Es gibt keine Belege für dieses Zitat von Sophie Scholl

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  • Veröffentlicht am 23. April 2021 um 17:27
  • Aktualisiert am 26. April 2021 um 09:38
  • 5 Minuten Lesezeit
  • Von: Eva WACKENREUTHER, AFP Österreich
Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben im April erneut ein Falschzitat von Sophie Scholl geteilt. Das Zitat, das sich gegen das Schweigen der Mehrheit ausspricht, erfreut sich vor allem bei Corona-Demonstrationen großer Beliebtheit. Einen Beleg für das vermeintliche Zitat gibt es nicht, Expertinnen und Experten kennen es nicht.

Das angebliche Zitat der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl taucht vor allem im Rahmen von Querdenken-Demonstrationen immer wieder auf. "Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht", soll sie angeblich gesagt haben. Auf Facebook haben allein im April Tausende (hier, hier, hier) das vermeintliche Zitat geteilt. 2020 hatten es dort weitere Tausende (hier, hier, hier) verbreitet. Beliebt war der angebliche Ausspruch auch bei Politikern der AfD, die damit Tausende Menschen erreichten (hier, hier). In ein selbstverlegtes Buch zur Corona-Krise hat es der Spruch ebenfalls geschafft.

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Facebook-Screenshot: 22.04.2021

Sophie Scholl lebte von 1921 bis 1943 und ist vor allem für ihr Engagement in der Widerstandsgruppe Weiße Rose bekannt. Die Weiße Rose kämpfte gegen die Diktatur des Nationalsozialismus und verteilte dabei auch Flugblätter. Zunächst forderte sie den passiven Widerstand, rief aber bald zum Sturz der Regierung auf. Neben Sophie Scholl waren vor allem Alexander Schmorell, Sophies Bruder Hans Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber in der Weißen Rose aktiv. Sophie Scholl wurde 1943 hingerichtet.

Eine Rednerin einer Querdenken-Demonstration in Hannover hatte im November 2020 Schlagzeilen gemacht, weil sie ihr Engagement gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung mit dem von Sophie Scholl gegen die nationalsozialistische Diktatur verglich. Eine ähnliche Vereinnahmung Sophie Scholls fand auch im August 2020 statt, als einer der Scholl-Neffen bei einer Querdenken-Demonstration auftrat. Drei andere Neffen Scholls appellierten daraufhin, die Weiße Rose nicht zu instrumentalisieren. Schon vor der Corona-Pandemie benutzte die AfD die Widerstandskämpferin für ihre Zwecke, warb 2017 etwa mit dem Slogan "Sophie Scholl würde AfD wählen" für sich.

Das angebliche Zitat

Eine erste Google-Suche nach dem Zitat führt zu einem Artikel der "Süddeutschen Zeitung" und zu einem Beitrag einer Zitatforschungsseite des Philosophen Gerald Krieghofer. Beide kommen zum Schluss, dass es sich beim aktuell verbreiteten Scholl-Ausspruch um ein sogenanntes Kuckuckszitat handelt, also eine frei erfundene Zuschreibung.

Die Weiße Rose Stiftung e.V. organisiert Ausstellungen über die gleichnamige Widerstandsbewegung und betreibt eine Gedenkstätte, um an den Widerstand der Weißen Rose gegen den Nationalsozialismus zu erinnern. Am 22. April schrieb die Stiftung an AFP: "Das ist definitiv kein Zitat von Sophie Scholl. Der Satz wird ihr öfters in den Mund gelegt." Auf ihrer Website äußert sich die Stiftung außerdem gegen die missbräuchliche Verwendung von Symbolen der Weißen Rose durch die AfD und Querdenken-Demonstrationen. Sie spricht dabei auch das vermeintliche Scholl-Zitat als Instrumentalisierung an.

Auch der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ), Andreas Wirsching, sprach am 23. April gegenüber AFP von derartigen Strategien. Rechte Gruppen nutzen die breite Anschlussfähigkeit solcher Ikonen bewusst für sich aus. Das funktioniere deshalb besonders gut, weil das angebliche Scholl-Zitat auf tatsächlich bekannte Motive aus den Flugblättern der Weißen Rose zurückgreife, die manipulativ neu angeordnet würden. "Ein solches Falschzitat gewinnt also eine gewisse Plausibilität dadurch, dass sich bei der Weißen Rose tatsächlich ähnlich klingende Zitate nachweisen lassen, die aber in einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich in der Auseinandersetzung mit dem menschenverachtenden Regime des Nationalsozialismus, entstanden sind."

Dass das aktuell geteilte Zitat echt ist, bezweifelt auch er. "Bislang gibt es keinen Nachweis darüber, dass sich Sophie Scholl wörtlich tatsächlich so geäußert hätte. Es ist davon auszugehen, dass das Zitat falsch ist.” Sowohl der Kontext der Verbreitung spreche dafür, als auch die Wortwahl des angeblichen Ausspruchs.

AFP hat außerdem bei der Sophie-Scholl-Expertin Maren Gottschalk nachgefragt. Gottschalk ist Autorin zweier Bücher über die Widerstandskämpferin und kennt ihre Äußerungen daher gut. "Mir ist dieses Zitat nie begegnet", schrieb Gottschalk in einer E-Mail vom 21. April. Sie verwies außerdem darauf, dass Scholl eher nicht von "Mehrheit" wie in den Postings gesprochen habe. Sie habe stattdessen den Begriff "Masse" verwendet. So schrieb sie in einem Brief an ihren Freund Fritz Hartnagel am 29. Mai 1940: "Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet."

Die "schweigende Mehrheit"

Dass Sophie Scholl den Begriff "Masse" verwendet, ist nicht überraschend. Die feststehende Wendung der "schweigenden Mehrheit" war nämlich zu Lebzeiten Scholls unüblich, wie Zitatforscher Krieghofer in seinem Beitrag festhielt.

Es gibt zwar einzelne Verwendungen der Phrase zu Scholls Lebzeiten, etwa im "Prager Tagblatt" vom 08.09.1928 oder in der "Kleinen Volks-Zeitung" vom 25.04.1932. Britt Marie-Schuster erklärte am 22. April gegenüber AFP, dass das jedoch nicht automatisch ein Beleg für eine feststehende, allgemein verbreitete Wendung sei. Schuster ist Professorin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn und Leiterin des Forschungsprojekts "Heterogene Widerstandskulturen: Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis 1945". In den Flugschriften der Weißen Rose fand sie ebenfalls keine vergleichbare Äußerung.

Auch Schuster hielt es für unwahrscheinlich, dass der Ausdruck der "schweigenden Mehrheit" schon Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlich war: "Eine kurze Recherche hat ergeben, dass sich die Wendung erst am Ende der 1960er-Jahre / Anfang der 1970er-Jahre etabliert hat."

Ihr Rechercheergebnis deckt sich mit der Einschätzung in Krieghofers Falschzitateblog. Dort erklärte er, dass die Metapher erst durch eine Rede Richard Nixons im Jahr 1969 im Deutschen allgemein bekannt wurde. Der republikanische US-Präsident hatte darin die "schweigende Mehrheit" der Amerikaner, die seiner Auffassung nach die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg nicht befürworteten, aufgefordert, ihn zu unterstützen.

Die Flugblätter der Weißen Rose

Möglicher Ursprung des falschen Zitats: Auf ihrer Website fasst die Weiße Rose Stiftung den Inhalt der Flugblätter der Widerstandsbewegung zusammen und schreibt über das zweite Flugblatt: "Die Verfasser sprechen der schweigenden Mehrheit in Deutschland eine Mitschuld zu, weil sie dazu beitrug, dass 'diese Regierung überhaupt entstehen konnte'". Im genannten zweiten Flugblatt kommt das Zitat aber nicht vor.

Auch im fünften Flugblatt der Weißen Rose gibt es eine inhaltliche Übereinstimmung, wie Historiker Wirsching erläuterte. Die Weiße Rose schrieb dort: "Was aber tut das deutsche Volk? Es sieht nicht und es hört nicht. Blindlings folgt es seinen Verführern ins Verderben. (...) Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, eh’ es zu spät ist!" Diese Zitate aus dem Kontext zu lösen, verurteilt Wirsching jedoch scharf: "Sophie Scholl nun mit manipulativen Mitteln quasi zu einer Art 'Vordenkerin' von Pegida, AfD oder Corona-Leugnern zu machen ist schlicht frivol." Der Wortlaut des angeblichen Scholl-Zitats findet sich auch hier nicht.

Fazit: Es gibt keinen Beleg dafür, dass das geteilte Zitat von der Widerstandskämpferin Sophie Scholl stammt. Die Weiße Rose Stiftung wies das angebliche Zitat als falsch zurück, eine Biografin kennt den Ausspruch ebenfalls nicht. Außerdem kommt in der angeblichen Äußerung Scholls ein Begriff vor, der zu ihren Lebzeit noch nicht gebräuchlich war.

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