3000 Atomsprengköpfe auch wenn diese Grafik nicht stimmen mag Europa wäre platt", räumte ein User ein, der die Grafik auf der Plattform X verbreitete. In den Kommentaren wurde suggeriert, dass Europa Russland besser nicht "in die Ecke" drängen solle, indem sich Deutschland etwa "in einen Stellvertreterkrieg" in der Ukraine einmische.
Laut Schätzungen der NGO Federation of American Scientists (FAS) verfügt Russland über 5449 Atomwaffen (Stand März 2025). FAS wurde 1945 von Mitarbeitern des "Manhattan Projects" ins Leben gerufen, welches der verstorbene Physiker Robert Oppenheimer ab 1942 leitete. Ihre Schätzungen stützen sich etwa auf Satellitenbilder oder staatliche Publikationen. "Wir haben keine genauen Zahlen, aber das sind gute Schätzungen", sagte Pavel Podvig am 3. April 2025 im Gespräch mit AFP. Podvig forscht am Institut der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung (UNIDIR) zu Massenvernichtungswaffen und betreibt auch ein eigenes Forschungsprojekt zur russischen Nuklearstrategie namens "Russian strategic nuclear forces". Wie er erklärte, würden Atombomben nicht zwangsweise existieren, "um verwendet zu werden, sondern damit den Gegner abzuschrecken".
Über die sogenannte Nukemap von US-Wissenschaftshistoriker Alex Wellerstein lässt sich ein solcher Angriff simulieren. Wellerstein arbeitet am Stevens Institute of Technology in Hoboken in New Jersey. Gemeinsam mit Nuklearexperten Podvig führte AFP eine solche Simulation für einen Luftabwurf einer Atombombe über Berlin durch.
Zwar ist die Zar-Bombe die stärkste, die je getestet wurde, doch als Kriegswaffe galt sie als unpraktisch im Vergleich zu neueren und effizienteren Waffensystemen. Das schlimmstmögliche Szenario im Falle, dass Berlin mit einer Atombombe attackiert werden würde, wäre laut Podvig eine Atombombe mit der Stärke von 1200 Kilotonnen – eine solche gehöre aktuell zu jenen mit der größten Sprengkraft. "Aber solche Bomben existieren und sie sind in der Lage, in einer Stadt den größtmöglichen Schaden anzurichten." Das entspreche etwa der Stärke der US-amerikanischen Bombe namens B83. Russland besitze Bomben mit ähnlicher Sprengkraft. Aber selbst Bomben mit einer solchen Stärke können keinen so großen Schaden anrichten wie in sozialen Medien behauptet.
In Kilotonnen wird die Energie gemessen, die bei einer Explosion frei wird. Im Vergleich betrug die Stärke der Bombe, welche 1945 über der japanischen Großstadt Hiroshima abgeworfen wurde, rund 16 Kilotonnen.
Wie im folgenden Screenshot zu sehen ist, würde ein nuklearer Feuerball in einem Umkreis von rund 1,5 Kilometer alles vernichten, wie der kleinere hellgelbe Kreis auf der Karte markiert. Die grün eingezeichnete lebensgefährliche radioaktive Strahlung würde eine Umgebung von über 2,5 Kilometer einnehmen. Drei Kilometer weit würden massive Betongebäude schwer beschädigt und nahezu alle Menschen sterben (rote Markierung). Fast siebeneinhalb Kilometer entfernt von der Explosion würden die meisten Wohngebäude einstürzen und Menschen schwere Verbrennungen erleiden. Das ist auf der Karte dunkelgrau eingezeichnet. Der orange Kreis repräsentiert die Wärmestrahlung, die in einer Entfernung von mehr als 13 Kilometern Verbrennungen dritten Grades verursachen kann. 23 Kilometer von der Explosion aus können Fenster zerbersten.

Bei einer Oberflächenexplosion wie im nächsten Screenshot sichtbar, wären die Schäden "in mancher Hinsicht etwas weniger schwerwiegend", erklärte Podvig. Die rote Markierung zeigt etwa, dass der Radius schwerer Explosionsschäden vergleichsweise etwa 700 Meter kleiner wäre. Doch in anderer Hinsicht wäre die Zerstörung schwerwiegender. Hierbei würde ein zirka 100 Meter tiefer und 400 Meter weiter Krater entstehen. Zusätzlich würde sich – je nach Wetterverhältnissen – ein Fallout bilden, der mehr als 400 Kilometer weit reicht. Wie auf der folgenden Karte dargestellt, würde sich dieser radioaktive Niederschlag länglich ausbreiten, jedoch nicht über das gesamte Bundesland Brandenburg, wie etwa auch auf Facebook behauptet wurde.

Im Jahr 1945 warfen die USA zwei Atombomben über Japan, woraufhin in Hiroshima laut Schätzungen der Radiation Effects Research Foundation (RERF) bis zu 80.000 und in Nagasaki bis zu 40.000 Menschen unmittelbar starben. Seitdem wurde keine weitere Atombombe in einem militärischen Konflikt eingesetzt. 2024 verschärfte Russland seine Nukleardoktrin und erlaubt nun Atomschläge selbst bei Angriffen von Nicht-Atommächten unter bestimmten Bedingungen. Dennoch betonte Podvig, dass der russische Präsident Wladimir Putin keine Anzeichen gesendet hätte, die dafür sprechen würden, dass Russland derzeit mit einem Atomkrieg drohen würde.
Trotz der seit 1945 vergleichsweise mächtigeren Bomben, die Russland laut FAS seitdem beschaffte, sagte Podvig: "Es ist schwer vorstellbar, dass Russland eine Großstadt wie Berlin angreifen würde." Wollte Russland signalisieren, dass es bereit sei, Atomwaffen einzusetzen, wäre ein Angriff auf Zivilistinnen und Zivilisten unwahrscheinlich. Russland würde vielmehr ein militärisches Ziel wählen, so der Experte. Seiner Beobachtung nach sei "Russland vorsichtig", wenn es um den Einsatz von Atomwaffen gegen die Nato gehe. "Beide Seiten haben Angst vor einem direkten Konflikt", lautete seine Einschätzung, "weil sie eine Eskalation vermeiden wollen".
Fazit: Eine Deutschlandkarte, die im Frühjahr 2025 in sozialen Medien vielfach geteilt wurde und die Auswirkungen eines möglichen Atombombenabwurfs auf Berlin darstellen soll, ist inkorrekt. Das bestätigten Fachleute gegenüber AFP.