
Nein, die EU kann keine Wahlen in Mitgliedstaaten annullieren
- Veröffentlicht am 6. März 2025 um 17:45
- 8 Minuten Lesezeit
- Von: Lluc SALVADO, AFP Spanien
- Übersetzung: Johanna LEHN , AFP Deutschland
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"Gestern kündigte die EU die Schaffung des 'Europäischen Demokratieschutzes' (EDS) an, einer supranationalen Einrichtung, die es der EU ermöglichen wird, Wahlen in ihren Mitgliedsstaaten zu annullieren, wenn ihr die Ergebnisse nicht gefallen", hieß es in einem Telegram-Beitrag vom 5. Februar 2025. "Rumänien war Ground Zero – als Nächstes werden sie es in deinem Land tun." Nutzerinnen und Nutzer teilten diese Behauptung auch auf Facebook, X und Tiktok. Auf anderen Sprachen wie Englisch, Französisch, Rumänisch oder Spanisch kursierte sie ebenfalls.

Die Behauptung ist jedoch haltlos. Weder ein vom Europäischen Parlament neu geschaffener Sonderausschuss noch andere Institutionen der EU haben die Kompetenz, Wahlen in den Mitgliedstaaten der EU für ungültig zu erklären.
"Schutzschild für die Demokratie"
In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament als Kandidatin für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin äußerte Ursula von der Leyen am 18. Juli 2024 die Idee, einen "Europäischen Schutzschild für die Demokratie" einzurichten. "Wenn Sie mir heute Ihr Vertrauen schenken, wird die Kommission einen Vorschlag für einen Europäischen Schutzschild für die Demokratie vorlegen", sagte sie. "Die EU braucht ihre eigenen Strukturen zur Bekämpfung der Manipulation von Informationen und der Einflussnahme aus dem Ausland."
Ohne darauf zu warten, dass dieses Projekt verwirklicht wird, beschloss das Europäische Parlament am 18. Dezember 2024 die Einrichtung eines neuen Sonderausschusses zu diesem künftigen Schutzschild. Dessen Ziel solle sein, zur "Widerstandsfähigkeit der Institutionen gegen Einflussnahme aus dem Ausland, hybride Bedrohungen, Angriffe und Desinformation" beizutragen, heißt es im Beschluss des Europäischen Parlaments.
Der Ausschuss besteht aus 33 Europaabgeordneten. Sie wählten die ehemalige französische Ministerin für europäische Angelegenheiten Nathalie Loiseau in der konstituierenden Sitzung am 3. Februar 2025 zur Ausschussvorsitzenden.
"Der Ausschuss wird die bestehende und geplante Gesetzgebung und Maßnahmen der EU im Hinblick auf potenzielle böswillige Beeinflussungen demokratischer Prozesse bewerten, einschließlich im Hinblick auf den zukünftigen Europäischen Schutzschild für die Demokratie, der in den politischen Leitlinien 2024 bis 2029 der Kommission enthalten ist", erklärt das Europäische Parlament online.
Das Ziel des künftigen Schutzschildes bestehe darin, die Fähigkeit der EU zu stärken, Angriffe auf die Demokratie, sowohl von innen als auch von außen, zu erkennen, zu analysieren und abzuwehren, erklärte eine Sprecherin der Europäischen Kommission am 11. Februar 2025 gegenüber AFP. "Das wird dazu beitragen, dass die Wahlen mit Integrität und fair ablaufen", fügte sie hinzu.
Die EU kann keine nationalen Wahlen annullieren
"Die EU hat keinesfalls die Macht oder die Absicht, die Wahlen der Mitgliedstaaten für ungültig zu erklären", erklärte Nathalie Loiseau am 11. Februar 2025 gegenüber AFP. "Etwas anderes zu behaupten ist falsch, irreführend und Teil einer Desinformationskampagne."
Auf AFP-Anfrage bestätigte Armando Alvares García Júnior, Professor für öffentliches Völkerrecht und Forscher an der Internationalen Universität von La Rioja in Spanien, dass der neue Sonderausschuss nicht "in die Wahlergebnisse von Mitgliedstaaten eingreifen" könne. "Er zielt darauf ab, Desinformation zu bekämpfen und die Integrität demokratischer Prozesse vor äußeren Bedrohungen wie Cyberangriffen und Informationsmanipulation zu schützen", betonte er.
Xavier Pons Ràfols zufolge, Dozent an der Universität Barcelona, ist die Behauptung in sozialen Medien "eine absolute Unwahrheit, eine Absurdität und eine offensichtliche Manipulation". Weder der Ausschuss "noch das Europäische Parlament oder irgendeine andere Institution der Europäischen Union (...) hat die Befugnis, einen Wahlprozess in einem Mitgliedstaat zu annullieren", erklärte er am 17. Februar 2025 gegenüber AFP.
Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Verhaltenskodex für Wahlen der Venedig-Kommission aus dem Jahr 2002 verpflichten die EU-Mitgliedstaaten, die Unparteilichkeit von Wahlprozessen zu gewährleisten. "Wenn ein Staat diese Prinzipien verletzt, kann die EU ihn durch die Aussetzung der Stimmrechte im Rat, die Kürzung der europäischen Mittel oder die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren sanktionieren", erklärte Armando Alvares García Júnior und fügte hinzu, dass "die EU auf diese Weise die demokratische Integrität sicherstellt, ohne direkt in die nationalen Wahlprozesse einzugreifen".
Laut Xavier Pons Ràfols "respektiert die EU die demokratischen politischen Systeme ihrer Mitgliedstaaten (Artikel 4 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union)". Sie könne unter keinen Umständen "Wahlen annullieren, Regierungen oder politische Systeme ändern, noch irgendeinen anderen Unsinn dieser Art, der in den sozialen Netzwerken kursieren könnte".
Die Vertretung der Europäischen Kommission in Spanien erklärte auf ihrem X-Account am 6. Februar 2025: "Nein, die Europäische Kommission mischt sich nicht in nationale Wahlen ein. Diese werden durch Regeln und Verfahren bestimmt, für die jedes Mitgliedsland selbst verantwortlich ist. Ja, freie und faire Wahlen sind der Grundpfeiler unserer Demokratien. Und wir wollen, dass es so bleibt."
Bei Unregelmäßigkeiten in einem Wahlprozess seien es die Gerichte und Wahlkommissionen des jeweiligen Mitgliedstaates, die die Macht haben, die Wahlen zu annullieren, betonte Xavier Pons Ràfols.
Rumänisches Gericht entschied über Wahl, nicht die EU
Die Posts mit der Falschbehauptung beziehen sich auch auf die vergangene Präsidentschaftswahl in Rumänien. Bei deren ersten Wahlgang am 24. November 2024 gewann überraschend der rechtsextreme Kandidat Calin Georgescu. Im Dezember 2024 erklärte das Verfassungsgericht in Rumänien die Wahl jedoch für ungültig – nicht die Europäische Union.
Das Verfassungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Wahlprozess irregulär verlaufen sei und Wählerinnen und Wähler manipuliert worden seien, indem ein Präsidentschaftskandidat in sozialen Medien gesetzeswidrig bevorzugt worden sei. Rumänische Behörden beschuldigten Georgescu, von einer illegalen russischen Unterstützungskampagne auf Tiktok profitiert zu haben. Der neue Termin für den ersten Wahlgang ist nun der 4. Mai 2025.
"Das Verfassungsgericht (Rumäniens, Anm. d. Red.) hat den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl wegen triftiger Hinweise auf ausländische Einmischung in den Wahlprozess annulliert", erklärte auch Xavier Pons Ràfols.

Matthias Kettemann, Universitätsprofessor für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts an der Universität Innsbruck, erklärte dazu gegenüber dem Science Media Center Germany: "Aufgrund der vom rumänischen Verfassungsgerichtshof festgestellten Desinformationskampagne, insbesondere in Bezug auf Fake-Accounts, die in einer koordinierten Kampagne eingesetzt wurden, und nicht ausgewiesener bezahlter politischer Werbung auf Tiktok, ist ein Verstoß gegen den DSA (europäisches Gesetz über digitale Dienste, Anm. d. Red.) wahrscheinlich."
Im Januar 2025 wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Eilantrag Georgescus gegen die Wahlannullierung ab.
Zuvor bereits ähnliche Falschinformationen
Die Falschbehauptung, die EU wolle in Wahlen der Mitgliedstaaten eingreifen, ist nicht neu. Dem ehemaligen EU-Kommissar Thierry Breton wurde im Januar 2025 fälschlicherweise die Aussage in den Mund gelegt, die Bundestagswahl im Februar 2025 annullieren zu wollen, wenn das Ergebnis es erfordere.
In einem Interview mit dem französischen Sender RMC am 9. Januar 2025 erwähnte er das Risiko, das der X-Eigentümer Elon Musk für Europa darstellen könnte, wenn er versuchen würde, Wahlkämpfe und politische Debatten in europäischen Ländern zu beeinflussen. Breton spielte auf den DSA an, der im Falle von einer Einmischung auf der Plattform X angewendet werden müsse. Derartiges sei in Rumänien gemacht worden und das müsse man, "wenn nötig, auch in Deutschland machen". Anlass für diese Ausführungen war Musks Einmischung in innerdeutsche Politik etwa durch seinen Post zugunsten der AfD sowie ein zum Zeitpunkt des Interviews bereits anberaumtes Gespräch zwischen Musk und der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.
Diese Ausführungen über den DSA wurden in sozialen Medien fehlinterpretiert: Breton wurde nachgesagt, er habe mit Wahlannullierung gedroht, wenn die AfD gewinnen würde. Diese Falschbehauptung widerlegte AFP bereits.
Am Tag nach Bretons Interview griff Musk diese virale Sequenz in einem X-Beitrag auf und bezeichnete Breton als "Tyrannen Europas". Der ehemalige EU-Kommissar stellte in einer Antwort auf den Beitrag klar, dass die Europäische Union "keinen Mechanismus hat, um irgendwo in der EU eine Wahl zu annullieren". Er fügte hinzu, dass sich die Aussagen ausschließlich auf die Anwendung des DSA und die Pflichten der Plattformen in Bezug auf Inhaltsmoderation bezogen hätten. Auf AFP-Anfrage bestätigte Breton am 24. Januar 2025 noch einmal, dass es sich bei der Behauptung um "Fake News" handele.
Auch eine ähnliche Falschbehauptung zu Wahlannullierung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde von AFP entkräftet.
Fazit: Die Europäische Union verfügt über keinerlei Kompetenz, Wahlen in ihren Mitgliedstaaten für ungültig zu erklären. Weder der Europäische Schutzschild für Demokratie noch irgendeine Institution innerhalb der EU hat eine solche Befugnis, wie die Vorsitzende des zuständigen Sonderausschusses und Rechtsexperten gegenüber AFP erklärten.