Der Klimawandel ist auf den Malediven stark spürbar
- Veröffentlicht am 9. Juli 2024 um 12:17
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Manon JACOB, AFP Vereinigte Staaten
- Übersetzung: Gundula HAAGE
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"'EXPERTEN' und REALITÄTEN" schrieb ein Nutzer am 30. Juni 2024 auf Facebook. Dazu postete er drei Artikel über die Malediven aus den Jahren 1988, 2004 und 2024, die er folgendermaßen kommentierte: "Ein Artikel aus dem Jahr 1988 über die Tatsache, dass es aufgrund der globalen Erwärmung die Malediven in 30 Jahren – also bis 2018 – nicht mehr geben wird" und "Vom 27. Juni 2024 – die Fläche der Malediven hat nur zugenommen."
In den Kommentaren unter dem Beitrag stimmten Nutzerinnen und Nutzer der Argumentation zu, dass die Klimawandelprognosen falsch gewesen sein müssten, da die Landfläche der Malediven laut des jüngsten Artikels zugenommen habe. "Lügen und Märchen... bestimmen das Leben auf diesem Planeten", schrieb etwa ein Nutzer. Der Beitrag zirkulierte zudem auf X und auf Telegram.
Die Behauptung mit dazugehörigen Artikeln wurde auch auf Englisch, Französisch und Spanisch verbreitet.
Ähnliche Behauptungen über das südasiatische Land, das aus etwa 1200 Inseln besteht, kursierten schon vor Jahren in sozialen Medien. In den Beiträgen werden wiederholt Studien und Forschungsergebnisse aufgezählt, die zeigen sollen, dass die meisten Inseln der Malediven in ihrer Landfläche unverändert geblieben seien oder sogar Landmasse hinzugewonnen haben. Expertinnen und Experten sagten jedoch, dass diese Ergebnisse die Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels nicht widerlegen. Folgen des Meeresspiegelanstiegs wurden auf den Malediven seit mindestens 1987 dokumentiert.
Authentischer Artikel, irreführende Schlussfolgerungen
In den aktuell zirkulierenden Beiträgen wird ein authentischer AFP-Artikel aus dem Jahr 1988 genannt, in dem maledivische Behörden mit der Aussage zitiert werden, dass ein "prognostizierter Meeresspiegelanstieg von 20 bis 30 Zentimetern in den nächsten 20 bis 40 Jahren für die meisten Inseln 'katastrophal' sein könnte". Aus der Berichterstattung geht jedoch nicht hervor, ob die Aussage der maledivischen Behörde auf Klimaprojektionen beruht hat, kommentierte Jayantha Obeysekera, Direktor des Sea Level Solutions Center an der Florida International University, auf Anfrage von AFP am 21. Juni 2024. "Was die Behörde sagte, war: WENN der Meeresspiegel um 20 bis 30 cm ansteigt, wäre das katastrophal", präzisierte Obeysekera.
Seit vielen Jahren dokumentieren wissenschaftliche Forschungen die Erosionsprozesse an den maledivischen Küsten. Or Bialik, Geowissenschaftler an der israelischen Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva, bestätigte gegenüber AFP am 26. Juni 2024, dass der menschengemachten Klimawandel tatsächlich deutlich spürbare Auswirkungen auf die Malediven hat. "Die Tatsache, dass der Meeresspiegel ansteigt und den Küsten durch Erosion und andere menschliche Aktivitäten Sand entzogen wird, führt auf einigen Inseln der Malediven zu einem Verlust an Landfläche", sagte Bialik.
Virginie Duvat, Professorin für Küstengeografie an der Universität La Rochelle in Frankreich und Hauptautorin eines Kapitels über kleine Inselstaaten im Bericht des Weltklimarats der Vereinten Nationen (IPCC), stimmte Orlik zu. Laut Duvat bleiben die existenzbedrohenden Risiken für die Malediven trotz der nur langsam voranschreitenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte bestehen. "Bis heute sind die Inseln, die erodiert sind und deren Fläche sich verringert hat, sehr kleine Eilande – diese Feststellung steht im Einklang mit dem, was in anderen Atollen in den letzten Jahrzehnten geschehen ist", sagte sie am 27. Juni 2024 gegenüber AFP. Duvat wies zudem darauf hin, dass die Inseln immer häufiger Überschwemmungen ausgesetzt sind – auch das eine Folge des menschenverursachten Klimawandels.
Zudem ändert sich der Wasserstand an den maledivischen Küsten aufgrund von Wellen und Gezeiten stark, betonte Duvat: "Das gilt in besonders starkem Maß für die Malediven, da die Gezeitendynamik des Inselstaates zusätzlich von den Schwankungen des Monsuns bestimmt wird."
Als Reaktion auf diese Entwicklungen arbeitet die maledivische Regierung mit Hilfe lokaler Forscherinnen und Wissenschaftler an Notfall- und Resilienzplänen, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Dazu gehört auch der Bau künstlicher Inseln wie Hulhumalé, nordöstlich der dicht besiedelten Hauptstadt Malé. Ein Teil der Landzunahme ist demnach künstlich erschaffen und nicht organisch.
Meeresspiegel steigt mit zunehmender Geschwindigkeit
Jayantha Obeysekera vom Sea Level Solutions Center beschrieb die Malediven gegenüber AFP als eines der am stärksten vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Länder weltweit. Ungefähr 80 Prozent des maledivischen Territoriums liegen weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel. "Verständlicherweise machen sich die Malediven große Sorgen, ihr Land zu verlieren", sagte Obeysekera.
Laut Messungen des US-Instituts für Ozean- und Athmosphärenforschung (NOAA) ist der relative Meeresspiegel auf den Malediven zwischen 1987 und 2018 jedes Jahr um durchschnittlich 3,39 Millimeter gestiegen, wie die folgende Grafik zeigt:
Im sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats heißt es, der mittlere globale Meeresspiegel sei im vergangenen Jahrhundert schneller als in jedem anderen Jahrhundert in den 3000 Jahren zuvor gestiegen. Werde die Erderwärmung nicht auf 1,5 Grad Celsius begrenzt, steige das Risiko der Erosion von Küstenregion sowie der Überflutung von Küstenland, der Verlust von Lebensräumen und Ökosystem sowie die Versalzung von Grundwasser. Zu den Gefahren des Anstiegs des Meeresspiegels veröffentlichte der Weltklimarat zudem ein Infoblatt.
In einem Bericht aus dem Jahr 2021 stellte der IPCC fest, dass die durchschnittliche Rate des globalen Meeresspiegelanstiegs von 1,3 Millimetern pro Jahr zwischen 1901 und 1971 auf 1,9 mm zwischen 1971 und 2006 gestiegen ist. Zwischen 2006 und 2018 stieg die Rate auf 3,7 mm pro Jahr an.
Die Auswirkungen auf den globalen Meeresspiegel hat AFP in folgender Grafik dargestellt:
Der Weltklimarat hielt weiter fest, dass der menschliche Einfluss sehr wahrscheinlich die Hauptursache für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels "seit mindestens 1971" sei.
"Kipppunkt" ist bereits überschritten
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die meisten Atollinseln Gefahr laufen, bis Mitte des 21. Jahrhunderts unbewohnbar zu werden, da Überschwemmungen die Infrastruktur und die Verfügbarkeit von Süßwasser beeinträchtigen.
Virginie Duvat, die Hauptautorin des IPCC-Kapitels, wies in einer Studie aus dem Jahr 2019 nach, dass sich die Inseln auf den Malediven im Laufe eines Jahrzehnts "in erster Linie durch menschliche Faktoren" verändert haben. "Die große Mehrheit der bewohnten und bewirtschafteten Inseln weist heute eine abgeschwächte bis nicht mehr vorhandene Fähigkeit auf, auf Veränderungen des Meeresspiegels zu reagieren", sagte sie.
"Dies bedeutet, dass auf vielen Inseln ein anthropogener Kipppunkt erreicht wurde, da sie die Fähigkeit verloren haben, sich auf natürliche Weise durch vertikale Akkretion an den steigenden Meeresspiegel anzupassen", führte Duvat weiter aus. "Akkretion" ist ein Phänomen, bei dem sich Sedimente ansammeln und das Land auf natürliche Weise angehoben wird. Dass dieser Kipppunkt auf den Malediven erreicht wurde, ist ebenfalls eine gravierende Folge des menschgemachten Klimawandels.
AFP hat bereits zuvor falsche oder irreführende Behauptungen über den Meeresspiegelanstieg als Folge des Klimawandels widerlegt. So beweisen drei historische Bilder aus Rio de Janeiro nicht, dass der Meeresspiegel dort gleich bleibt. Auch in Venedig steigt er trotz eines kurzzeitigen Niedrigwassers weiter an. Andere Beiträge behaupteten fälschlicherweise, das Wasser aus schmelzenden Eisschilden und Gletschern trage nicht zum Meeresspiegelanstieg bei. Alle Faktenchecks zum Thema Klima sammelt AFP hier.
Fazit: Online kursierende Behauptungen, der Meeresspiegel an den Küsten der Malediven würde gar nicht wie prognostiziert steigen, sind irreführend. Expertinnen und Experten erklärten AFP, dass der Meeresspiegel als Folge des menschgemachten Klimawandels erwiesenermaßen steigt und die Malediven als tiefliegender Inselstaat besonders stark von dessen Folgen wie Überschwemmungen, starker Küstenerosion und steigenden Gezeiten betroffen sind.